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       # taz.de -- Geflüchtete auf Sizilien: Eine Stadt macht sich auf
       
       > Eine sizilianische Kleinstadt ist besonders erfolgreich bei der
       > Integration von Geflücheten – obwohl dort die rechte Fratelli d’Italia
       > regiert.
       
   IMG Bild: Hinter dicken alten Mauern: Stadtzentrum von Piazza Armerina
       
       Piazza Armerina taz | Laute Musik schallt durch die geöffnete Glastür des
       Friseursalons, hinaus in die [1][sizilianische] Kleinstadt Piazza Armerina.
       Nebenan meint man bei genauem Hinsehen das verstaubte Fensterglas der mit
       „Zu verkaufen“-Schildern versehenen Altstadtfassaden vom Bass vibrieren zu
       sehen. Hinter den frisch geputzten Scheiben des Gebäudes mit der Nummer 21
       schwingt der Ladenbesitzer, Israel Assien, in schwarzer Jogginghose und
       caramelfarbenem Polohemd seinen Besen über den gefliesten Boden. Auf einem
       Bildschirm an der Decke läuft ein Musikvideo à la Afrobeat. Gerade noch so
       hört man die Ladenklingel. Ein Bekannter des 24-jährigen Friseurs braucht
       einen neuen Haarschnitt. „Du kannst gleich dableiben“, sagt Assien und
       weist mit lässiger Geste in Richtung des einzigen Friseurstuhls im Raum.
       
       „Ich bin der einzige schwarze Typ mit einem Laden hier“, sagt Assien, als
       der frisch Frisierte wieder aus der Tür raus ist. Im Juni 2023 hat der
       junge Nigerianer aus Edo State seinen Laden eröffnet. Noch vor ein paar
       Jahren wäre das in der Kleinstadt im Landesinneren von Sizilien schwer
       vorstellbar gewesen. „Piazza Armerina liegt nicht etwa am Meer, es ist eine
       Enklave im Landesinneren“, erklärt Gaspare Di Stefano. Dort gehörten
       Migrant*innen, generell Menschen von außerhalb, viel weniger zum Stadtbild,
       sagt der Psychologe, der seit fünf Jahren in einem
       Berufsintegrationszentrum arbeitet, das [2][Migranten bei der Arbeitssuche
       unterstützt].
       
       Vor zehn Jahren hat in Piazza Armerina, einer konservativ-katholischen
       Stadt, mit malerisch ansteigenden Gassen und einer imposanten Kathedrale,
       eine langsame Entwicklung begonnen. Seit 2011 gibt es ein Aufnahmezentrum
       für Geflüchtete und Asylbewerber in der Kleinstadt, das von der Vereinigung
       Don Bosco 2000 geleitet wird. Dank des unermüdlichen Einsatzes der 17
       Mitarbeiter erhalten fast alle Menschen, die dort seither aufgenommen
       werden, eine Aufenthaltsgenehmigung. Laut den Verantwortlichen gab es seit
       Bestehen nur einen Fall, bei dem eine Person in Abschiebehaft musste.
       
       Das hat Auswirkungen auf die Stadtbevölkerung. Der Ausländeranteil der
       20.000-Einwohner-Stadt liegt heute bei rund 5 Prozent. Laut einem Bericht
       des Italienischen Statistikamts (Istat) von 2023 kommen 1.130 Menschen aus
       dem Ausland, 937 davon aus außereuropäischen Ländern – von ihnen sind 40
       Prozent Frauen.
       
       Allein an Israel Assiens Kunden zeigt sich, dass die Stadt sich geöffnet
       hat. Unter anderem Nigerianer, Gambier und Italiener geben sich hier die
       Klinke in die Hand. Vor Assiens Geschäft mischen sich Sprachfetzen aus
       aller Herren Länder. Nigerianer sind in Piazza Armerina die zweitgrößte
       ausländische Gemeinschaft mit 107 Zugehörigen, an erster Stelle stehen
       Somalier mit 155 und die dritte Gruppe bilden Marokkaner mit 72 Menschen.
       Das Stadtbild des mittelalterlich geprägten Ortes, seit 1817 Bischofssitz
       mit Klöstern diverser Ordensgemeinschaften, ist nicht mehr
       wiederzuerkennen: Auf den öffentlichen Plätzen sitzen nicht mehr nur ältere
       italienische Herren auf ihren Bänken, sondern gleich nebenan junge Menschen
       von überall her.
       
