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       # taz.de -- Caravaggio-Kunstraub in Palermo: Offene Wunde, heilende Kunst
       
       > Aus einer Kirche in Palermo wurde 1969 ein Caravaggio-Gemälde gestohlen.
       > Jährlich an Heiligabend wird an seiner Stelle ein neues Kunstwerk
       > enthüllt.
       
   IMG Bild: Das Substitut für den geraubten Caravaggio in Palermo: Michelangelo Pistolettos „Annunciazione Terzo Paradiso“
       
       Das Oratorio di San Lorenzo ist leicht zu übersehen in Palermo. Das kleine,
       mittlerweile profanierte Gebetshaus eines Franziskanerkonvents liegt
       versteckt hinter einem ummauerten Innenhof in einer dunklen Gasse im
       historischen Zentrum der Stadt und wird von der viel größeren Basilica di
       San Francesco d’Assisi überschattet, die nur einen Steinwurf entfernt
       liegt. Vielleicht war das Oratorium gerade wegen seiner unzugänglichen Lage
       ein leichtes Ziel für einen der spektakulärsten Kunstdiebstähle des 20.
       Jahrhunderts.
       
       Dreieinhalb Jahrhunderte lang, von etwa 1610 bis zu einer regnerischen
       Oktobernacht in den späten 1960er Jahren, beherbergte der Kirchenbau eines
       der wenigen Gemälde von Caravaggio auf Sizilien: „Die Geburt Christi mit
       den Heiligen Laurentius und Franz von Assisi“. Am 17. Oktober 1969 hatte
       jemand das gut drei Meter hohe und zwei Meter breite Kunstwerk vom Altar
       entwendet, ohne Spuren zu hinterlassen.
       
       Es wurde nie wiedergefunden. Michelangelo Merisi da [1][Caravaggio war
       schon zu Lebzeiten eine Legende] und hinterließ keine 200 Gemälde, als er
       1610 im Alter von 38 Jahren starb, weshalb er auf dem Kunstmarkt besonders
       begehrt ist. Das FBI listet den aus dem Oratorio gestohlenen Caravaggio
       derzeit auf Platz zwei der meistgesuchten Kunstwerke weltweit, gleich
       hinter den 7.000 bis 10.000 Artefakten aus [2][archäologischen Sammlungen
       im Irak, die im März 2003 beim Einmarsch der US-Truppen] in Bagdad und dem
       Sturz Saddam Husseins geplündert wurden.
       
       ## An Schweine verfüttert?
       
       Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Diebstahl sind der Verbleib und der
       Zustand des Caravaggio noch immer ein Rätsel, auch wenn man annimmt, dass
       die sizilianische Cosa Nostra in den Fall verwickelt ist. Unzählige
       widersprüchliche Aussagen von Mafia-Informanten wurden im Laufe der Jahre
       gesammelt: Manche sagten aus, das Gemälde sei in Scheiben geschnitten und
       an Schweine verfüttert oder als Fußmatte verwendet worden.
       
       Andere behaupteten, die Diebe hätten das Bild zunächst aus dem Rahmen
       geschnitten und dann zusammengerollt, um es aus der Kirche zu entfernen.
       Auch das ist wenig plausibel. Ein Gemälde aufzurollen, das jahrhundertelang
       in seinem Rahmen hing, bedeutete, dass die Ölfarbe Risse bekommt, das
       Meisterwerk würde stark beschädigt.
       
       2017 tauchte zum ersten Mal der Name des Mafiabosses Gaetano Badalamenti in
       Zusammenhang mit dem Raub auf. Ein Zeuge sagte aus, Badalamenti habe das
       Gemälde an einen Schweizer Kunsthändler, vermutlich aus Lugano, verkauft.
       Dass Badalamenti bei dem Caravaggio-Diebstahl eine Rolle spielen könnte,
       bestätigte auch Monsignore Benedetto Rocco, der Kustos des Oratorio di San
       Lorenzo, in den vielen Radio- und Zeitungsinterviews, die er Ende der
       1990er und Anfang der 2000er Jahre gab.
       
       ## Gescheiterte Verhandlungen
       
       Badalamentis Leute hätten den Monsignore kontaktiert, um ein Lösegeld von
       etwa einer Milliarde italienischer Lira (heutiger Wert etwa 5,2 Millionen
       Euro) zu fordern. Die Verhandlungen mit der Cosa Nostra seien aber aufgrund
       der mangelnden Kooperationsbereitschaft des damaligen Superintendenten für
       Kultur auf Sizilien gescheitert. Der habe den Monsignore beschuldigt,
       kriminelle Geschäfte mit der Mafia zu machen.
       
       Heute kann man im Oratorium eine Hightech-Fotonachbildung von Caravaggios
       „Geburt Christi“ sehen, die in dem leeren Originalrahmen installiert ist.
       Seit 2015 gibt sie dem prächtigen Innenraum des Oratoriums seine Integrität
       zurück.
       
       Dieser wurde von dem barocken Bildhauer Giacomo Serpota etwa 100 Jahre nach
       der Fertigstellung des Caravaggio geschaffen, um das Meisterwerk in einem
       angemesseneren Rahmen zu präsentieren, der ursprüngliche Innenraum der
       Kirche war dafür zu bescheiden gewesen.
       
