URI: 
       # taz.de -- Buch des Soziologen Richard Sennett: Diskurs und Anstand
       
       > Der Soziologe Richard Sennett erkundet in seinem neuen Buch die
       > performative Dimension des Politischen und deren Wirkung.
       
   IMG Bild: Ambivalenzfreie Performance: Diana Burkot von der feministischen russischen Gruppe „Pussy Riot“ auf der Bühne in Berlin
       
       Seine Karriere begann er als Musiker. Im Theater war er auch kein Fremder,
       bevor er sich mit philosophischer Sprechakt- und soziologischer
       Rollentheorie vertraut machte. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass
       das neue Buch des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett von einem
       tiefen Vertrauen in die Macht der Künste getragen ist. Ungewöhnlich ist
       vielleicht nur die Ambivalenzfreiheit des Plädoyers, mit dem das Buch
       beginnt: Wir sollten Kunst schaffen, fordert Sennett, die „moralisch gut
       ist“.
       
       Nachvollziehbar ist das allemal. Angesichts des Verfalls der öffentlichen
       Debatten in sozialen Medien und des globalen Aufstiegs der Ultrarechten
       wird die alte Hoffnung auf die zivilisatorische Kraft künstlerischen
       Schaffens mobilisiert, dient die Kunst als Ausgangspunkt für ein Leben in
       Würde.
       
       Sennett gehört zu den renommiertesten Soziolog:innen der Gegenwart,
       seine Bücher „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ (1977) und „Der
       flexible Mensch“ (1998) sind Bestseller und weit über Soziologieseminare
       hinaus verbreitet. Auch als Stadtsoziologe hat er sich einen Namen gemacht.
       Schon in „Der flexible Mensch“ hatte Sennett sich mit der Theatertheorie
       des Aufklärers Denis Diderot auseinandergesetzt und gegen diesen
       argumentiert, dass die Tätigkeit der Schauspielenden keine gewöhnliche
       Arbeit sei. Anders als handwerkliche und erst recht industrielle Routinen,
       sei die Schauspielerei zugleich durch Disziplin und Selbstbestimmung
       gekennzeichnet.
       
       ## Untertanen manipulieren
       
       Die Idee des selbstbestimmten Lebens entsteht überhaupt erst in der
       europäischen Renaissance, führt Sennett in seinem aktuellen Buch aus.
       Seitdem, zeigt er mit Pico della Mirandola auf, ist die Selbstinszenierung
       Teil jeder Identitätskonstruktion. Aber das [1][Spielen und Schauspielen]
       ist „ethisch zweideutig“. So wird etwa die Rollendistanz nach Machiavelli
       vom Fürsten genutzt, um die Untertanen zu manipulieren. Sie kann aber laut
       Sennett auch ein emanzipatorisches Mittel sein, um „neue Erfahrungen und
       neue Identitäten zu erproben“.
       
       Wenn auch die Performances immer wichtiger werden als die politischen
       Inhalte, gibt es doch unterschiedliche Gebrauchsweisen des Schauspiels.
       Trump ist kein Machiavellist. Während der Fürst nach dem Konzept des
       Renaissance-Theoretikers zwar auch mittels seiner Auftritte manipuliert und
       polarisiert, wechselt er seine Masken beliebig je nach Zweck. Trumps
       Performance hingegen ist authentisch, er glaubt selbst an seine wenig
       variablen Darbietungen. Dennoch steht er in der Tradition Ludwigs XIV., dem
       die Kunst schon zur Erzeugung von Charisma diente.
       
       Ob dieses Charisma eher eine maskulinistische Attitüde ist oder
       geschlechtsneutral funktioniert, interessiert Sennett leider überhaupt
       nicht. Geschlechterpolitiken tauchen im ganzen Buch nicht auf, obwohl
       schließlich die moderne Performancekunst ohne [2][feministische
       Künstlerinnen] ebenso wenig zu denken ist wie die Performancetheorie ohne
       feministische Autorinnen. Und Sennett durchkämmt schließlich nicht nur die
       Diskursgeschichte der Darbietung, sondern verfolgt sie auch in ihrer
       Wirkung auf die Rezipient:innen, oder überhaupt auf die Verhältnisse
       zwischen Produktion und Rezeption.
       
