URI: 
       # taz.de -- Datenschützer über neue Patientenakte: „Es ist ein Leichtes, unbefugt auf Daten zuzugreifen“
       
       > Schweigen oder widersprechen? Ex-Bundesdatenschutzbeauftragter Ulrich
       > Kelber erklärt die elektronische Patientenakte – und wie er sich
       > entschieden hat.
       
   IMG Bild: Wer soll was über mich wissen? Lesegerät für die elektronische Patient:innenakte
       
       taz: Herr Kelber, bekommen Google, Meta, OpenAI und Co in Zukunft auch noch
       unsere Gesundheitsdaten? 
       
       Ulrich Kelber: Das ist möglich. Sie müssen natürlich einen entsprechenden
       Antrag stellen. Aber die Gesundheitsdaten aus den elektronischen
       Patientenakten, die pseudonymisiert an das Forschungsdatenzentrum fließen,
       können dort auch von Privatunternehmen für medizinische Forschung genutzt
       werden.
       
       taz: Alle gesetzlich Versicherten, die nicht widersprochen haben, bekommen
       eine elektronische Patientenakte – die ePA – von ihrer Krankenkasse
       eingerichtet. Die Ärzt:innen müssen diese Akten dann mit den
       Gesundheitsdaten der Versicherten befüllen. Was kommt hier auf die
       Versicherten zu? 
       
       Kelber: Auf alle Fälle eine große Verantwortung. Denn jede und jeder muss
       entscheiden: Glaubt man, dass für einen selbst die Vorteile überwiegen,
       wenn alle Ärzte auf die eigenen Gesundheitsdaten zugreifen können? Gibt es
       vielleicht einzelne Befunde oder Diagnosen, die man verbergen möchte? Oder
       schätzt man das Risiko insgesamt so hoch ein, dass man lieber ganz
       widerspricht?
       
       taz: Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein? 
       
       Kelber: Die ePA 3.0, die jetzt kommt, hat definitiv in einigen Bereichen
       [1][niedrigere Standards in Sachen Sicherheit als ihr Vorgänger]. Und ihr
       fehlen wichtige Funktionen, zum Beispiel um zu steuern, wer auf welche
       Inhalte zugreifen darf.
       
       taz: Der Vorgänger, das ist die ePA, die sich die Versicherten schon in der
       Vergangenheit freiwillig einrichten lassen konnten, wenn sie das bei ihrer
       Krankenkasse beantragt haben. Die hat nur kaum jemand genutzt. 
       
       Kelber: Beim Vorgänger wurde zum Beispiel jede einzelne ePA noch mal
       separat verschlüsselt. Das fällt jetzt weg und das ist sicher eine
       Verschlechterung.
       
       taz: Wird jetzt vielleicht mehr Wert auf [2][Komfort und einfache
       Bedienbarkeit] gelegt und das geht zu Lasten der Sicherheit? 
       
       Kelber: Komfort ist kein Argument für weniger Sicherheit. Heutzutage ist es
       möglich, hochsichere Systeme zu bauen, die trotzdem gut bedienbar sind.
       Nein, hier wurde die Sicherheit und der Schutz der Patientendaten einfach
       an vielen Stellen überflüssigerweise vernachlässigt.
       
       taz: Bei der Verschlüsselung also, an welchen Stellen noch? 
       
       Kelber: Nehmen wir zum Beispiel die Zeitspanne, in der etwa Ärzte auf die
       Daten zugreifen können. Hat die Patientin einmal ihre Krankenkassenkarte
       bei einer Arztpraxis eingesteckt, dürfen alle Mitarbeitenden dieser Praxis
       90 Tage in deren ePA lesen und schreiben. In einer Apotheke sind es immer
       noch drei Tage. Das ist beides zu lang. Warum soll die Apotheke, nachdem
       eine Kundin dort war, noch drei Tage auf die Daten zugreifen können? Und
       zwar nicht nur auf den Medikationsplan, sondern auch auf andere
       Gesundheitsdaten.
       
       In einer Apotheke können Dutzende Menschen arbeiten, in einer
       Versandapotheke auch mal Hunderte. Da wäre es ein Leichtes, unbefugt auf
       Daten zuzugreifen. Oft ohne, dass sich hinterher nachvollziehen lässt, wer
       das war. Denn dokumentiert wird in der ePA nur, welche Einrichtung auf die
       Daten zugegriffen hat und nicht, welche Person.
       
