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       # taz.de -- Der Comic „Zeit heilt keine Wunden“: Ein unbequemer Zeitzeuge
       
       > Hannah Brinkmann erzählt die Geschichte Ernst Grubes nach. Er wurde als
       > „Halbjude“ von den Nazis verfolgt und in der BRD als Kommunist
       > inhaftiert.
       
   IMG Bild: Hannah Brinkmanns „Zeit heilt keine Wunden“ ist destillierte Geschichte in Comicform
       
       Berlin taz | [1][Den in München wohnenden Holocaust-Überlebenden Ernst
       Grube] gibt es inzwischen auch als Hologramm. Der ehemalige
       Berufsschullehrer stellt sich mit seinen 92 Jahren heute noch leibhaftig
       als Zeitzeuge vor Schulklassen und berichtet davon, wie er als von den
       Nazis sogenannter Halbjude kurz vor Kriegsende gemeinsam mit seiner Mutter
       im Konzentrationslager Theresienstadt eingeliefert und dann von der Roten
       Armee befreit wurde.
       
       Aber lange wird er das nicht mehr tun können, von seiner Lebens- und
       Leidensgeschichte soll deswegen kommenden Generationen auch mit Hilfe von
       Virtual Reality berichtet werden. Und zudem nun in Form einer 261 Seiten
       starken Graphic Novel von der in Berlin lebenden Comicautorin Hannah
       Brinkmann. Drei Jahre lang hat sie an dem akribischen Porträt von Ernst
       Grube gearbeitet.
       
       Schon in ihrer ersten Graphic Novel, „Gegen mein Gewissen“, die vor vier
       Jahren erschienen ist, zeigte sie, dass sie das tragische Leben eines
       Menschen mit künstlerischen Mitteln und gleichzeitig hohem Anspruch an
       historische Genauigkeit zu erzählen vermag. Der inzwischen preisgekrönte
       Comic verhandelt [2][den realen Fall ihres pazifistischen Onkels], der
       gegen seinen Willen zur Bundeswehr eingezogen wurde und sich daraufhin in
       den frühen Siebzigern das Leben nahm.
       
       Das Buch erregte die Aufmerksamkeit des NS-Dokumentationszentrums München,
       wo man sich dachte, Brinkmann könne die Richtige sein, um auch Grubes
       komplizierte Lebensgeschichte in der Bildsprache eines Comics
       nachzuempfinden.
       
       „Zeit heilt keine Wunden“ ist also ein Auftragswerk, aber eines, dem man
       bis zum letzten Panel anmerkt, dass hier mit sehr viel Begeisterung und
       Leidenschaft an der Sache vorgegangen wurde.
       
       Kontinuitäten der Nazi-Zeit in der BRD 
       
       Beim Treffen in ihrem Atelier in Neukölln sagt Brinkmann, dass sie einen
       ähnlichen Stoff wie er ihr in „Zeit heilt keine Wunden“ anvertraut wurde,
       sowieso für ihr nächstes großes Comicprojekt im Sinn hatte. Kontinuitäten
       der Nazi-Zeit in der BRD hätten sie interessiert. Und mit Grubes
       Lebensgeschichte hatte sie es plötzlich genau mit einem solchen Thema zu
       tun. Denn deren Tragik endet in besonderer Weise nicht am Tag der
       Befreiung, sondern geht in der BRD mit neuen Facetten und in teils
       grotesker Weise weiter. Schließlich war und ist Grube Kommunist.
       
       Der einst von den Nazis als „Halbjude“ Verfolgte macht sich als solcher im
       neuen System nicht nur unbeliebt, sondern als renitentes Mitglied der bald
       verbotenen KPD auch strafbar. Später in den Siebzigern wird er, wie so
       viele andere Kommunisten auch, gar Opfer des Radikalenerlasses und war kurz
       davor, seine Stelle als Lehrer zu verlieren.
       
       Als jemand, der zwar unter den Nazis gelitten hat, dann aber der BRD so
       kritisch gegenüber stand wie diese ihm, ist er also ein Zeitzeuge mit einer
       ganz besonderen Vita, ein unbequemer Zeitzeuge, wenn man so will.Und auch
       wenn Brinkmann die Episode mit dem Radikalenerlass beiseite lässt, weil die
       Geschichte dieses Lebens auch schon so komplex genug für einen Comic ist,
       wie sie findet, nimmt sie sich genügend Raum, um nach dem ganzen Horror im
       Dritten Reich auch noch den skandalösen Umgang in der BRD mit jemandem wie
       Grube zu beschreiben.
       
       Sie hat sich mehrfach mit ihm getroffen, sich via Zoom aus seinem Leben
       berichten lassen, und sie sagt, sie habe dabei einen Menschen
       kennengelernt, den sie inzwischen als einen Freund bezeichnet, der immer
       „gegen Entmenschlichung“ eintrat, und „dafür, dass jeder Mensch gleich
       ist“.
       
