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       # taz.de -- Behördenversagen in Großbritannien: Morde als Politikum
       
       > Premierminister Keir Starmer kündigt öffentliche Untersuchung von
       > möglichem Behördenversagen im Zusammenhang mit den Messermorden von
       > Southport an.
       
   IMG Bild: Premierminister Keir Starmer gestikuliert bei seiner Pressekonferenz am Dienstag in seinem Londoner Amtssitz
       
       London taz | „Kein Stein wird unaufgedeckt bleiben!“ Dies versprach am
       Dienstagmorgen der britische Premierminister Keir Starmer in einer
       außerordentlichen Ansprache vor versammelter Presse. Sie bezog sich auf die
       am Montag verkündete öffentlichen Untersuchung zum Messerangriff des
       18-jährigen Axel Rudakubana am 29. Juli letzten Jahres, wenige Wochen nach
       Labours Wahlsieg.
       
       Dabei waren in der nordwestenglischen Stadt Southport drei Mädchen getötet
       und zehn weitere Personen verwundet worden. [1][Das Massaker hatte
       verbreitete Unruhen mit Übergriffen rechtsextremer Mobs gegen Migranten und
       Flüchtlinge nach sich gezogen.]
       
       Bei der Untersuchung werde es, so Innenministerin Yvette Cooper, um die
       Frage gehen, wieso Rudakubana sich in eine so gefährliche Person
       verwandelte und wieso das staatliche Antiradikalisierungsprogramm Prevent,
       das terroristische Gefährder frühzeitig erkennen und gezielte Maßnahmen
       gegen sie ermöglichen soll, den ruandischstämmigen Jugendlichen trotz
       dreimaliger Hinweise durch andere Behörden ignorierte.
       
       Extrem gewalttätige Einzelpersonen, die keiner Gruppe angeschlossen seien,
       stellten eine neue Art der Gefahr zusätzlich zum organisierten Terrorismus
       dar, sagte Starmer, vor seiner politischen Karriere britischer
       Generalstaatsanwalt. Änderungen in den Antiterrorgesetzen schließe er
       deswegen nicht aus.
       
       ## Stamer: Isolierte Einzeltäter statt Terrornetzwerke
       
       Starmer bemängelte auch gesellschaftliche Veränderungen, die es Menschen
       ermögliche, Parallelexistenzen zu führen. Isolierte Einzeltäter „in ihren
       Schlafzimmern“ seien an die Stelle von Terrornetzwerken wie al-Qaida
       getreten, ähnlich wie bereits in den USA. Der Staat reagiere zudem immer
       nur auf Kampagnen oder tragische Ereignisse. Die Untersuchung solle
       hierunter einen Schlussstrich ziehen und zu Veränderungen führen, sagte er.
       
       Am Montag hatte [2][der Prozess gegen Rudakubana] begonnen. Es dürfte
       schnell gehen: Der 18-Jährige bekannte sich schuldig, das Urteil wird für
       Donnerstag erwartet. Rudakubana ist im walisischen Cardiff geboren und
       lebte zuletzt mit seinen aus Ruanda eingewanderten Eltern in Southport. Von
       Gewalt angezogen, baute er sich ein Wissen über historische Genozide auf.
       
       Womöglich steht am Ursprung dieser Faszination der Familienhintergrund.
       Rudakubanas Vater Alphonse soll in der Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische
       Patriotische Front) gedient haben, die 1994 gegen die damals Völkermord an
       Tutsi betreibenden ruandischen Regierungstruppen und Hutu-Milizen kämpfte
       und schließlich siegte; RPF-Präsident Paul Kagame regiert Ruanda bis heute.
       
       Entgegen der anfangs von Rechtsextremisten gestreuten Gerüchte, dass es
       sich beim Täter von Southport um einen muslimischen Asylbewerber handele,
       sind beide seine Eltern stark christlichen Glaubens. Zunehmend
       zurückgezogen lebend, wurde Rudakubana, nachdem er einmal ein Messer in
       seine Schule mitgenommen hatte, aus seiner Schule geworfen.
       
       ## Rechte werfen der Regierung Vertuschung vor
       
       Ein andermal soll er versucht haben, mit einem Baseballschläger Schüler und
       Lehrer zu bedrohen, und er war wegen Gewalt gegen einen Mitschüler
       vorbestraft. Er war außerdem im Besitz eines Al-Qaida-Handbuches und soll
       versucht haben, die Biowaffe Rizin herzustellen.
       
       Seit Letzteres bekannt wurde, werfen rechte Kreise der Labour-Regierung
       Vertuschung vor. Kritik auch seitens der oppositionellen Konservativen gibt
       es weiterhin daran, dass die offensichtlich mangelhafte
       Antiterrorüberwachung Rudakubanas zunächst von den Behörden verschwiegen
       wurde.
       
       Keir Starmer bestätigte jetzt, er habe das alles gewusst, aber bewusst
       nicht öffentlich erwähnt – um das laufende Verfahren nicht zu gefährden,
       wie er jetzt zur Rechtfertigung sagte. Die Opposition hält diese
       Rechtfertigung für unglaubwürdig.
       
       21 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-Messerangriff-in-Grossbritannien/!6024233
   DIR [2] /Prozess-zum-Messerangriff-in-England/!6042810
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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