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       # taz.de -- Völkermord in Südwestafrika: Die Ethik des Vergleichs
       
       > Wie können der Holocaust und der Genozid an Ovaherero und Nama verglichen
       > werden? Am besten gar nicht, meint Berlin. In Namibia hört man anderes.
       
   IMG Bild: Gedenktafeln der Halbinsel Shark Island am Stadtrand von Lüderitz im Süden Namibias erinnern an deutsche Schutztruppen
       
       Wie vergleichen – und mit welcher Absicht? Roman Grynberg musste über die
       Antwort nicht lange nachdenken. Der Wirtschaftsprofessor in Namibia, von
       Geburt polnisch-jüdisch, verfasste einen wütenden Zeitungsartikel, nachdem
       er [1][Shark Island] besucht hatte, von 1905 bis 1907 ein deutsches KZ für
       Ovaherero und Nama. Dass an diesem Ort des Genozids Kolonialpioniere geehrt
       werden, sei etwa so, als ob in Treblinka ein SS-Monument stünde. In
       Treblinka wurde ein großer Teil seiner Familie ausgelöscht.
       
       Als ich in Namibia über Erinnerung und Trauma recherchierte (mehr in der
       aktuellen Le Monde diplomatique), verabredeten wir uns. Durch die
       Fensterscheibe des Windhoeker Cafés sah ich ihn kommen: schwarzes T-Shirt,
       Khaki-Shorts, spiegelnde Sonnenbrille, Glatze, Ohrringe, eine Silberkette
       um den Hals und Oberarme, die das Fitnesscenter verrieten. Ein Typ, mit dem
       sich niemand anlegt, obwohl er 70 ist. Das war gewollt, aber es hatte eine
       Kehrseite. „Ich sehe aus wie ein Bure. Deshalb laden die Weißen bei mir
       ihren rassistischen Bullshit ab.“
       
       Grynberg verließ Polen als Kind, wuchs im australischen Melbourne auf, in
       einer Gemeinde von Holocaust-Überlebenden, von denen er oft hörte: „You
       have to pay a bill!“, die Rechnung dafür, überlebt zu haben. Grynbergs
       Kommentar: „Ich bezahle meine Rechnung statt an die Juden lieber an die
       Menschheit.“ Er kehrte Australien den Rücken, um nicht zum Militär für den
       Vietnamkrieg eingezogen zu werden, unterrichtete später an diversen
       Universitäten im globalen Süden, adoptierte sechs Schwarze Kinder.
       
       „Ich bin so nicht-rassistisch, wie es einer weißen Person möglich ist.“
       Verheiratet ist er mit einer Nama; eine Ehe zwischen den Nachfahren zweier
       deutscher Genozide. Mit seiner radikalen, schnoddrigen Empathie ist
       [2][Grynberg] ein exzentrischer Einzelfall, doch lassen sich Fäden spinnen
       zu anderen Episoden jüdischer Geschichte in Namibia. Nach der
       Kolonie-Gründung 1884 zog es bald auch jüdische Siedler und Investoren nach
       Deutsch-Südwest.
       
       ## Jüdische Täter und Opfer
       
       Emil Rathenau, Vater des späteren Außenministers, gründete die erste
       koloniale Minengesellschaft. Die Unternehmen der Nachfahren von Harold
       Pupkewitz, in Litauen geboren, sind noch heute in Namibia vertreten. Als
       die Kolonie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg unter die Herrschaft
       Südafrikas kam, siedelten Juden und Jüdinnen aus Kapstadt dorthin über. Die
       Blütezeit der Community fiel, so schwer das zu verstehen sein mag, mit der
       Apartheid-Ära in Namibia zusammen.
       
       In Swakopmund erinnert die „[3][Sam Cohen Library]“ an einen bekannten
       Industriellen und Mäzen. Zugleich sieht man auf dem dortigen Friedhof die
       Narben des Antisemitismus in der deutsch-burischen Siedlergesellschaft.
       Juden wurden in einem separaten Sektor bestattet; der Abstand zu den
       Marmorgräbern der christlichen Kaufmannschaft ist allerdings deutlich
       geringer als zu jenem Totenfeld, wo Schwarze Opfer von Genozid und
       Zwangsarbeit verscharrt sind.
       