       Dazu kommt: Patienten können nicht mehr einstellen, dass ein Dokument, zum
       Beispiel das Ergebnis einer Blutuntersuchung, vom Hausarzt eingesehen
       werden kann, aber von der Zahnärztin nicht. Gerade Patienten mit sensiblen
       Diagnosen, zum Beispiel HIV, oder bei einem Schwangerschaftsabbruch,
       befürchten zu Recht Stigmatisierung. In der freiwilligen ePA ließen sich
       Dokumente noch arztbezogen verbergen. Nun werden solch sensiblen Daten ohne
       Not schlechter geschützt.
       
       taz: Welche Folgen kann das konkret haben? 
       
       Kelber: Es gibt schon Fälle, in denen Menschen erpresst werden, weil
       medizinische Daten in falsche Hände geraten sind. Ein Fall aus Finnland:
       Hier sind die Daten des Anbieters, der die meisten psychotherapeutischen
       Behandlungen durchführt, an Unbefugte gelangt. [3][Die Betroffenen wurden
       erpresst].
       
       taz: Wer würde denn hierzulande in solchen Fällen haften? 
       
       Kelber: Das wird wohl erst vor Gericht entschieden werden – genauso wie
       mögliche Schadensersatzansprüche. Aber der Fall aus Finnland zeigt: Längst
       nicht alles landet vor Gericht. Denn wenn die Betroffenen nicht wollen,
       dass ihre Depression öffentlich wird, dann werden sie wohl kaum eine
       Anzeige erstatten, die dann in ein öffentliches Gerichtsverfahren mündet.
       
       taz: War es ein Fehler, auf Opt-out umzustellen, also darauf, dass alle die
       ePA bekommen, die keinen Widerspruch einlegen? 
       
       Kelber: Es wäre jedenfalls das Mindeste gewesen, das Opt-out anders
       umzusetzen. So, dass weniger Daten automatisch in die Akte fließen. Zum
       Beispiel nur die verordneten Medikamente oder Daten für Notfallzwecke. Bei
       allen anderen Informationen hätten die Versicherten dann aktiv entscheiden
       müssen, ob diese in die ePA sollen. In Idealfall wäre das gemeinsam mit dem
       Arzt passiert – sodass Behandelnde und Patienten Vor- und Nachteile
       gemeinsam abwägen.
       
       So wie es jetzt ist, wird die Verantwortung auf die Versicherten abgewälzt.
       Die müssen laufend reinschauen in ihre ePA-App und sich überlegen: Wer soll
       welche Daten sehen dürfen? Welches Risiko gehe ich hier ein? Und gerade für
       die älteren Patienten, für die diese zentrale Akte ja die größten Vorteile
       bringen soll, und die zu Teilen gar kein Smartphone nutzen, ist das
       überhaupt nicht praktikabel. Ich halte das alles für nicht gut durchdacht.
       
       taz: Auf dem Kongress des [4][Chaos Computer Clubs wurden neue Lücken
       vorgestellt, mit denen Unbefugte auf die Akten von Patient:innen
       zugreifen können]. Wie groß ist das Problem? 
       
       Kelber: Das ist groß. Hier geht es teils auch um Lücken, auf die bereits
       die Datenschutzbehörden vor Jahren hingewiesen haben. Nämlich, dass es
       vergleichsweise leicht ist, sich einen Heilberufsausweis samt
       entsprechendem Schlüssel zu verschaffen – die braucht man, um auf die Akten
       von Patienten zuzugreifen. Und, noch gravierender: Die CCC-Experten haben
       gezeigt, dass es möglich ist, Zugriffs-Tokens für die Patientenakten
       beliebiger Versicherter zu erstellen. Damit lässt sich potenziell Zugriff
       auf die Daten aller Versicherten erlangen – ohne, dass deren Karten
       eingelesen werden müssen.
       
       taz: [5][Am 15. Januar ist die ePA in Modellregionen in Franken, Hamburg
       und NRW] [6][gestartet, ab 15. Februar soll sie laut Plan für alle kommen].
       Sollten die Patient:innen in den Modellregionen jetzt schnell
       widersprechen? 
       