       ## Eine Chance für die Region
       
       Für Piazza Armerina und die gesamte Region Sizilien ist diese Entwicklung
       eine Chance. Der Mittelmeerinsel, die heute eine Bevölkerungszahl von 4,7
       Millionen Menschen hat, droht bis zum Jahr 2050 ein Bevölkerungsrückgang
       auf 3,5 Millionen Einwohner:innen. Vor allem junge Menschen ziehen vom
       Süden [3][Italiens] weg in Richtung Norden.
       
       Die Provinz Enna, zu der auch Piazza Armerina gehört, ist von Abwanderung
       besonders betroffen. Allein in den vergangenen vier Jahren ist die
       Bevölkerungszahl in der Provinz um 7.000 Einwohner:innen gesunken.
       „Durch Abwanderung und eine niedrige Geburtenrate wird die Region sich
       immer mehr entvölkern, Boden wird nicht mehr kultiviert und sich selbst
       überlassen. Migration ist eine Chance, weil Migranten die Gebiete
       übernehmen und beleben können“, sagt di Stefano.
       
       Samantha Barresi, Zentrumskoordinatorin bei Don Bosco 2000, teilt die
       Ansicht des Psychologen: „Durch Migration findet eine Wiederbevölkerung
       statt. Wenn Häuser im historischen Zentrum, die lange leer standen,
       angemietet werden, Exilanten in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft
       arbeiten, ist das offensichtlich ein positiver Trend.“ Für die
       Koordinatorin mache das auch den Unterschied zu anderen Kommunen aus: „In
       Piazza Armerina gibt es viele Geflüchtete, die bleiben und hier arbeiten.“
       
       In Assiens Haarsalon geht wieder die Ladenklingel. Edith Onome,
       Verantwortliche für die berufliche Integration bei Don Bosco 2000 und
       Assiens engste Vertraute, stattet ihrem Schützling einen Besuch ab. „Mama“,
       sagt Assien bei der Begrüßung, und seine eben noch müden Augen werden wach.
       
       Die 45-jährige Nigerianerin, die mindestens einen Kopf kleiner ist, lacht
       und verdreht kurz ihre freundlichen Augen hinter den runden Brillengläsern.
       Später in ihrem Büro in den Räumlichkeiten der Vereinigung im Stadtzentrum
       sagt sie über ihre Rolle als wichtigste Vertrauensperson, die sie für viele
       der jungen Migranten übernommen hat: „Ich sage ihnen immer, sie sollen mich
       Edith nennen, nicht Mama. Aber in Afrika ist das auch ein Zeichen des
       Respekts gegenüber Älteren.“ Ihr 18-jähriger Sohn, der anders als sie in
       Italien aufgewachsen ist, sei darüber jedenfalls wenig erfreut.
       
       Im Jahr 2019 kam Israel Assien ins Zentrum von Don Bosco 2000 und wurde von
       Edith direkt unter ihre Fittiche genommen. Als Ansprechpartnerin für
       allerlei Sorgen hilft sie nicht nur bei der Arbeitssuche und bürokratischen
       Anliegen. Assien erinnert sich: „Wenn ich daran dachte, was mir passiert
       ist, fühlte ich mich einsam und traurig. Ich war plötzlich wütend, ohne
       jeden Grund. Edith ist die Einzige, die mich beruhigen konnte.“
       
       Über seine Vergangenheit spricht der auf den ersten Blick schüchterne
       Friseur wenig. Obwohl er mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung hat, ist
       er bislang noch nicht nach Nigeria zurückgereist. „Er hat in seiner Heimat
       sein Leben riskiert“, verrät Onome, die mit Assien abwechselnd auf
       Englisch, Italienisch und in Pidgin spricht. Ein Besuch bei der Psychologin
       des Zentrums habe ihm geholfen, die traumatischen Erlebnisse in seiner
       Heimat und auf dem Weg über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu
       verarbeiten. „Am Anfang wollte er nicht hingehen, keiner will das. In
       Afrika glauben wir nicht daran. Sie sagen: Ich brauche das nicht. Aber
       schon nach dem ersten Termin dort rief Israel mich an und meinte: Wann
       gehen wir wieder in die Therapie?“, erzählt Onome und lacht bei der
       Erinnerung an seinen Anruf laut, und ihr Zopf fliegt durch die Luft. Jetzt
       lacht auch Assien – heute geht das wieder.
       