       Mit diesem Menschenbild habe sie sich auch Grubes Hinwendung zum
       Kommunismus erklärt. „Ernst kam aus der NS-Zeit und hat im BRD-System bloß
       eine Übergangslösung gesehen“, glaubt sie, „aber eigentlich erhoffte er
       sich einen wirklichen Neuanfang und den sah er im Kommunismus.“
       
       Destillierte Geschichte in Comicform 
       
       „Zeit heilt keine Wunden“ ist natürlich nicht die erste aus den Erzählungen
       eines Zeitzeugen destillierte Geschichte eines Holocaust-Überlebenden in
       Comicform. Erst im letzten Jahr gab es [3][von Barbara Yelin die
       gezeichneten Erinnerungen der Überlebenden Emmie Arbel in einer Graphic
       Novel].
       
       Vor allem wäre jedoch „Maus“ von Art Spiegelman zu nennen, der sich von
       seinem Vater von der Hölle Auschwitz berichten ließ und mit seinem Comic
       einen bahnbrechenden Klassiker schuf. „Maus“ beschreibt Brinkmann als „ein
       unfassbares Werk“, aber sie habe sich trotz ihrer Bewunderung für diesen
       Comic von dessen Einfluss frei machen wollen, um so leichter einen
       eigenständigen Ansatz für ihre Graphic Novel finden zu können. Außerdem
       habe „Ernst ja im gleichen Kontext andere Erfahrungen gemacht als
       Spiegelmanns Vater.“
       
       Aber ganz von „Maus“ lösen kann man sich bei einem Projekt wie „Zeit heilt
       keine Wunden“ wohl nicht. In ein paar ihrer Panels verfremdet Brinkmann
       ranghohe Nazis und zeichnet sie als Hähne. Das erinnert an Spiegelmans
       „Maus“, wo die Nazis durchgehend als Katzen gezeigt werden und Juden und
       Jüdinnen als Mäuse. Mit diesem Kunstkniff habe sie vielleicht dann ähnlich
       wie Spiegelman Nazis karikieren, und sie „aus ihrer Allmachtsposition
       bringen wollen. Deswegen sind sie auch Hähne und nicht etwa Raubtiere.“
       
       Für ihre Graphic Novel hat sie sich nicht bloß alles von Ernst Grube
       erzählen, sondern sich von diesem auch mit allerlei Dokumenten versorgen
       lassen. Sie hat Tagebücher anderer Überlebender gelesen, war in Archiven
       und in Theresienstadt.
       
       „Wenn ich etwas zeichnen will, muss ich so viel wie möglich darüber wissen,
       damit ich es auch zeichnen kann“, sagt sie. Das mache sie jedoch nicht zur
       zeichnenden Historikerin, sie bleibe jemand, der „die Akten nur als
       Künstlerin interpretieren“ könne.
       
       Für den deutschen Comicbuchpreis 2024 nominiert 
       
       Dieser Spagat zwischen historischer Genauigkeit und einem gleichzeitig
       hohen künstlerischen Anspruch macht „Zeit heilt keine Wunden“ zu dem
       spannenden Werk, das es geworden ist und das zu Recht für den deutschen
       Comicbuchpreis 2024 nominiert wurde.
       
       So weitgehend nüchtern, sachlich und zudem chronologisch sie das Leben des
       Holocaust-Überlebenden Ernst Grube nacherzählt, so spielerisch und
       fantasievoll verarbeitet Brinkmann dieses zeichnerisch. Immer wieder
       tauchen Pflanzen auf, die gemeinsam mit den Hoffnungen und Wünschen Grubes
       metaphorisch erblühen oder verdorren. Außerdem zeigt sie den Überlebenden
       nicht nur von außen, sondern auch sprichwörtlich von innen. Aus einem
       Schrank kramt sie ein Anatomiebuch hervor, das sie für derartige
       Zeichnungen verwendet habe.
       
       Als Grube ihr zum Beispiel sagte, bei einer bestimmten Begebenheit habe es
       sich für ihn so angefühlt, als hätte er einen Kloß im Hals gehabt, habe sie
       sich gedacht, so einen Kloß im Hals könne man ja auch als echten Vorgang im
       Körper darstellen. Brinkmann zeigt in ihrem Comic also, wie Effekte von
       Angst und Schmerz auch im Inneren des menschlichen Körpers aussehen
       könnten. Ein wenig wirkt das so, als wollte die Autorin den von ihr
       Porträtierten samt seinen Erlebnissen wirklich bis auf die Knochen
       durchdringen.
       
       21 Jan 2025
       
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