       Der historischen Komplexität ist nicht zu entrinnen. Joseph Bendix war der
       älteste Sohn einer angesehenen jüdischen Familie in Dülmen. Als Offizier
       der Schutztruppe nahm er an Krieg und Genozid teil und fiel in den Kämpfen.
       Ein Heldentod, so steht es auf einem Dülmener Kriegerdenkmal. Eine
       Generation später wurden zahlreiche Mitglieder der Familie Bendix im
       Holocaust ermordet. Andere flohen nach Südafrika und erwarben später Land
       im Apartheid-Namibia.
       
       Der Faden dieser Erzählung verlängert sich in die Gegenwart: Der
       Kolonialismusforscher Daniel Bendix, Nachfahre eines zum Christentum
       konvertierten Zweigs der Dülmener, hat sich der widersprüchlichen
       familiären Verflechtungen in einer Graphic Novel angenommen.
       
       Auf einer Farm lässt er die beiden Genozide aufeinandertreffen: Die Tochter
       des wohlhabenden weißen Farmbesitzers, der seine jüdische Abstammung
       verdrängt hat, und der Nama-Farmarbeiter entdecken, was das Leid ihrer
       Vorfahren verbindet, während sie selbst sich sozial in so krass
       unterschiedlicher Lage befinden – denn die genozidale Enteignung wurde nie
       repariert. Erinnern muss Gerechtigkeit bedeuten, so die Schlussfolgerung in
       Bendix’ „Tracking Trauma.
       
       ## Ungeschriebenes Kapitel in der Erinnerungskultur
       
       German Genocides at Home and Abroad“, erschienen im Comic-Band
       „[4][Episodes from a Colonial Present]“ und gezeichnet vom namibischen
       Künstler Hangula Werner. Lehrer:innen mögen es sich ansehen. In Dülmen
       gibt es, neben der Heldentod-Erwähnung, nun auch Stolpersteine für die im
       Holocaust getöteten Bendix, während der [5][Genozid an Ovaherero und Nama]
       in der Erinnerungskultur ein ungeschriebenes Kapitel bleibt.
       
       Gerade protestieren die Opferverbände in Namibia erneut, weil [6][die
       Bundesregierung sich weigert, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln].
       Vielleicht hätte es geholfen, wenn sich einmal eine hochrangige jüdische
       Delegation aus Deutschland auf den Weg nach Namibia gemacht hätte, um
       Ovaherero und Nama mit den Worten „Wir verstehen euren Schmerz“ zur Seite
       zu stehen.
       
       Jüdische US-Einrichtungen luden die Nama-Sprecherin [7][Sima Luipert] ein.
       „Nama und Ovaherero haben sich immer mit dem jüdischen Volk verbunden
       gefühlt“, sagt Luipert, doch werde die Sichtweise, den Holocaust für
       unvergleichbar zu halten, nicht akzeptiert. In Keetmanshoop, einem Ort im
       Nama-Gebiet, fragt die Leiterin des Regionalmuseums, warum die Deutschen
       sich in ihren Bildungsprogrammen nicht zum Genozid bekennen – „wie sie es
       gegenüber Juden so gut gemacht haben“.
       
       Die Ethik des Vergleichs ist ein schwieriges Terrain. Doch kann als
       Richtschnur dienen: Vergleiche gelingen dann, wenn sie von einer Haltung
       der Solidarität mit allen betroffenen Opfern motiviert sind. Die
       Unterschiede zwischen Verbrechen, auch zwischen Genoziden, werden dadurch
       nicht nivelliert.
       
       22 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=ny6isCC2SxQ
   DIR [2] https://www.researchgate.net/profile/Roman-Grynberg
   DIR [3] https://sciswk.com/sam-cohen-library/
   DIR [4] https://www.mangoes-and-bullets.org/episodes-from-a-colonial-present/
   DIR [5] /Schwerpunkt-Voelkermord-an-den-Herero-und-Nama/!t5012219
   DIR [6] /Deutsche-Kolonialvergangenheit/!6012790
   DIR [7] https://www.adk.de/de/projekte/2018/koloniales-erbe/symposium-V/teilnehmer/sima_luipert.htm
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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