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       # taz.de -- Bundesopferbeauftragter über Magdeburg: „Die Sensibilität für die Belange der Opfer ist gestiegen“
       
       > Pascal Kober war nach dem Anschlag vor Ort. Neben großer Solidarität hat
       > er dort auch Wut und Enttäuschung wahrgenommen. Die Zahl der
       > Hilfesuchenden wird höher sein als bisher angenommen, sagt er.
       
   IMG Bild: Auch am Heiligabend stehen Trauernde vor der Johanniskirche, dem zentralen Gedenkort, nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt
       
       taz: Herr Kober, Sie waren in Magdeburg vor Ort. Wie haben Sie die
       Situation wahrgenommen? 
       
       Pascal Kober: Es sind sehr unterschiedliche Wahrnehmungen, über die ich
       berichten kann Es gibt zum einen große Solidarität, auch Dankbarkeit für
       die Unterstützung. Aber es gibt auch Wut, Enttäuschung, Entsetzen.
       
       taz: Inwiefern herrscht Enttäuschung? 
       
       Kober: Ich war viel in der Stadt unterwegs und habe Gespräche mit
       Bürgerinnen und Bürgern geführt. Und wenn man dann am Anschlagsort ist und
       ihre Gespräche untereinander hört, dann spiegelt sich da auch Enttäuschung
       wider. Die Tonalität in den Äußerungen war unterschiedlich. Viele
       hinterfragen, [1][warum es überhaupt dazu kommen konnte].
       
       taz: Jetzt wird der Anschlag auch im Wahlkampf thematisiert. Wie
       beeinflussen politische Debatten und Demonstrationen, wie z. B. Kundgebung
       der AfD die Situation der Betroffenen? 
       
       Kober: Ich beziehe mich auf Erfahrungen, die ich bei früheren Anschlägen
       gemacht habe. Politische Schlussfolgerungen gehen einem Teil der
       Betroffenen generell zu schnell und zu weit. Die Betroffenen haben
       unterschiedliche politische Orientierungen und Überzeugungen. Manchmal
       fühlt man sich von einer politischen Aussage angesprochen, von einer
       anderen abgestoßen. Insofern kann man es niemandem so richtig recht machen.
       Deshalb würde ich, wenn ich Ratschläge erteilen müsste, der Politik
       empfehlen, sich zumindest in den ersten Tagen zurückzuhalten. [2][Zuerst
       sollte die Sachlage geklärt werden. Voreilige Schlussfolgerungen sind nicht
       angemessen]. Ich glaube, es zeigt keine Souveränität, wenn man sich zu früh
       positioniert.
       
       taz: Welche konkreten Maßnahmen wurden bisher ergriffen, um die Opfer und
       ihre Angehörigen in Magdeburg zu unterstützen? Gibt es eine zentrale
       Anlaufstelle? 
       
       Kober: Kurz nach dem Anschlag am vergangenen Freitag, etwa um 19 Uhr, waren
       die Notfallseelsorge und der polizeiliche Opferschutz vor Ort, um den
       Menschen sofort Ansprechmöglichkeiten zu bieten. Bereits am Samstag haben
       mein Team und ich dann ein Hilfetelefon geschaltet, das rund um die Uhr
       erreichbar ist. Mithilfe der Landesregierung und der Medien wurden die
       Nummer sowie weitere Kontaktmöglichkeiten schnell verbreitet. Am Montag
       habe ich dann gemeinsam mit der Opferbeauftragen des Landes Sachsen-Anhalt
       ein Schreiben an alle uns bisher bekannten Hinterbliebenen, Verletzten und
       Tatzeugen verschickt. Diese Maßnahmen richten sich an alle Betroffenen,
       auch an Menschen, die sich erst später bei uns melden, da sie zunächst
       Abstand gewinnen wollen. Unser Angebot bleibt dauerhaft bestehen, und wir
       stehen den Betroffenen weiterhin als Ansprechpartner zur Verfügung. Wichtig
       ist dabei, dass die Leistungen des Sozialstaats schnell, unkompliziert und
       wenig belastend die Betroffenen erreichen, wenn sie es wünschen.
       
       taz: Wie wird definiert, wer als Opfer oder Betroffener des Anschlags gilt?
       Gibt es bestimmte Kriterien? 
       
       Kober: Als Betroffene sehen wir nicht nur die Personen, die verletzt wurden
       und die Angehörigen der Getöteten. Zu den Betroffenen zählen wir auch
       Personen, die die Tat aus der Nähe erlebt haben. Als Tatzeugen werden sie
       von der Polizei erfasst und uns gemeldet. Aber auch wer im Nachgang
       glaubhaft versichern kann, dass er vor Ort war, aber zunächst nicht erfasst
       wurde, kann Unterstützung erhalten.
       
       taz: Mit wie vielen Betroffenen rechnen Sie? 
       
       Kober: Fest steht, dass die fünf Getöteten Angehörige hinterlassen haben.
       Die Zahl der Verletzten wurde bereits von anderen Stellen veröffentlicht –
       etwa 200 Personen. Aus Erfahrung weiß man, dass die tatsächliche Zahl der
       Betroffenen noch deutlich höher liegen kann, da viele später
       Unterstützungsbedarf anmelden, weil sie etwa traumatisierende Szenen
       beobachtet haben. Die Zahl ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen.
       Sicher ist aber, dass noch mehr Menschen Unterstützung benötigen werden als
       bisher bekannt.
       
       taz: Was brauchen die Betroffenen aus Ihrer Sicht am dringendsten –
       psychologisch, finanziell oder organisatorisch? 
       