       Onome schätzt, dass von 95 Zentrumsbewohnern etwa 40 eine Therapie
       benötigen, ein Jahr wird dafür angesetzt. „Stress, Trauma, Gewalt, in ihrer
       Heimat und auf der Reise, und keine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu
       sprechen. Für einen jungen Menschen ist es nicht leicht, durch so eine
       Hölle zu gehen“, sagt sie. Onome erzählt von einem aktuellen Fall: Ein
       junger Zentrumsbewohner aus Bangladesch, der seit drei Tagen nicht schläft
       und nachts durch die Gänge geht, „weil er immer, wenn er die Augen
       schließt, vor sich sieht, was er auf der Reise erlebt hat“. So etwas wie
       eine Art Alltag wiederzufinden braucht seine Zeit.
       
       Neben einer psychologischen Betreuung, falls diese notwendig ist, findet im
       Zentrum von Don Bosco 2000 vom ersten Tag an drei Monate lang täglich ein
       Sprachkurs statt, der dann an einer öffentlichen Schule weitergeht.
       Mindestens genauso wichtig: Schnell wird nach einem Praktikum oder einer
       Arbeit für die Neuen gesucht. Im zurückliegenden Jahr wurden im Zentrum 65
       Arbeits- und 17 Praktikumsverträge unterzeichnet.
       
       Für eine Aufenthaltsgenehmigung sei das wesentlich, sagt Giuseppe
       Birritella, Jurist bei Don Bosco 2000. „Die meisten jungen Menschen
       erhalten ihre Papiere erst, nachdem sie in Berufung gegangen sind, weil die
       erste Kommission ihnen keinen Schutz anerkannt hat, zum Beispiel, weil sie
       aus Ländern kommen, die als,sicher' angesehen werden. In der Zwischenzeit
       versuchen wir einen Arbeitsvertrag vorzulegen, sodass wir nachweisen
       können, dass der Integrationsprozess bereits in vollem Gange ist. Das
       funktioniert fast immer“, so der Jurist. Seine Arbeit wurde allerdings
       durch ein Dekret [4][der rechtsextremen Regierung von Giorgia Meloni] im
       Mai 2023 um einiges erschwert, weil die Zeitspanne, in der Geflüchtete in
       Berufung gehen können, von 30 auf 15 Tage halbiert wurde.
       
       Eine solch umfängliche Begleitung für Geflüchtete auf juristischer,
       psychologischer, beruflicher und bürokratischer Ebene wie im
       Aufnahmezentrum von Piazza Armerina ist in Italien nicht der Normalfall.
       Weil die Vereinigung, die sieben Aufnahmezentren auf Sizilien leitet und
       120 Mitarbeitende hat – 40 davon aus dem Ausland – mehrere wirtschaftliche
       Standbeine hat, ist das hier möglich. Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten
       des Sozialunternehmens, das seinen Namen dem Heiligen Don Bosco gewidmet
       hat, gehören ein solidarisches Hotel in Catania, das ausschließlich von
       Exilanten geführt wird, eine Kulturbar und ein Geschäft, das Kleidung mit
       afrikanischen Motiven verkauft. Die Gewinne werden unter anderem dazu
       verwendet, jedem Geflüchteten die gleiche Betreuung zu garantieren.
       
       Offiziell beherbergt Don Bosco 2000 zwei Zentren in einer Einrichtung: das
       Erstaufnahmezentrum CAS, für das pro Tag und Person 26 Euro von den
       Behörden gezahlt werden, und das Integrationszentrum SAI, das mit 35 Euro
       pro Tag und Person subventioniert wird. „Das CAS-Geld reicht gerade mal
       dafür, um den Menschen Essen und Trinken zu geben“, so Agostino Sella. Er
       ist Salesianer und hat gemeinsam mit seiner Frau Cinzia Vela das Zentrum
       gegründet. Beide legen Wert darauf, trotz der unterschiedlich hohen
       Subventionen für alle Geflüchteten gleich viel Mittel bereitzustellen.
       
