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       # taz.de -- Historischer Roman von Ulla Lenze: Folgekosten der Moderne
       
       > Ein Sanatorium ist zentraler Ort von „Das Wohlbefinden“. Drumherum hat
       > Autorin Ulla Lenze ein Gesellschaftspanorama mit langem Zeitstrahl
       > entwickelt.
       
   IMG Bild: Ein historische Postkartenansicht des Sanatoriums „Beelitzer Heilstätten“ von 1928
       
       Berlin taz | Drei Erzählstränge verknüpft Ulla Lenze in ihrem Roman „Das
       Wohlbefinden“: Im Jahr 2022 fliegt Vanessa aus ihrer Wohnung in
       Berlin-Wedding – und gerät auf der Wohnungssuche bis ins Brandenburgische
       Beelitz und dort über ihren Makler auf die Lebensspur ihrer toten
       Großmutter, der Schriftstellerin Johanna Schellmann.
       
       Die ist im zweiten Strang 1967 schon eine alte Dame, hadert mit einer
       Besprechung von Dr. Angelika Röttel in der FAZ, deren „grausamste Sätze“
       lauten: „1. Johanna Schellmann war zwar eine erfolgreiche Frau, aber
       dadurch noch lange keine Feministin. 2. Das Herz auf der Zunge hatte
       Schellmann durchaus, aber das macht noch keine große Literatur.“ Grund
       genug, im Westberlin der Studentenunruhen sich und der Welt noch einmal das
       Gegenteil zu beweisen.
       
       Die Entfesselung von Johannas literarischer Kreativität geht zurück auf das
       Jahr 1908. In diesem dritten und umfangreichsten Strang empfiehlt Clemens,
       Johannas ehrgeiziger und fortschrittsgläubiger Gatte, ihr die Heilstätten
       in Beelitz als Inspirationsquelle. Bei einem Besuch dort begegnet Johanna
       der charismatischen Patientin Anna Brenner.
       
       ## Hellseherische Fähigkeiten
       
       Das Dienstmädchen verfügt angeblich über hellseherische Fähigkeiten, wird
       vom behandelnden Arzt auch als „Medium“ benutzt und nach München zum
       berühmten Okkultisten Albert von Schrenck-Notzing vermittelt. Auch Johanna
       ist fasziniert von Anna, nimmt sie als Gast bei sich auf, riskiert darüber
       fast ihre Ehe und schreibt mit Annas Hilfe ihr rückblickend bestes und
       erfolgreichstes Buch über ihr eigenes Frauenleben.
       
       Schon in ihrem letzten [1][Roman „Der Empfänger“] (2020) hat sich Ulla
       Lenze das Genre des historischen Romans über einen Antihelden und
       verschiedene Zeitebenen erschlossen. Damals war es der in die USA
       ausgewanderte deutsche Amateurfunker Josef Klein, der sich im New York der
       1930er von den Nazis als Spion einspannen lässt und später in Argentinien
       und Costa Rica seine Mitläuferschaft reflektiert.
       
       Auch ihre jüngste Protagonistin Johanna Schellmann bleibt bis zum Schluss
       ein ambivalenter Charakter: Einerseits ist sie als Tochter aus wohlhabendem
       Bürgerhaus ausgestattet mit zahlreichen Privilegien wie dem, ihre
       Mutterrolle an Kindermädchen und Gouvernanten delegieren zu können.
       
       ## Raus aus dem Gesellschaftskorsett
       
       Andererseits versucht sie aber auch, aus dem gesellschaftlichen Korsett
       auszubrechen, zunächst durch die Liebesheirat mit Clemens, der ein seltener
       Aufsteiger aus der Arbeiterklasse ist, dann durch ihr eigenes Schreiben.
       Und hier beginnt die Verehrung und Verstrickung mit der frommen, kaum
       gebildeten Anna, die Johanna inspiriert – und die sie doch verraten wird.
       