       ## Gastfreundschaft und Nächstenliebe
       
       Mit aufwändigen Stuckarbeiten umgab Serpota die Geburtsszene von Caravaggio
       mit allegorischen Statuen, darunter die der Gastfreundschaft und der
       Nächstenliebe. Den gesamten Innenraum schmückte er mit Putten, die
       verschiedenen Tätigkeiten nachgehen. Dass in jener Oktobernacht neben dem
       Caravaggio auch einige dieser kunstvollen Stuckarbeiten gestohlen wurden,
       ist weniger bekannt.
       
       Die meiste Zeit des Jahres muss die Fotoreplik jedoch einem
       zeitgenössischen Kunstwerk weichen. In den nächsten Monaten etwa für eines
       des 91-jährigen Michelangelo Pistoletto. Pistoletto, eine Schlüsselfigur
       der italienischen Arte-Povera-Bewegung der Nachkriegszeit, ist seit 2018
       auch Ehrenbürger von Palermo.
       
       Der Präsident der Amici dei Musei Siciliani, des sizilianischen
       Museumsfördervereins, Bernardo Tortorici di Raffadali, lädt seit 2010 jedes
       Jahr einen anderen zeitgenössischen Künstler ein, ein Werk anstelle des
       gestohlenen Caravaggio anzufertigen. Zahlreiche renommierte
       Künstler:innen haben mittlerweile an der Initiative mit dem Namen NEXT
       teilgenommen, darunter Francesco De Grandi, Francesco Simeti, Emilio Isgrò
       und Vanessa Beecroft.
       
       ## In den Rahmen passen
       
       Ihnen stellt di Raffadali quasi einen Freibrief aus, mit einer
       Einschränkung: Die Originalmaße des Caravaggios sollten beachtet werden,
       das zeitgenössische Kunstwerk sollte auch in den Rahmen über dem Altar
       passen können.
       
       An Heiligabend, nach der Mitternachtsmesse, wird nun Pistoletto sein neues
       Kunstwerk enthüllen. Ein Moment, der in den letzten 15 Jahren schon zu
       einem Ritual der Besinnung und Hoffnung durch Kunst geworden ist.
       
       Eine spürbare emotionale Spannung liegt dann immer in der Luft, wenn die
       vielen Palermitaner, die sich zuvor vor dem Kirchengebäude versammeln,
       gemeinsam das abgedunkelte Oratorium betreten und nur ein einzelner
       Scheinwerfer das neue Kunstwerk über dem Altar anstrahlt. Die stille
       Aufregung wird dann nur allmählich durch Gespräche ersetzt, wenn den Gästen
       Prosecco und Pandoro angeboten wird.
       
       ## Kopie des Engels
       
       Der [3][eigens angefertigte Pistoletto] wird bis zum 17. Oktober 2025 zu
       sehen sein, bis zu dem Tag, an dem der Diebstahl dann 56 Jahre zurückliegt.
       Pistolettos Neuinterpretation des Caravaggio-Gemäldes, so viel hatte der
       Künstler vorab der taz verraten, wird seine ikonische Spiegelmalerei
       aufgreifen. Auf einer großen spiegelnden Fläche soll eine Kopie des Engels
       aus dem originalen Gemälde angebracht werden.
       
       Die Schriftrolle, die ihm Caravaggio gegeben hatte, wird von Pistoletto
       dann durch sein Symbol des „Dritten Paradieses“ ersetzt. Es handelt sich
       dabei um eine Abwandlung des mathematischen Unendlichkeitszeichens, die
       Pistoletto vor vielen Jahren zum zentralen Motiv seines Werks gemacht hat.
       
       Das „Dritte Paradies“ soll den Ausgleich zwischen entgegengesetzten Kräften
       suchen: „Indem er einen Teil des alten Gemäldes bewahrt, bringt der vom
       Himmel herabsteigende Engel die Verkündigung des Dritten Paradieses als
       Symbol eines möglichen Gleichgewichts zwischen Natur und Kunstwerk“,
       erklärt Pistoletto der taz.
       
       ## Monster und Tugend
       
       „Man kann Religion und Politik, Natur und Kunstfertigkeit, das Monster und
       die Tugend miteinander verbinden. Hier wird etwas geboren, das es vorher
       nicht gab.“ Pistolettos Spiegel interagiert mit Serpottas barockem
       Interieur, das gesamte Oratorium wird in das Werk über dem Altar einbezogen
       werden.
       
       Bernardo Tortorici di Raffadali fügt hinzu: „Dass so eine renommierte
       Persönlichkeit wie Michelangelo Pistoletto teilnimmt, unterstreicht, wie
       schwer der Diebstahl des Caravaggio als Verbrechen gegen die Kunst noch
       immer wiegt. Und es ist auch eine starke Geste der Solidarität.“
       
       Das Organisierte Verbrechen auf Sizilien konzentriert sich mittlerweile auf
       lukrativere Geschäfte. [4][Die tiefen Narben, die die Cosa Nostra mit ihren
       Gewalttaten im Centro Storico von Palermo hinterlassen hat], sind immer
       weniger sichtbar. Doch dass die Stadt ihren einzigen Caravaggio verloren
       hat, bleibt eine offene Wunde. Wie eine Reliquie hängt in einem kleinen
       Raum hinter dem Altar noch der Keilrahmen, aus dem das Ölgemälde vor 56
       Jahren mit einer Rasierklinge herausgeschnitten wurde.
       
       Dieses Warten auf die Rückkehr des Caravaggio für einen Moment auszusetzen
       durch ein neues Kunstwerk, das hat in Palermo schon eine regenerierende
       Bedeutung erlangt.
       
       Aus dem Englischen von Sophie Jung
       
       25 Dec 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Hili Perlson
       
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