       Diese Philosophie läuft der Politik zuwider: Schon seit 2018, als die
       extreme Rechte in Italien an die Macht kam, wurden Maßnahmen wie
       Sprachkurse, juristische, berufliche und psychologische Unterstützung vom
       damaligen Innenminister Matteo Salvini für die Erstaufnahmezentren, die
       CAS, abgeschafft. Heute sollen sie als Übergangszentren für einen kurzen
       Aufenthalt dienen, nehmen in der Realität aber immer häufiger Migranten für
       längere Zeiträume auf – obwohl dort keinerlei Integrationsarbeit mehr
       stattfindet. Diese Zentren werden von der Präfektur, der regionalen
       Vertretung der Zentralregierung, verwaltet und haben häufig hohe
       Kapazitäten. Mehrere Hundert Geflüchtete kommen darin unter.
       
       Die sogenannten Aufnahme- und Integrationszentren (SAI), die von den
       Gemeinden verwaltet werden, haben hingegen zum Ziel, Migranten bestmöglich
       bei der Integration zu unterstützen. Aber hierher kommt nur noch, wer
       bereits Aufenthaltspapiere hat.
       
       Die NGO Borderline Europe kritisiert diese Politik in einem Bericht vom
       Dezember 2022: „Die CAS wurden als außerordentliche Aufnahmezentren
       geschaffen, sie sollten also nur in Notfällen genutzt werden, stellen heute
       im Grunde genommen aber das normale, das reguläre Aufnahmesystem dar,
       zumindest in Sizilien.“ Don-Bosco-2000-Gründer Agostino Sella geht noch
       einen Schritt weiter: „Auf diese Weise wird die Integration von
       Flüchtlingen in das Land absichtlich erschwert.“
       
       Die Regierung Meloni verfolgt eine Vielzahl von Maßnahmen mit diesem Ziel,
       darunter eine sehr kostspielige: Statt Integration sollen in Sizilien bis
       2025 vier neue Abschiebezentren gebaut werden, in ganz Italien wird von 9
       bereits bestehenden auf 23 erhöht – abgeschoben wird unter anderem wegen
       bürokratischer Hindernisse und mangelnder Kooperation des Heimatlandes aber
       kaum.
       
       Auf der anderen Seite hat das alternde Italien noch nie so viele Menschen
       mit Arbeitsvisum ins Land geholt wie jetzt – zwischen 2023 und 2025 sind es
       500.000 ausländische Arbeitskräfte. Agostino Sella reagiert darauf mit
       Unverständnis: „Um Wählerstimmen zu gewinnen, wiederholen sie, dass man
       abschieben muss. Auf der anderen Seite aber werden Abkommen mit Tunesien
       geschlossen, um Arbeiter ins Land zu holen, obwohl wir hier schon Leute
       haben, die schon Italienisch sprechen, das Gebiet kennen und ausgebildet
       sind. Es ist absurd.“
       
       Auch auf lokaler Ebene ist in Piazza Armerina wenig Rückhalt zu erwarten.
       Es ist vor allem der Bedarf an Arbeitskräften, der Migranten unentbehrlich
       macht. Sella sagt: „Erst sind die Menschen skeptisch, wenn sie dann aber
       einen Koch in ihrer Küche benötigen und einen afrikanischen Koch finden,
       sagen sie: Gott sei Dank gibt es einen afrikanischen Koch.“
       
       Aus dem Rathaus gibt es wenig Unterstützung für die Initiative, dort stellt
       die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia den Bürgermeister. Der reagiert
       nicht auf Anfragen. Die Mitarbeiter von Don Bosco 2000 sagen, dass eine
       Kooperation häufig schwierig sei.
       
       In einem feindlich gesinnten Umfeld, auf nationaler wie auch auf
       europäischer Ebene, wo die Asylpolitik zuletzt ebenfalls verschärft wurde,
       leistet Don Bosco 2000 also Widerstand. Diejenigen, die in den
       Räumlichkeiten der Vereinigung untergebracht sind, können sich glücklich
       schätzen. Dazu gehört auch Israel Assien. Nach seiner Ankunft im Zentrum
       arbeitete er in verschiedenen Jobs – auch in der Landwirtschaft. „Er ist
       ein guter Arbeiter, das haben die Arbeitgeber gleich gesehen. Später riefen
       sogar welche bei mir an, um zu fragen, wann Israel wiederkomme“, sagt Edith
       Onome, die mit über 30 Arbeitgebern in Piazza Armerina in Kontakt steht und
       von ihrem Netzwerk bei der Arbeitssuche täglich Gebrauch macht.
       