       Kelber: In den Modellregionen ist das Risiko nicht so hoch. Denn hier
       dürfen nur die teilnehmenden Praxen und Apotheken auf die Daten zugreifen,
       da kann sich niemand von außen so einfach reinmogeln. Aber vor dem
       bundesweiten Start müssen solche Lücken geschlossen werden. Denn 70
       Millionen gesetzlich Versicherte – das ist der Daten-Honeypot in Europa.
       
       taz: Was raten Sie Versicherten? 
       
       Kelber: Pauschal zu- oder abraten kann ich nicht. Das Wichtigste ist, sich
       gut zu informieren und auf dieser Basis eine Entscheidung zu treffen. Für
       manche Menschen kann es richtig sein, die ePA zu nehmen – für andere, ihr
       zu widersprechen.
       
       taz: Und wie haben Sie sich selbst entschieden? 
       
       Kelber: Ich habe keine Krankheiten, deretwegen ich Stigmatisierung
       befürchten müsste. Ich erwarte auch keine Nachteile im Job oder wenn es
       darum geht, eine Versicherung zu bekommen. Daher werde ich der ePA Stand
       jetzt nicht widersprechen.
       
       18 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ethischer-Hacker-ueber-Gesundheitskonten/!6060883
   DIR [2] /Elektronische-Patientenakte-kommt-2025/!6054036
   DIR [3] https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2024-04/psychiatrie-finnland-vastaamo-hacker-verurteilt
   DIR [4] /Ethischer-Hacker-ueber-Gesundheitskonten/!6060883
   DIR [5] /Digitale-Patientenakte/!6034671
   DIR [6] /Digitale-Patientenakte/!6034671
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Svenja Bergt
       
       ## TAGS
       
   DIR Digitale Patientenakte
   DIR Gesundheit
   DIR Datenschutz
   DIR Datenleak
   DIR Datendiebstahl
   DIR personenbezogene Daten
   DIR Datenspeicherung
   DIR Datenschutzbeauftragte
   DIR Datensicherheit
   DIR Digitalisierung
   DIR GNS
   DIR Kolumne Digitalozän
   DIR Digitalisierung
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Kolumne Digitalozän
   DIR Digitale Patientenakte
   DIR Klinik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Schwachstellen im Alltag: Der Trick mit den Legosteinen
       
       Legosteine waren nicht immer das, was sie heute sind. Bei Herstellern von
       Elektronikgeräten und Autos scheinen sie für Inspiration gesorgt zu haben.
       
   DIR Umstrittener Start: Probleme bei Tests für E-Patientenakte
       
       Die elektronische Patientenakte wird derzeit in drei Testregionen erprobt.
       Von dort werden diverse Schwierigkeiten gemeldet.
       
   DIR Kritik an Merz-Vorschlag: Krankenkassen-Rabatt für Gesundheitsdaten
       
       Persönliche Gesundheitsdaten weitergeben und dafür weniger
       Krankenkassenbeitrag bezahlen? Kritiker:innen sehen den Datenschutz
       gefährdet.
       
   DIR Passwörter und andere Widrigkeiten: Kreativ nur bei Schokoriegeln
       
       Passwörter gehören zu den alltäglichen Ärgernissen. Warum nur tun wir uns
       so schwer damit? Unsere Kolumnistin hat da eine Idee.
       
   DIR Ethischer Hacker über Gesundheitskonten: „Wir hatten theoretisch Zugriff auf alle Patientenakten“
       
       Martin Tschirsich von Chaos Computer Club hält die neue elektronische
       Patientenakte nicht für sicher. Angreifer könnten gebrauchte Lesegeräte
       kaufen.
       
   DIR Datensicherheit in deutschen Kliniken: Patientenakte unzureichend geschützt
       
       Beim Datenschutz in Kliniken besteht Nachholbedarf. Patientendaten könnten
       für immer verloren gehen und auch die Vertraulichkeit ist oftmals nicht
       gewährleistet.
       
   DIR Daten-Schlamperei: Patientenakten im Sperrmüll
       
       Der Klinikkonzern Asklepios verklappt sensible Daten von Tausenden
       Patienten im Abfallcontainer. Der Datenschutzbeauftragte ist entsetzt - und
       machtlos.