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       # taz.de -- Zukunft für die junge Generation: Was wäre, wenn Odysseus ein Smartphone gehabt hätte?
       
       > Zurück nach Ithaka wäre mit Google Maps schneller gegangen. Aber um nach
       > Hause zu kommen, müssen wir uns auf das Ungewisse einlassen, gerade
       > jetzt.
       
   IMG Bild: „Ich bin ja eher der Typ, der auf Sicherheit und Planbarkeit steht: morgens einen Kaffee, abends Netflix.“
       
       Wenn Odysseus ein Smartphone gehabt hätte, dann wäre er nach seinem
       zehnjährigen Arbeitsaufenthalt vor Troja nicht noch zehn Jahre durch die
       Gegend geirrt, bevor er endlich wieder in Ithaka bei seiner wunderbaren
       Penelope war. Mit Auto und Fähre hätte er das laut Google Maps sogar in 14
       Stunden, 3 Minuten schaffen können.
       
       Aber wo ein Vorteil ist, ist auch ein Nachteil, wie Fußballlegende Johan
       Cruijff zu sagen pflegte. Hätte Odysseus ein Smartphone gehabt, dann wäre
       er ausspioniert und monetarisiert worden von [1][den
       Silicon-Valley-Milliardären], und ständig hätte man ihm personalisierte
       Werbung reingespielt.
       
       Auf Twitter hätten ihn Priamos’ Bots so kirre gemacht, dass er auf die Idee
       mit dem trojanischen Pferd womöglich gar nicht gekommen wäre – auch weil er
       mit Paris’ Angeber-Tweets so beschäftigt gewesen wäre und mit Filmchen
       [2][der tanzenden und kochenden sexy Tradwife] Helena. Dann hätte er auch
       noch täglich Selfievideos drehen müssen, garniert mit seinen schlauen
       Sprüchen, was heute im Krieg so los war und wen er gerade ertränkt oder
       wessen Pferde er erbeutet hatte. Zwischendurch hätte er bei Insta zusehen
       müssen, wie sich zuhause in seinem Palast immer mehr Freier an Penelope
       ranmachen, was sicher auch nicht schön gewesen wäre.
       
       Vor allem aber hätte Odysseus, so las ich gerade bei [3][dem populären
       Philosophen Arno Frank], durch eine schnelle Rückkehr eben auch eine ganze
       Menge verpasst. Das Jahr mit der sexuell sehr aktiven Circe
       selbstverständlich, die lebensgefährliche Blendung des Kyklopen Polyphem,
       das Jahrhundertkonzert der Sirenen, die geile Abenteuerfahrt zwischen
       Skylla und Charybdis und noch vieles mehr. Bestimmte und für ein
       gelingendes menschliches Leben auch essentielle Dinge, so verstehe ich
       Frank, gibt es nur im Offenen und Ungewissen.
       
       ## Leben bis weit ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus
       
       Und damit zur Moral meiner Geschichte: Ich bin ja eher der Typ, der auf
       Sicherheit und Planbarkeit steht, auf ein festes Zuhause und dass alle am
       Ende des Tages wieder da sind. Morgens einen Kaffee, abends Netflix. Einem
       Kyklopen würde ich nur sehr ungern eine glühende Pfahlspitze in sein
       einziges Auge reinrammen. Erstens aus einer pazifistischen Ethik heraus,
       zweitens wegen technischer Unbeholfenheit. Aber wenn der Typ sechs meiner
       Leute aufgefressen hätte, wie es Polyphem tat, dann würde ich das halt
       machen, bevor er die anderen auch noch auffrisst – oder gar mich. Zumindest
       würde ich die Bundeswehr so ausrüsten, dass die das im Notfall übernehmen
       könnte.
       
       Was ich eigentlich sagen will: Ich fürchte, wir sind in der Bundesrepublik
       und in Europa in einer Lage, in der wir uns – selbstverständlich ohne die
       soziale Frage zu vergessen – auf das Offene und Ungewisse einlassen müssen,
       um wieder nach Hause zu kommen. Das kann nicht das alte Zuhause sein, weil
       es das schon jetzt nicht mehr gibt.
       
       In Deutschland scheint das noch abstrakt, [4][aber in Los Angeles gilt das
       furchtbarerweise sehr konkret]. Es wird also ein renoviertes Zuhause sein,
       in einer Wissensgesellschaft, mit einer renovierten Wirtschaft, einer
       renovierten Politik und Alltagskultur, mit Balkonkraftwerken, autofreien
       Lebensräumen und allem Pipapo. Es wird auch Ungewissheit geben müssen, die
       wir nicht gewohnt sind und zu deren Abwehr wir das furchtbare Wort
       „Zumutung“ erfunden haben.
       
       Die größte Zumutung scheint die Zukunft zu sein. Dabei ist der abstrakte
       Begriff Zukunft – ich folge hier [5][dem Soziologen Aladin El-Mafaalani] –
       nur ein anderes Wort für die am meisten vernachlässigte Minderheit dieser
       Gesellschaft: alle, die bis weit ins 21. Jahrhundert und darüber hinaus
       leben werden, also Kinder, Jugendliche, Gen Z. Im Moment ist vor allem
       deren Zukunft geschlossen. Sie brauchen jetzt unsere Offenheit.
       
       17 Jan 2025
       
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