       Weil Israel Assien schon in seiner Heimat und später in Libyen Haare
       schnitt, verschaffte ihm Onome ein Praktikum bei einem Friseur in der
       Stadt. Luca, so heißt Assiens erster Arbeitgeber, ist inzwischen ein guter
       Freund des Nigerianers geworden. Assien vergisst seine Schüchternheit, wenn
       er von ihm spricht. Der Mittvierziger war es auch, der dem jungen
       Nigerianer ans Herz legte, seinen eigenen Laden zu eröffnen. Jetzt schickt
       er ihm regelmäßig Kunden rüber ins Geschäft. „Ohne Edith, Samantha und Luca
       wäre das alles nicht möglich gewesen. Sie haben mir die ganze Zeit
       geholfen“, sagt Assien.
       
       Das Zentrum stellte für seinen Salon einen Fördermittelantrag beim Staat,
       sodass Assien für den Beginn seiner Selbstständigkeit mit 5.000 Euro
       unterstützt wurde. Während der ersten Monate half ihm Don Bosco 2000
       außerdem finanziell, da wohnte er schon nicht mehr im Zentrum, sondern in
       einer eigenen Wohnung in der Innenstadt. Die Hilfe der Vereinigung geht
       auch über die Dauer des Aufenthalts dort hinaus. „Seit zehn Monaten läuft
       das Geschäft“, sagt Assien, lässig an den Türrahmen gelehnt, von wo aus er
       Edith Onome zum Abschied zuwinkt. Die Tage schaue sie mal wieder vorbei,
       sagt sie noch im Gehen. Seinen Laden schließt er heute, wie so oft, erst
       nach 20 Uhr. Ein marokkanischer Bekannter, der für einen Haarschnitt
       zweimal im Monat aus dem 30 Kilometer entfernten Enna nach Piazza Armerina
       fährt, hat noch einen Termin bei ihm.
       
       Nur ein paar Meter weiter füllen sich um dieselbe Zeit die Terrassen der
       wenigen Restaurants der Stadt. In dem Restaurant Pizzeria Pizza & Core
       tragen Servicekräfte unter den Blicken ihres Chefs, Danilo Conti, Pizzen
       nach draußen. Contis Familie betreibt drei Restaurants und einen Club in
       der Stadt. Seit 20 Jahren arbeiten sie auch mit ausländischen
       Arbeitskräften. Für die lokale Wirtschaft würden diese seit zehn Jahren
       eine wichtige Rolle spielen, meint der Restaurantchef und ergänzt: „Ich
       melde mich ungefähr einmal im Monat bei Edith, weil es immer jemanden gibt,
       der von hier weggeht.“
       
       Aktuell sei sein Team zu neunt, die Hälfte des Personals stamme aus dem
       Ausland – alle kamen über Don Bosco 2000. „Viele der jungen Italiener
       wollen weg, nach London oder nach Spanien. Manche wollen den Job auch
       einfach nicht machen“, sagt Conti mit leiser Stimme. Dass viele
       ausländische Arbeitskräfte keine Vorerfahrung im Bereich der Gastronomie
       mitbrächten, sei nicht weiter schlimm. „Wenn du den Willen hast und etwas
       Leidenschaft mitbringst, selbst wenn es nur darum geht, eine Zucchini zu
       schneiden, dann lernst du jeden Tag ein bisschen dazu“, so der italienische
       Inhaber.
       
       Hinter der Theke des Restaurants bearbeitet Saiful seit eineinhalb Jahren
       Pizzaiolo hier, und konzentriert sich auf den Pizzateig. Der 19-Jährige mit
       dem kindlichen Gesicht und dem Oberlippenbart kam als Minderjähriger aus
       Bangladesch nach Sizilien und schließlich ins Zentrum von Don Bosco 2000.
       „Saiful ist mit Leidenschaft und Herz dabei“, meint Conti. Der junge
       Pizzabäcker reicht den Pizzaboden an seinen marokkanischen Kollegen weiter.
       „In meiner Kindheit habe ich viel Zeit mit meiner Mutter in der Küche
       verbracht. Seither habe ich mir gewünscht, Koch zu werden“, sagt Saiful,
       seine Finger versinken in Mehl.
       
