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       # taz.de -- Israelische Angriffe auf Gaza: Können Journalisten Terroristen sein?
       
       > Gaza ist ein Friedhof für Journalisten. Doch Israel behauptet immer
       > wieder, eigentlich Terroristen zu treffen. Die Unterscheidung ist
       > manchmal schwer.
       
   IMG Bild: Fünf palästinensische Journalisten sollen bei einem israelischen Luftangriff in Deir al-Balah getötet worden, im Dezember 2024
       
       Jerusalem taz | Der weiße Minibus ist ein schwelendes, ausgebranntes Wrack,
       die Insassen sind tot, doch die roten Buchstaben auf den Hintertüren noch
       lesbar: „Press“ steht da in Druckschrift.
       
       Die Szene ereignete sich in der Nacht zum 26. Dezember in Nuseirat im
       zentralen Gazastreifen. Die israelische Armee (IDF) spricht von einem
       präzisen Luftangriff gegen eine Zelle des Palästinensischen Islamischen
       Dschihads (PIJ), einer kleineren islamistischen Terrororganisation, die
       ebenfalls [1][am Angriff vom 7. Oktober 2023 gegen Israel] beteiligt war.
       Sie veröffentlichte die Namen der fünf mutmaßlichen Terroristen, einer soll
       der lokale Sicherheitschef des PIJ gewesen sein.
       
       Der Sender Al-Quds Today sieht das anders. Die fünf Getöteten seien
       Journalisten, Kollegen. „Wir bitten Gott, den Allmächtigen, sich unserer
       Märtyrer zu erbarmen und sie mit den Märtyrern und den Gerechten
       aufzunehmen“, schreibt der Sender in einem Instagram-Beitrag. Der Kanal
       werde seine „mediale Botschaft des Widerstands fortsetzen“, heißt es
       weiter.
       
       Die Palästinensische Journalistenunion spricht vom „Märtyrertod von fünf
       palästinensischen Journalisten“, ihr Blut werde „ein Leuchtfeuer bleiben,
       das den Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit erhellt“. International ist von
       „getöteten palästinensischen Journalisten“ die Rede, von der BBC über Al
       Jazeera bis zum Guardian. Auch in der taz.
       
       ## 145 tote Journalisten
       
       Der Luftangriff auf den Pressebus in Nuseirat ist kein Einzelfall. Reporter
       ohne Grenzen zählt inzwischen 145 tote Medienschaffende in Gaza seit
       Kriegsbeginn im Oktober 2023. „Uns liegen zudem belastbare Informationen
       vor, die nahelegen, dass das israelische Militär Journalist*innen
       gezielt ins Visier nimmt“, sagt Sprecher Christopher Resch. Solche
       bewussten Angriffe seien Kriegsverbrechen.
       
       Doch der Fall der mutmaßlichen PIJ-Mitglieder des Senders Al-Quds Today
       wirft die Frage auf: Wer entscheidet auf welcher Grundlage, wer im
       Gazakrieg als Journalist zählt – und wer als Terrorist?
       
       Zugang zum weitgehend zerstörten Küstenstreifen gewährt der internationalen
       Presse weder Israel noch Ägypten, die die Grenzen kontrollieren – offiziell
       aus Sicherheitsgründen. Bis auf einige organisierte Presserundgänge der IDF
       ist eine freie, unabhängige Berichterstattung vor Ort für internationale
       Journalisten kaum möglich. Stattdessen machen es Palästinenser selbst.
       
       „Es gibt eine fast exklusive Rolle für palästinensische Journalisten, die
       Geschichte dieses Krieges zu erzählen“, [2][sagt Ahmed Fouad Alkhatib] der
       taz. Er ist politischer Analyst und aktuell Senior Fellow beim Atlantic
       Council in Washington, seine Familie kommt aus Gaza, wo er teils
       aufgewachsen ist. „Doch Fakt ist, dass viele den Widerstand und die Hamas
       offen unterstützen.“
       
       Für Alkhatib bleiben sie dennoch Nichtkombattanten, die nicht zum Ziel der
       IDF werden sollten. Nach der Genfer Konvention verliert ein Journalist nur
       sein Recht auf Schutz, wenn er direkt an Gewaltakten teilgenommen hat.
       
       ## Dünne Beweislage des israelischen Militärs
       
       Die Beweislage der IDF im Fall des Pressebusses in Nuseirat bleibt dünn.
       Sie teilte einen Screenshot von einer Excel-Tabelle, die in Gaza gefunden
       worden sein und Mitglieder der Terrororganisation PIJ zeigen soll, aber von
       der taz nicht verifiziert werden konnte.
       
