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       # taz.de -- Postmigrantische HipHop-Geschichte: Von Realness und Fremdenhass
       
       > Von Fanta 4 bis Haftbefehl: Die komplexe Geschichte des postmigrantischen
       > HipHop in Deutschland und wie Musik mit politischer Entwicklung
       > zusammenhängt.
       
   IMG Bild: Zusammen mit Haftbefehl läutete er die sprachhybride Ära des Straßen-Rap ein: Xatar
       
       Geschichte wird bekanntlich von den Gewinnern geschrieben. Und Gewinner
       verlangen gerne nach einer klaren Linie. Ein logischer Startpunkt, der klar
       nachvollziehbar zu einem vorläufigen Endpunkt führt. Stichwort HipHop.
       
       Der gesellschaftliche Hauptprofiteur der deutschen HipHop-Geschichte, der
       sich an ihr bereichernde und sie sich aneignende bürgerliche, weiße
       Mittelstand, erzählt diese Story gerne so: In den 80er Jahren brachten hier
       stationierte GIs den in den USA aufkeimenden Rap auch nach Westdeutschland.
       In den 1990ern wurde das Untergrund-Phänomen in West und Ost
       massentauglich. Und seitdem ist es aus den Charts nicht mehr wegzudenken.
       Klarer Startpunkt, klares Ende, alles folgerichtig und einleuchtend.
       
       Murat Güngör und Hannes Loh kämpfen schon seit über 20 Jahren gegen dieses
       selbstbequeme Narrativ. Die beiden Autoren, Aktivisten, Speaker, MCs und
       Lehrer ließen bereits 2002 in ihrem Buch „Fear of a Kanak Planet“
       vergessene und vernachlässigte migrantische Stimmen zu Wort kommen.
       
       ## Songs of Gastarbeiter
       
       Nun hat sich das Genre seit 2002 spektakulär weiterentwickelt, von Aggro
       Berlin über Haftbefehl bis Ebow. Außerdem waren Compilations wie die 2013
       erschienenen [1][„Songs of Gastarbeiter“] ein neues Licht auf die Eltern
       der ersten migrantischen Generation, die lange vor Grandmaster Flash in
       ihren Protestliedern bereits Kulturtechniken verwendeten, die erst später
       im HipHop populär wurden.
       
       Nun, zwei Jahrzehnte danach, legen Güngor und Loh einen neuen Versuch vor,
       die komplexe postmigrantische HipHop-Geschichte Deutschlands zu greifen,
       mit der Anthologie „Remix Almanya“. „Es ging uns um eine neue Erzählweise
       des HipHop“, erklärt Uh-Young Kim, der als Lektor und Redakteur an „Remix
       Almanya“ mitgearbeitet hat, der taz. Da es sich hier um einen „Remix“ der
       Rap-Geschichte handelt ist er als „Producer“ gelistet. Der 1975 geborene
       Journalist und DJ bringt eine eigene postmigrantische HipHop-Geschichte
       mit, Kim war in den frühen 1990er Jahren als Teil der Kölner Rapcrew Indeed
       der erste deutsch-koreanische Rapper.
       
       „Bislang wurde sich immer am Underground-gegen-Mainstream-Narrativ
       entlanggehangelt, Fanta 4 gegen Advanced Chemistry und so weiter. Wir
       wollten nicht bei Realness oder Authentizität ansetzen oder der Frage, wer
       besser rappen kann. Sondern die Geschichte konsequent an politischen
       Ereignissen (und die Migrationsgeschichte) anknüpfen. Um zu zeigen, dass
       HipHop in Deutschland nicht im luftleeren Raum entstanden ist.“
       
       ## Multinationaler Kulturraum
       
       Ihr Remix beginnt mit einer historischen Periodisierung in vier
       Abschnitten, aber nicht in einer geraden Linie, sondern mit einem Fokus auf
       den Brüchen und Verzweigungen. Der erste Abschnitt beschreibt die Oldschool
       der 80er Jahre. Aber nicht im Vakuum, sondern als Reaktion auf das
       politische Klima. In einer Zeit, als die schwarz-gelbe Koalition unter
       CDU-Kanzler Helmut Kohl den Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland“
       in ihrem Koalitionsvertrag auflistete, schuf sich die zweite Generation von
       Gastarbeiter*innen mit HipHop einen eigenen, multinationalen
       Kulturraum.
       