       Am nächsten Morgen an ihrem Schreibtisch in den Räumlichkeiten von Don
       Bosco 2000 verrät Edith Onome, wie sie bei der Arbeitssuche vorgeht: „Ich
       setze mich mit der Person zusammen und wir besprechen Wünsche und
       Fähigkeiten, die er oder sie mitbringt.“ Wer aus Bangladesch kommt –
       aktuell die größte Migrantengruppe im Zentrum – sagt sie, will fast immer
       in der Gastronomie arbeiten. So auch Saifuls Mitbewohner Sharif, der in
       seiner Heimat Näher war. In Piazza Armerina arbeitete er zunächst in seinem
       Beruf, wechselte dann aber in eines der Restaurants im historischen Zentrum
       und ließ sich als Koch ausbilden.
       
       Vor acht Monaten haben die beiden Jungs aus Bangladesch Don Bosco 2000
       verlassen, um mit zwei weiteren Landsleuten in ihre erste eigene Wohnung zu
       ziehen. Auch hier hilft die Vereinigung. Trotzdem bleibt die Wohnungssuche
       eine Herausforderung. „Eine Wohnung zu finden, ist sehr, sehr schwierig“,
       sagt Onome und stützt ihren Kopf auf ihre Hände mit den rot lackierten
       Fingernägeln. „Viele haben kein Vertrauen, weil es in der Vergangenheit
       einen Vorfall gab, bei dem afrikanische Mieter aus der Wohnung ausgezogen
       sind, ohne die Miete, Licht und Wasser zu zahlen“, ergänzt sie. Seither
       würden viele Mieter ihre Wohnungen lieber leer stehen lassen, statt an
       Ausländer zu vermieten. Piazza Armerina ist noch weit davon entfernt, frei
       von Rassismus zu sein.
       
       Onome erzählt, dass sie erst vor Kurzem eine ältere Frau angesprochen habe,
       die Frau habe gesagt: Diese jungen Schwarzen, die da nebenan wohnten, die
       halte sie nicht mehr aus. „Ich habe sie angeschaut und gefragt: Signora,
       was meinen Sie, was für eine Hautfarbe ich habe? Sie meinte dann: Aber sie
       sind doch Italienerin, sie sind mit einem Italiener verheiratet. Ich
       antwortete: Signora, ich bin schwarz“, erzählt Onome, und ihr freundliches
       Gesicht mit den offenen Augen verzieht sich vor Wut.
       
       Die Nigerianerin kennt die Schwierigkeiten gut, die Migranten erleben, und
       den Rassismus, dem sie teils ausgesetzt sind: Als sie 1998 mit einem
       Touristenvisum aus Delta State in Nigeria nach Piazza Armerina kam, war sie
       „die erste Afrikanerin in der Stadt“, wie sie sagt. „Schlimm, brutal“ sind
       die Worte, die ihr in den Sinn kommen, wenn sie sich daran erinnert. Sie
       sei nur auf die Arbeit und wieder nach Hause gegangen, um die ständigen
       „wenig wohlwollenden“ Blicke zu vermeiden. Seit sieben, acht Jahren,
       schätzt sie, seien Ausländer auf den Straßen mehr zur Normalität geworden.
       „Aber wir arbeiten weiter dran“, sagt sie.
       
       Keine fünf Sekunden später klopft es an ihrer Bürotür: Isaka, aus einer
       Region im Norden von Burkina Faso stammend, in der es immer wieder Angriffe
       von Dschihadisten gibt, schiebt seine Nase durch die einen Spalt geöffnete
       Tür. Er hat einen Termin mit Onome, die ihn bittet, hereinzukommen.
       Sichtlich angespannt bleibt der knapp 20-Jährige im Raum stehen, abwartend.
       „Heute kam die Bestätigung deiner Aufenthaltsgenehmigung – für fünf
       Jahre“, lässt Onome ihn nicht lange warten. Da sackt Isaka in sich
       zusammen, als würde man Luft aus einem Ballon lassen, und wirft ungläubig
       die Hände vors Gesicht. Dann fällt er Edith Onome und ihren Kollegen in die
       Arme.
       
       10 Jan 2025
       
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