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       # taz.de -- Briefe Hubert Fichtes und Peter Ladiges': Eine ethnopoetische Freundschaft
       
       > Vom Schriftsteller Hubert Fichte und dem Hörspielregisseur Peter Michel
       > Ladiges sind unveröffentlichte Briefe erschienen. Sie erhellen ihre
       > Beziehung.
       
   IMG Bild: Am Strand: Hubert Fichte (r.), Peter Michel Ladiges und die Fotografin Leonore Mau als Schatten
       
       Januar 1977. Großer Andrang im Frobenius-Institut der Goethe-Universität in
       Frankfurt am Main. In einem später berühmt gewordenen Vortrag fordert der
       Schriftsteller und Ethnologe Hubert Fichte eine poetische Ethnologie. Es
       ist das gemeinsame Herzensprojekt Fichtes und des Rundfunkregisseurs Peter
       Michel Ladiges: die gegenseitige Annäherung von Kunst und Wissenschaft, in
       eine alternative Sprache der Forschung gekleidet.
       
       Beinahe zwei Jahrzehnte stehen die beiden in intensivem Austausch und
       produzieren ethnopoetische Radiofeatures. Der Briefband „In Gedanken
       unterhalte ich mich die ganze Zeit mit Dir“ legt nun die Prozesse dieser
       Freundschaft und Arbeitsbeziehung offen.
       
       Die Briefe von 1971 bis 1985 sind vertrauensvoll, sehr direkt und oft auch
       zärtlich. Es ist schön, Ladiges und Fichte zu folgen, wie sie sich von
       neuen Interessen berichten („Ansonsten beschäftige ich mich mit der
       Schifffahrtskunst der Inkas.“), Updates über eigene Projekte geben und
       spekulative Einfälle teilen. Beinahe in jedem Brief versichern sie sich,
       dass sie den anderen als Diskussionspartner brauchen.
       
       „Gerade kommen wir aus einer Totenfeier eines kongolesischen Candomblés im
       Urwald“, schreibt Fichte an einer Stelle. Als involvierter Teilnehmer
       protokolliert er aus der Mitte des Geschehens. Er interessiert sich vor
       allem für afrodiasporische Religionen in Süd- und Mittelamerika, [1][gilt
       als einer der Vordenker der Postcolonial Studies.]
       
       Auf den teils mehrmonatigen Recherchereisen dokumentiert er in Begleitung
       der Fotografin Leonore Mau [2][(mit der ihn eine Lebenspartnerschaft
       verbindet)] Riten, Verhaltensweisen, Tänze, Pflanzenwissen und
       psychiatrische Behandlungsformen der lokalen Gemeinschaften. Besonders
       intensiv beschäftigt er sich mit der (religiösen) Trance. Neben diesen
       Forschungsprojekten führt er Interviews mit Persönlichkeiten wie Jean Genet
       und Chiles sozialistischem Präsidenten Salvador Allende.
       
       ## Wegbereiter der Queer Studies
       
       Hubert Fichtes Biografie verlief nicht unbedingt geradlinig. 1935 als
       unehelicher Sohn einer Protestantin und eines Juden geboren, arbeitete er
       Anfang der 50er Jahre als Schafhirte in Frankreich, später in einem Heim
       für schwererziehbare Kinder in Schweden. Als inzwischen studierter Landwirt
       verwuchs er mit der Hamburger Schwulenszene, der er auch literarisch ein
       Denkmal setzte, und sollte ein Wegbereiter der Queer Studies werden. Eine
       Konstante: das ausgedehnte Reisen.
       
       Das Recherchematerial von seinen Reisen verarbeitet er zu Manuskripten, die
       von Ladiges als Radiofeatures inszeniert werden. Da es möglich geworden
       war, mit handlichen Mikrofonen mühelos Musik, Gesänge und Zeremonien vor
       Ort aufzunehmen, beginnen sie solche Elemente zu integrieren und für die
       Radiohörer:innen in der BRD zugänglich zu machen.
       
       In „Djemma el Fna“ arrangieren sie O-Töne und Geräusche aus Marrakesch
       mittels der neu aufgekommenen Stereofonie; eine Technik, die beim Hören den
       Eindruck eines vollen Marktplatzes entstehen lässt, auf dem sich
       Sprecher:innen räumlich hin und her bewegen. Die Briefe zeigen damit
       auch ein Stück Radiogeschichte – es ist die Entstehungszeit heutiger
       populärer Hörästhetiken.
       
       ## Sammlung von 20.000 Kartoffelrezepten
       
       In vielen Briefen erkundigt Fichte sich nach Einzelheiten von Ladiges’
       bizarrem Langzeitprojekt, einer Systematik der „kosmopolitische[n] Vielfalt
       der Kartoffelspeisen“ – eine (verschollene) Sammlung von 20.000
       Kartoffelrezepten. Parallel teilt Fichte hier erste Konzeptskizzen seines
       ebenso umfangreichen Projekts, für das er noch heute bekannt ist: der
       19-teilig angelegte und unabgeschlossen gebliebene Romanzyklus „Die
       Geschichte der Empfindlichkeit“. Darin taucht sowohl eine Ladiges-Figur als
       auch der ethnologische Blick selbst als Motiv auf.
       
       Ein weiteres, immer wiederkehrendes Thema ist die Sexualität. Besonders
       reflektieren sie über (die eigene) Homosexualität als Gegenstand
       gemeinsamer Arbeiten, aber auch ganz vertraulich. So besprechen sie die
       Reaktionen in der Schwulenszene Hamburgs auf Fichtes Interview mit „dem
       Ledermann“ Hans Eppendorfer.
       
       Insbesondere Fichte gibt Hinweise über sein aktives Sexleben auf den
       Reisen. Die heftige Sprache, die er dabei verwendet, liest sich mit
       Hinblick auf die Veröffentlichungsentscheidung, heute als rassistisch
       erkannte Begriffe im Original nur im Vorwort zu markieren, leider häufig
       mit etwas Unbehagen.
       
       ## Indigene Kulturen zum utopischen Gegenentwurf stilisiert
       
       Einleitungen und Kommentare des Herausgebers Peter Braun, die ausführlich
       die zeitgeschichtlichen Kontexte aufschlüsseln und in der Detailfülle der
       privaten Dokumente Orientierung geben, machen das Lesen angenehm. Die
       Briefe dokumentieren eine Zeit, in der indigene Kulturen von vielen aus der
       alternativen Szene zum utopischen Gegenentwurf stilisiert wurden; die
       Ethnologie erhielt eine neue gesellschaftskritische Dimension.
       
       Fichte und Ladiges, die sich schon länger der Ethnopoesie verschrieben
       hatten, galten als eine Art Avantgarde. Doch ihnen ging es weniger um den
       Vergleich von Kulturen als um ein inneres Verstehen und Verständlichmachen.
       Aus heutiger Sicht stellt sich weiterhin die Frage, wer hier aus welcher
       Position über wen schreibt – und für wen.
       
       Jetzt wäre es nur noch schön, nicht in Archive fahren zu müssen, um die
       Radiofeatures auch anhören zu können.
       
       8 Jan 2025
       
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