       Dass in Sennetts Rekonstruktionen auch weder die
       Arbeiter:innenbewegung noch andere organisierte soziale Bewegungen
       eine nennenswerte Rolle spielen – von wenigen Seiten zum Marsch auf
       Washington 1963 abgesehen –, ist erstaunlich. Es stellt sich nicht nur die
       Frage, wieso er etwa beim Thema Masken beim florentinischen Karneval
       verbleibt und nicht zu zeitgenössischen Formen der Maskierung vordringt,
       wie bei Autonomen oder Zapatist:innen.
       
       Auch bleiben die Antriebskräfte der politischen Performances und ihre
       Mittel und Effekte im Verborgenen. Als Motoren der Darstellungsentwicklung
       tauchen auch die kulturellen Avantgarden kaum auf. Auch wenn der Untertitel
       „Kunst, Leben, Politik“ anderes vermuten ließe, denn schließlich waren es
       die avantgardistischen Künstler:innen, die alle drei Dimensionen der
       Existenz miteinander vermitteln und versöhnen wollten. In dieser Hinsicht
       unterscheidet sich Sennetts Essay auch von anderen soziologischen
       Zeitdiagnosen, in denen bereits die gegenwärtige Kunstwerdung des Lebens im
       Mittelpunkt stand, wie etwa in Zygmunt Baumans „Wir Lebenskünstler“ (2009)
       und [3][Andreas Reckwitz]’ „Die Erfindung der Kreativität“ (2012).
       
       So hat Richard Sennett zwar ein sehr gelehriges Buch geschrieben. Aber auch
       ein ausschweifendes, das zugleich vieles auslässt und zu selten zum Punkt
       kommt. Und wenn, dann lassen diese Punkte einen manchmal kopfschüttelnd
       zurück. Das gilt auch für das zentrale Motiv des Textes, das Vertrauen auf
       die Kunst. Moralisch kann sie wirken, erklärt Sennett schließlich, indem
       sie zu zivilisierten Umgangsformen auch im Alltag anstiftet. In Zeiten der
       Täuscher mit ihren polternden Performances scheint die ganze Utopie eines
       besseren Lebens darauf zusammenzuschrumpfen, freundlich zu anderen zu sein
       – als Akt „zivilisierten Anstands“.
       
       8 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Yael-Ronen-an-der-Berliner-Schaubuehne/!6054147
   DIR [2] /Florentina-Holzinger-inszeniert-Sancta/!6011620
   DIR [3] /Andreas-Reckwitz-Buch-Verlust/!6040810
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Kastner
       
       ## TAGS
       
   DIR Politisches Buch
   DIR wochentaz
   DIR Rezension
   DIR Performance
   DIR Soziologie
   DIR Kolumne Diskurspogo
   DIR wochentaz
   DIR Interview
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Meinung schlägt Wissen im Journalismus: Senf, die Droge der Stunde
       
       Alle wissen plötzlich alles – doch wo bleibt der Raum fürs Fragen? Ein
       Plädoyer für mehr Zweifel, weniger Gewissheit – und die Rückkehr des
       Suchens.
       
   DIR Oper „Sancta“ von Florentina Holzinger: Jesus, die sind nackt!
       
       In der Debatte um Florentina Holzingers Oper „Sancta“ werden Nacktheit und
       sexuelle Handlungen unter Frauen als „schockierend“ geframed – der Inhalt
       rückt zur Seite.
       
   DIR Matthias Mohr über Empathie: „Mehr Dialog als Umarmung“
       
       Der künstlerische Leiter des Berliner Radialsystems setzt in seiner Arbeit
       auf Empathie gegen gesellschaftliche Spaltung.
       
   DIR Aus dem taz-Magazin: "Ich bin eben unmodisch. Leider!"
       
       Der Soziologe Richard Sennett im Gespräch über den Vorteil von Fehlern und
       der Perfektion des Handwerks. Mutmaßungen über Ikea, die Büchse der
       Pandorra und Adorno.