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       # taz.de -- Humanitäre Nothilfe für Gaza: Forderung nach offenen Grenzübergängen
       
       > Mit der Waffenruhe seit Sonntag sind wieder mehr Hilfslieferungen
       > möglich. Aber die Lkws des UN-Welternährungsprogramms werden noch immer
       > verzögert.
       
   IMG Bild: Drohnenaufnahme eines Hilfskonvois, der am Sonntag über den Grenzübergang Kerem Shalom von Ägypten aus in den Gazastreifen fährt
       
       Berlin taz | Nach 470 Tagen Krieg ist der Zustand des Gazastreifens und
       seiner Bevölkerung katastrophal. Nach UN-Auswertungen von
       Satellitenaufnahmen sind von den einst 474.000 Häusern des Gebietes nur
       noch 38.000 intakt, 276.000 sind beschädigt und 160.000 komplett zerstört.
       Von den einst rund 2,1 Millionen Einwohnern sind rund 1,9 Millionen
       Binnenvertriebene, ansonsten sind nach den eher konservativen Angaben der
       Gesundheitsbehörden etwas über 47.000 Menschen identifizierbar tot, andere
       Schätzungen sind höher. 110.000 Verletzte werden gezählt, 11.000 Menschen
       werden noch unter den Trümmern vermisst, die sich teils kilometerweit in
       riesigen Schutthaufen auftürmen.
       
       Die UN-Hilfsstrukturen kalkulieren derzeit mit einer erreichbaren
       Bevölkerung von 1,95 Millionen Menschen, von denen über 90 Prozent
       permanent zu wenig zu essen haben und 345.000 sich im Zustand der
       Hungersnot befinden – die höchste und schwerste Stufe der international
       verwendeten fünfstufigen IPC-Skala zur Einstufung von
       Ernährungssituationen, die niemand lange überlebt.
       
       Mit der [1][Waffenruhe seit Sonntag] könnten nun zum ersten Mal seit der
       kompletten Abriegelung des Gebietes durch Israel in Reaktion auf den
       Hamas-Terrorüberfall vom 7. Oktober 2023 wieder genügend Lebensmittel nach
       Gaza gelangen. Die UN-Zielmarke beträgt 600 Lastwagen pro Tag – vor dem 7.
       Oktober 2023 waren es 500, danach durchschnittlich nur 115, wobei immer
       wieder wochenlang gar nichts in das Gebiet kam. Die ersten Lastwagen des
       UN-Welternährungsprogramms WFP mit Mehl und anderen Nahrungsmitteln
       überquerten den Grenzübergang Kerem Shalom aus Ägypten am
       Sonntagnachmittag. Das WFP will jetzt regelmäßig 150 Lkw pro Tag in den
       Gazastreifen schicken.
       
       Zunächst ist immer noch nur dieser eine Grenzübergang offen, und nach wie
       vor unterliegen die Hilfstransporte strengen israelischen Kontrollen, was
       in der Vergangenheit immer wieder zu Verzögerungen und Schikanen geführt
       hat. „Es müssen alle Grenzübergänge offen und verlässlich funktional sein“,
       fordert WFP. „Es müssen sich auch humanitäre Teams frei und sicher in ganz
       Gaza bewegen können, um die Bedürftigen zu erreichen.“
       
       Es geht nicht nur um Lebensmittel. Es gibt keine funktionierende Wasser-
       und Stromversorgung und [2][keine medizinische Versorgung der unzähligen
       Verwundeten und Kranken]. „Gazas Krankenhäuser sind voller Patienten mit
       abgerissenen Gliedmaßen und anderen lebensverändernden, traumatischen
       Verletzungen, durch Angriffe hervorgerufen, sowie verzweifelten Menschen
       auf der Suche nach den Leichen ihrer Angehörigen“, berichtet das
       medizinische Hilfswerk Ärzte ohne Grenzen.
       
       ## Schutzlos der Kälte ausgeliefert
       
       Besonders kritisch, darauf weisen alle Hilfswerke hin, ist die Lage in der
       Nordhälfte des Gazastreifens, der seit Oktober 2024 von Israels Armee
       komplett abgeriegelt ist und wo israelische Luftangriffe so gut wie alle
       Gebäude dem Erdboden gleichgemacht haben, auch in Gaza-Stadt. Seit über
       zwei Monaten sind hier fast keine Nahrungsmittel eingetroffen und die
       verbleibenden Menschen dort sind im Regen und der Winterkälte völlig
       schutzlos.
       
       Der Süden des Gazastreifens mit den Städten Chan Junis und Rafah ist vom
       Nordteil durch den Netzarim-Korridor getrennt, den Israels Armee mitten
       durch die Trümmer ans Mittelmeer geschlagen hat und der auch nach
       Inkrafttreten der Waffenruhe als militärische Hauptverkehrsader dient. Hier
       werden Menschen und Waren auf dem Weg von Süd nach Nord bislang
       aufgehalten. Nach geltenden Zeitplänen soll sich Israels Armee noch diese
       Woche aus dem Norden des Gazastreifens zurückziehen und bis 10. Februar aus
       dem Netzarim-Korridor. Der Korridor soll aber bestehen bleiben, unter
       Kontrolle noch nicht klar benannter Sicherheitskräfte.
       
       All dies gehört zur sogenannten Stabilisierungsphase, die bis 1. März
       dauert, also die Zeit der derzeit auf sechs Wochen begrenzten Waffenruhe.
       Hier geht es erst mal nur ums unmittelbare Überleben. Weitergehende
       Beratungen über Wiederaufbau und einen politischen Prozess, der die
       zukünftige Kontrolle des Gazastreifens und das Ende der israelischen
       Blockade klärt, sind ab März vorgesehen, parallel zu und abhängig von der
       Freilassung der restlichen von der Hamas gehaltenen israelischen Geiseln.
       Diese Phase dauert weitere sechs Wochen, bis etwa Mitte April. Frühestens
       könnte zu Ostern 2025 also wieder ein Hauch von Normalität in Gaza in Sicht
       sein.
       
       20 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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