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       # taz.de -- Regierungskrise in Österreich: Österreichischer Scherbenhaufen
       
       > Konservative und Sozialdemokraten können sich nicht auf eine Koalition
       > einigen. ÖVP-Chef Nehammer tritt daraufhin zurück. FPÖ vor
       > Regierungsbildung.
       
   IMG Bild: Er muss nun entscheiden, wer es als nächstes mit einer Regierungsbildung versuchen darf: Präsident Alexander Van der Bellen
       
       Turbulente Tage in Wien: Als am Freitag bekannt wurde, dass die liberalen
       Neos die Koalitionsgespräche verlassen, wollten ÖVP und SPÖ zunächst
       weiterverhandeln. Immerhin hätten Konservative und Sozialdemokraten auch
       ohne Neos eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit. Samstagabend platzte
       dann aber die Bombe: Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl [1][Nehammer kündigte
       seinen Rücktritt aus beiden Funktionen] an. „In wesentlichen Punkten ist
       mit der SPÖ keine Einigung möglich“, erklärte Nehammer in einem Video. „Ich
       werde mich als Bundeskanzler und auch als Parteiobmann der Volkspartei
       zurückziehen und einen geordneten Übergang ermöglichen.“
       
       Seitdem schieben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld zu. Die jeweils
       andere Partei habe sich zu wenig kompromissbereit gezeigt. Nehammer selbst
       ließ die Hintergründe unausgesprochen und stellte sich keinen Fragen.
       Spekuliert wurde, dass er von der eigenen Partei abgesägt wurde. So oder
       so: Mit seinem Rücktritt hinterlässt Nehammer einen Scherbenhaufen, nicht
       nur in seiner Partei. Denn seitdem versinkt Österreich im politischen
       Chaos. Ein neuer Übergangskanzler steht noch nicht fest.
       
       Noch am Wochenende sah sich die ÖVP eilig nach einem neuen Parteichef um.
       Dieser wird nun als Interimslösung der eher farblose Christian Stocker,
       Generalsekretär der Partei. Bisher hatte er sich gegen eine Regierung mit
       der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei (FPÖ) ausgesprochen. Er wolle nun
       „eine Einladung der FPÖ annehmen“, sagte Stocker am Sonntag. Das
       wahrscheinlichste Szenario ist jetzt tatsächlich eine Regierung unter
       FPÖ-Führung. Nach den gescheiterten Verhandlungen ist schon rechnerisch
       keine Variante ohne die Freiheitlichen möglich, die bei den
       [2][Parlamentswahlen im September mit rund 29 Prozent stärkste Kraft]
       wurden.
       
       Wie es nun weitergeht, liegt auch an Bundespräsident Alexander Van der
       Bellen. Für Montagvormittag lud er FPÖ-Chef Herbert Kickl in die Wiener
       Hofburg ein. Wahrscheinlich ist, dass Kickl einen Auftrag zur
       Regierungsbildung erhalten wird. Der Bundespräsident betonte vorab
       sicherheitshalber, dass die neue Regierung demokratische Grundpfeiler wie
       Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte, freie und unabhängige
       Medien sowie die EU-Mitgliedschaft respektieren müsse.
       
       Noch im Herbst hatte Van der Bellen Kickl übergangen und keinen
       Regierungsauftrag an die bei der Wahl erstplatzierte Partei vergeben – mit
       der Begründung, er sei in intensiven Gesprächen mit SPÖ und ÖVP zum Schluss
       gekommen sei, dass beide Parteien auch nach der geschlagenen Wahl eine
       Zusammenarbeit mit Kickl ablehnen. Dabei blieb es, durchaus zur
       Überraschung mancher Beobachter, auch bei der ÖVP unter Karl Nehammer.
       
       ## Expertenregierung brächte keine Lösung
       
       Nehammer ist nun weg, seine Verhandlungen sind gescheitert. Mangels
       Alternativen hat Van der Bellen also kaum eine andere Wahl, als einen
       Regierungsbildungsauftrag an Kickl zu vergeben. Eine Expertenregierung
       brächte keine Lösung des politischen Patts, ebenso wenig wie eine Neuwahl
       im Lauf des Frühlings. Angesichts drängender Probleme wie der
       Rekordverschuldung, derentwegen Österreich auch ein EU-Defizitverfahren
       droht, wäre dies auch kaum vermittelbar.
       
       Inhaltlich trennt ÖVP und FPÖ in vielen Bereichen ohnehin nicht viel – und
       in Zukunft wohl noch weniger, da Nehammer weg ist, der eine Zusammenarbeit
       mit FPÖ-Chef Herbert Kickl ausgeschlossen hatte. Hinter den Kulissen machen
       einige Schwergewichte der ÖVP schon lange Druck. Noch am Sonntag forderte
       der Tiroler Landeshauptmann, Anton Mattle von der ÖVP, eine „rasche
       Handlungsfähigkeit der Bundespolitik“. Das lässt sich kaum anders denn als
       Aufforderung zu einer FPÖ-Koalition lesen.
       
       Dass mit der FPÖ eine dezidiert antieuropäische und russlandfreundliche
       Partei an die Macht käme, ist bisher noch nicht so richtig durchgedrungen.
       Mehrmals hatte Kickl angekündigt, die Politik des illiberalen ungarischen
       Premiers Viktor Orbán kopieren zu wollen. Als Damoklesschwert über den
       Dreiergesprächen hing daher von Anfang an eine Regierung mit der FPÖ. Klar
       ist mittlerweile: Wenn nicht einmal ÖVP und SPÖ zusammenfinden, hätte eine
       Dreierkoalition zusammen mit den liberalen Neos schon gar nicht
       funktioniert.
       
       Rasch hatten sich am Samstag auch Gerüchte einer neuerlichen Übernahme der
       ÖVP durch deren einstige Lichtgestalt, Ex-Kanzler Sebastian Kurz,
       verbreitet. In einem solchen Szenario hätte Kurz wohl auf Neuwahlen
       gedrängt. Die Gerüchte waren aber so schnell wieder vom Tisch, wie sie
       aufgekommen waren. Dass ausgerechnet er manchen als Wunsch-Nachfolger
       Nehammers galt, sagt einiges über die Verfasstheit der ÖVP. Kurz war es,
       der mit zahlreichen Skandalen, autoritären Anwandlungen und wenig Achtung
       vor demokratischen Institutionen Partei und Republik beschädigt hat.
       
       Jetzt könnte Österreich blau-schwarz werden. Vor einem Kanzler Kickl stehen
       nur mehr eine Einigung mit der ÖVP und die Zustimmung des
       Bundespräsidenten. Doch auch die FPÖ muss mitgehen. Sie dürfte überlegt
       haben, es auf Neuwahlen ankommen zu lassen: In Umfragen stehen die
       Freiheitlichen derzeit bei 35 Prozent und mehr. Ein solches Ergebnis
       brächte ihnen noch mehr Verhandlungsmacht. Angesichts der Ungeduld in der
       Bevölkerung und mit dem Kanzleramt vor Augen braucht Kickl das eigentlich
       nicht mehr.
       
       5 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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