       Vier der Tabellenreihen sind gelb markiert und wurden von der Armee ins
       Englische übersetzt. Sie zeigen Namen, Dienstgrad, Rolle, Brigade, Einheit,
       ID-Nummer und Militärnummer – und sollen belegen, dass vier der Mitarbeiter
       von Al-Quds Today aktive Mitglieder waren. Für die IDF [3][sind sie
       „Kampfpropagandisten“]. Weitere Belege will sie mit der taz nicht teilen.
       
       Ob Al-Quds Today überhaupt als journalistischer Sender gilt, bleibt
       fraglich. Er bietet regelmäßig Funktionären des PIJ eine Plattform,
       verbreitet die Ideologie der Terrororganisation. Nachdem im Dezember die
       islamistischen Huthis in Jemen Israel zehnmal mit Drohnen und ballistischen
       Raketen angegriffen und eine Grundschule bei Tel Aviv getroffen hatte,
       feierte Al-Quds Today am 1. Januar mit einem Foto eines Raketenstarts und
       den Worten: „Sieg für Palästina. Jemen-Raketen sind Botschaften des
       Feuers“. Reporter ohne Grenzen hat den Fall nicht in seine Statistik
       aufgenommen, weil der Sender vom PIJ finanziert werde, heißt es.
       
       „Doch es gibt auch eine große Grauzone“, sagt Alkhatib. Kämpfer der Hamas
       und des PIJ würden auch Doppelleben führen, als Bauarbeiter, Lehrer oder
       eben Journalisten. „So kann man nicht einfach und endgültig sagen, ob jeder
       dieser fast 200 Getöteten Journalisten oder Terroristen gewesen seien.“
       Alkhatib fragt sich, wo man die Grenze zieht.
       
       ## Geiseln im Haus
       
       Ein Doppelleben führte etwa Abdallah Aljamal: Der Mann, der 2019 [4][einen
       Gastbeitrag für Al Jazeera schreiben durfte], dort als Reporter und
       Fotojournalist bezeichnet wird und regelmäßig für die US-Seite Palestine
       Chronicle berichtete, hielt zusammen mit seinem Vater bei sich zu Hause
       drei israelische Geiseln gefangen, die vom Musikfestival Nova entführt
       worden waren. Als die IDF im Juni 2024 die Geiseln befreite, wurde er
       getötet.
       
       Andere Fälle sind jedoch uneindeutiger. Im vergangenen Juli tötete die IDF
       den Al-Jazeera-Korrespondenten Ismail al-Ghoul – ein Hamas-Mitglied, sagt
       die IDF. Belegen soll das laut der Armee der Screenshot einer
       Excel-Tabelle, die al-Ghoul als Mitglied der Al-Qassam-Brigaden listet. Die
       Echtheit der Tabelle konnte die taz ebenfalls nicht verifizieren.
       
       Eine IDF-Sprecherin sagt, al-Ghoul habe Anschläge gegen israelische
       Soldaten aufgezeichnet und veröffentlicht, was „ein wesentlicher
       Bestandteil der militärischen Aktivitäten der Hamas“ sei. Er habe zudem am
       7. Oktober teilgenommen. Reporter ohne Grenzen sagt, dass es begründete
       Zweifel an dieser Argumentation gebe – und forderte zu diesem und weiteren
       Fällen eine Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof, der
       dazu noch ermittelt.
       
       Am 15. Dezember tötete ein israelischer Luftangriff Ahmad al-Louh, einen
       Al-Jazeera-Kameramann. Die IDF sprach wieder von einem „präzisen Schlag“
       auf ein Kommandozentrale der Hamas und des PIJ, die einen „unmittelbar
       bevorstehenden Terroranschlag gegen IDF-Truppen“ geplant haben soll.
       Al-Louh sei ein „Terrorist“ gewesen, sagt eine IDF-Sprecherin. Belege dafür
       lieferte die Armee nicht. Laut den Informationen, die Reporter ohne Grenzen
       aktuell vorliegen, treffen die Vorwürfe nicht zu, heißt es.
       
       „Eines ist klar“, sagt Alkhatib. „Es gab tatsächlich legitime Journalisten,
       die getötet worden sind, und es gab Journalisten mit sehr fragwürdigen
       Verbindungen, die ebenfalls getötet worden sind. Beide Dinge können wahr
       sein, ohne dass das eine das andere rechtfertigt.“
       
       9 Jan 2025
       
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