       Kober: In der ersten Phase nach einem solchen Ereignis brauchen die
       Betroffenen vor allem Unterstützung, um wieder gesund zu werden – sowohl
       psychisch als auch physisch. Für Augenzeugen oder Menschen, die körperlich
       verletzt wurden, ist es wichtig, Angebote wie eine Trauma-Ambulanz in
       Anspruch zu nehmen. Viele wissen aber nicht, dass sie einen Rechtsanspruch
       darauf haben oder wie sie diese Hilfe bekommen können. Hier setzen wir an,
       informieren sie über ihre Möglichkeiten und helfen bei der Antragsstellung.
       Darüber hinaus spielen Gesundheitsversorgung, Rehabilitation und
       Unterstützung bei der Rückkehr in den Alltag eine zentrale Rolle.
       
       taz: Welche finanziellen Hilfen gibt es, und wie wird geregelt, wer
       Anspruch auf Entschädigungen hat? 
       
       Kober: Bei den finanziellen Leistungen kommt es auf den individuellen
       Bedarf an. Liegt beispielsweise eine Erkrankung oder Verletzung vor, die
       die Ausübung des Berufs teilweise unmöglich macht, gibt es Möglichkeiten
       wie Berufshilfe oder Berufsschadensausgleich. Kann die Erwerbsfähigkeit
       dauerhaft nicht vollständig wiederhergestellt werden, besteht die
       Möglichkeit, eine Erwerbsminderungsrente zu beziehen. Diese Leistungen
       hängen von den jeweiligen Diagnosen und der Prognose der Ärzte ab und
       werden individuell festzustellen sein.
       
       taz: Es ist gleichzeitig der achte Jahrestag des Anschlags am
       Breitscheidplatz. Welche Fortschritte wurden seither im Opferschutz
       erreicht, und wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf? 
       
       Kober: Ein großer Fortschritt seit dem Anschlag vom Breitscheidplatz ist
       [3][die Einrichtung des Bundesopferbeauftragten, also der Funktion, die ich
       gegenwärtig ausübe]. Das gab es vorher nicht. Der Bundesopferbeauftragte
       unterstützt Betroffene und informiert über ihre Rechte. Darüber hinaus gibt
       es mittlerweile in 15 Bundesländern Landesopferbeauftragte, die auch
       koordinierend tätig sind. Die Sensibilität für die Belange der Opfer ist
       gestiegen, einfach auch durch die [4][Erfahrung des Breitscheidplatzes],
       aber auch durch das Engagement von Betroffenen oder auch der
       Landesopferbeauftragten. Die finanziellen Leistungen wurden erhöht und neue
       Unterstützungsmöglichkeiten wie der Anspruch auf Trauma-Ambulanzen
       geschaffen. Auch die Erweiterung des Begriffs der Opfer hat dazu
       beigetragen, dass nunmehr auch Tatzeugen Zugang zu Hilfe haben. Allerdings
       gibt es noch Verbesserungsbedarf. Antragsverfahren sind oft zu komplex, und
       es gibt zu viele Anlaufstellen. Begutachtungen werden teils als respektlos
       und empathielos empfunden, und Verfahren dauern oft zu lange. Die
       Einführung von Lotsen in Versorgungsämtern ist noch nicht flächendeckend
       umgesetzt. Zusätzlich belastet die öffentliche Aufmerksamkeit einen Teil
       der Betroffenen, besonders um Gedenktage. Das stellt eine besondere
       Herausforderung dar, weil andere Betroffene wiederum die öffentliche
       Anteilnahme sehr schätzen.
       
       taz: Wie geht es Ihnen persönlich mit diesen Situationen, auch im Hinblick
       auf Ihre Verantwortung? 
       
       Kober: Mich persönlich macht es natürlich auch betroffen, wenn ich sehe,
       wie die Menschen leiden. Ich lerne viele der Betroffenen persönlich kennen,
       nicht unmittelbar nach dem Anschlag, aber in den Wochen und Monaten danach,
       wenn sie Gespräche mit mir wünschen. Dann besuche ich sie etwa, sowohl in
       Deutschland als auch im Ausland. Das sind häufig sehr emotionale
       Begegnungen. Wenn mich das nicht berühren würde, wäre ich wahrscheinlich
       nicht die richtige Person für diese Aufgabe. Gleichzeitig bin ich in der
       glücklichen Lage, dass ich in vielen Fällen konkret etwas unterstützend
       leisten kann. Wenn man in einer solchen Situation helfen kann, ist es
       weniger belastend. Das erleben auch Einsatzkräfte – wenn sie helfen können,
       geht es ihnen oft besser. Trotzdem ist es wichtig, auf die eigene
       Selbstfürsorge zu achten. Es ist wichtig, dass man sich aussprechen kann.
       Der Datenschutz und die gebotene Vertraulichkeit setzen dabei natürlich
       enge Grenzen. Aber mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann ich
       mich austauschen.
       
       taz: Wie werden Betroffene früherer Anschläge weiterhin unterstützt? 
       
       Kober: Das Angebot des Bundesopferbeauftragten ist nicht zeitlich begrenzt.
       Es richtet sich auch an Betroffene früherer Anschläge, wie zum Beispiel
       [5][das Oktoberfest-Attentat von 1980]. Unser Unterstützungsangebot endet
       nicht nach wenigen Wochen, sondern bleibt dauerhaft verfügbar.
       
       25 Dec 2024
       
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