       Der erste Bruch kommt in Form der Weißwaschung, die Anfang der 90er Jahre
       HipHop in den Mainstream katapultierte. Das wiedervereinte Land verlangte
       nach einem deutschen Sprechgesang aus dem Land der Dichter und Denker – und
       fand ihn in den weißen, unpolitischen Versen der ersten Deutschrap-Stars
       die Fantastischen Vier. Während der Bergriff „kulturelle Aneignung“
       inzwischen ein bekanntes Reizthema ist ([2][man erinnere sich an die
       Debatte um Peter Fox’ 2022er Amapiano-Pastiche „Zukunft P]ink“), kommt
       dieser Vorwurf in der deutschen HipHop-Geschichte der 90er bislang zu kurz.
       
       Der nächste Bruch ist die ultraprovokative Aggro-Berlin-Ära, deren krasser
       Sexismus und Homophobie in den politischen Kontext des neoliberalen
       Wohlstandsversprechens der Schröder-SPD-Kanzler-Ära gerückt wird: „Sexuelle
       Allmachtsfantasien schufen Momente der Rückversicherung eines verängstigten
       Patriarchats, das ökonomisch und gesellschaftlich bedroht wurde. […] Auf
       dem Rücken von Frauen und zu Lasten von homosexuellen Menschen manövrierte
       sich Aggro Berlin in die Mitte der Gesellschaft.“
       
       ## Reaktion auf Sarrazin
       
       Eine subtilere Kritik an der Aggro-Berlin-Ära richtet sich an die zwar
       provokative, aber fast immer sehr hochdeutsche Sprache von Sido, Bushido
       und Co. Was zum letzten Abschnitt in der Dramaturgie von „Remix Almanya“
       führt, [3][in der Künstler wie Haftbefehl] und Xatar eine neue,
       sprachhybride Ära des Straßen-Rap einleiten – die mit ihren komplexen
       linguistischen Ebenen auch im Feuilleton gefeiert wird.
       
       Das unmissverständlich migrantische Auftreten eines kurdischen
       Flüchtlingskinds wie der Offenbacher Rapper Haftbefehl sei eine Reaktion
       auf den Neuen Deutschen Fremdenhass, der sich nicht zuletzt durch die
       Schriften von SPD-Politiker Thilo Sarrazin und die rechtsextreme
       Terrorserie des NSU offenbart.
       
       Diese vierteilige Chronologie ist die Kernthese von „Remix Almanya“ – die
       im weiteren Verlauf des Buches noch durch 17 Interviews und weitere Essays
       untermauert wird. MCs wie Xatar und Eko Fresh erweitern die
       Geschichtsschreibung mit ihren direkten Erfahrungsberichten. Neuere Acts
       wie [4][Ebow] und [5][Apsilon] zeigen die neuen Perspektiven des
       postmigrantischen HipHop, während ein Musiker und Gastarbeiter der ersten
       Generation wie Metin Türkoz die Arbeitssituation der Pionier*innen in
       der Kölner Ford-Autofabrik beschreibt.
       
       „Remix Almanya“ öffnet die Geschichte des deutschen HipHop so weit wie kein
       Theoriebuch zuvor. So weit, dass alle angeschnittenen Themen natürlich
       nicht so ausführlich dargestellt werden können, wie sie es verdient hätten.
       Die migrantischen Perspektiven sind (bewusst) „nur“ auf türkische und
       kurdische fokussiert.
       
       ## Sexismus und Homophobie
       
       Den Autoren liegt es spürbar am Herzen, den Blick auf Sexismus und
       Homophobie trotzdem nie zu verlieren – doch zu den Themen alleine könnte
       man noch viele weitere Bücher schreiben. Dennoch ist „Remix Almanya“ in
       seiner vorsätzlichen Ganzheitlichkeit ein nicht nur für Genre-Nerds
       faszinierendes, und unverzichtbares Standardwerk der deutschen
       HipHop-Forschung.
       
       Es ist zum richtigen Zeitpunkt erschienen: „Wir gehen jetzt ins Jahr 2025“,
       sagt Uh-Young Kim. „Im Februar findet die Bundestagswahl statt. Der
       rechtsradikale Terroranschlag von Hanau jährt sich bald zum fünften Mal.
       Migrant*innen, Geflüchtete, marginalisierte Menschen werden von der AfD
       erneut zu Sündenböcken gemacht. Ich finde, da ist es ganz wichtig, mit
       unserem Buch wieder eine neue, korrigierte Perspektive reinzubringen.“
       Damit hat er recht.
       
       4 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Marius Magaard
       
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