       Emanzipation und die Klassengesellschaft im Kaiserreich spielten auch für
       die Beelitzer Heilstätten eine Rolle; hier wurde bereits im 19. Jahrhundert
       eine Art Kurort für die Arbeiterklasse errichtet, um die verheerenden
       physischen und seelischen Folgen der Industrialisierung sowie der
       pausenlosen Verfügbarkeit der Arbeiter:innen abzufedern – vielleicht
       aber auch nur, um ihre Arbeitsfähigkeit zu verlängern.
       
       Dass zur selben Zeit auch im Bürgertum das Interesse an Körperkultur und
       Reformideen bis hin zu esoterischen Praktiken wuchs, zählt ebenfalls zu
       den Schadensbegrenzungen und Folgekosten der entfesselten Moderne, die bis
       in die Gegenwart reichen. Und nicht nur die Arbeiter emanzipierten sich,
       auch wohlhabenden Bürgerinnen interessierten sich plötzlich für ihre
       Freiheit und die „Frauenfrage“.
       
       ## Spannungspotenzial nicht ausgeschöpft
       
       [2][Doch so vielschichtig die sozial- und kulturgeschichtlichen
       Hintergründe auch sind und von Ulla Lenze in den Stoff mit eingewoben
       werden], „Das Wohlbefinden“ schöpft sein Spannungspotenzial nicht voll aus.
       Sowohl Vanessas Wohnungssuche als auch das langsame Wegdämmern der greisen
       Johanna in die Demenz sind eher antiklimaktisch angelegt; und wenn Vanessa
       mit einer Achtsamkeitsapp meditiert, wirkt das wie eine allzu konstruierte
       Parallele zur wilhelminischen Esoterik.
       
       Thrillermaterial findet sich noch am ehesten in der Konstellation
       bürgerliche Schriftstellerin versus Medium aus der Arbeiterklasse. Beide
       haben Vorbilder in der Geschichte, wie das Quellenverzeichnis am Ende des
       Buches offenlegt: Während Anna der Spiritistin Anna Rothe nachempfunden
       ist, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen Betrugs zu zehn Monaten
       Gefängnis verurteilt wurde, hat Lenze bei Johanna das Schreiben aus
       bürgerlich-weiblicher Perspektive interessiert, wie es etwa Gabriele Reuter
       zur selben Zeit praktizierte.
       
       Allerdings sind beide Figuren erzählperspektivisch nicht gleichberechtigt.
       Während Johanna ihre Beziehungen fühlt und reflektiert, sei es die kaum
       vorhandene zu ihren Kindern, die angespannte zum Dienstpersonal oder die
       zunehmend krisenhafte mit Clemens, bleibt die alleinstehende Anna vor allem
       Gegenstand der Betrachtung, durch die Ärzte oder Johanna. Und sie lässt
       sich da kaum in die Karten gucken.
       
       Nur einmal macht Lenze eine Ausnahme und erzählt die Reise nach München aus
       Annas Perspektive. Die großbürgerlich-bohemehafte Séance bei
       Schrenck-Notzing, in der ein lesbisches Paar als erotischer Leckerbissen
       auftritt und in die nun auch Anna eingebaut wird, erlebt sie als großes
       Theater – und implizit als Chance, endgültig der Dienstbotenzwangsarbeit zu
       entkommen, für einmal Subjekt ihres eigenen Lebens zu werden.
       
       Gelingt das auch Johanna, deren Ausgangsposition ungleich privilegierter
       ist? Wieso weist sie Annas Bitte zurück, Johanna möge ihr Leben
       aufschreiben? Dr. Angelika Röttel liegt, was Johannas Feminismus angeht,
       wohl nicht ganz falsch. Leider trifft ihr zweiter Punkt auch ein wenig auf
       „Das Wohlbefinden“ zu, obwohl Ulla Lenze eher das Hirn auf der Zunge trägt.
       Wohl deshalb klingt die eigentlich unprätentiöse, kühl-melancholische
       Erzählerin hier manchmal fast ein wenig hölzern, auch wenn so viele Themen
       in ihrem Stoff stecken, und so anspruchsvoll sie auf drei Zeitebenen
       verteilt und reflektiert werden.
       
       6 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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