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       # taz.de -- Ethischer Hacker über Gesundheitskonten: „Wir hatten theoretisch Zugriff auf alle Patientenakten“
       
       > Martin Tschirsich von Chaos Computer Club hält die neue elektronische
       > Patientenakte nicht für sicher. Angreifer könnten gebrauchte Lesegeräte
       > kaufen.
       
   IMG Bild: Ein gebrauchtes Lesegerät ist schnell besorgt und schon kann es losgehen mit dem Hacken
       
       taz: Herr Tschirsich, Hamburg führt ab 15. Januar als Modellregion die
       e[1][lektronische Patientenakte] (EPA) ein. Wieso ist die nicht sicher? 
       
       Martin Tschirsich: Das Bundesgesundheitsministerium verspricht, dass diese
       Akte die sicherste in Europa sei und diese Daten nicht gehackt würden, weil
       es sie gar nicht an einer zentralen Stelle gibt. Das ist auch die ethische
       Voraussetzung für den Plan, dass sie jeder bekommt.
       
       taz: Sofern er nicht widerspricht. 
       
       Tschirsich: Genau. Das Prinzip heißt „Opt out“: Tue ich nichts, bekomme ich
       als gesetzlich Versicherter eine Akte. Darin werden meine Gesundheitsdaten
       aus allen Institutionen des Gesundheitswesens lebenslänglich abgelegt und
       im Klartext verarbeitet. Und sofern die Daten pseudonymisierbar sind,
       stellt man sie auch zur Forschung IT-Konzernen zur Verfügung.
       
       taz: Wo befindet diese Akte? 
       
       Tschirsich: Die ist zentral. Es gibt zwei Betreiber, IBM und Rise. Die
       betreiben diese Akten im Auftrag der jeweiligen Krankenkasse. Die Daten
       werden dort zentral in einem Rechenzentrum geführt und auch im Klartext
       verarbeitet.
       
       taz: Auch Leberwerte vom Hausarzt-Check-up? 
       
       Tschirsich: Ja. Auch alle Rezepte und Abrechnungsdiagnosen der Kassen
       fließen dort hinein, letztere auch rückwirkend, nicht erst ab 2025. Und
       zwar von allen Leistungserbringern, von Ärzten und Kliniken bis zu
       medizinischer Fußpflege oder Logopädie. Durch das Einstecken ihrer
       Gesundheitskarte sind Versicherte dazu angehalten, eine Zugangsmöglichkeit
       auf diese EPA zu schaffen, damit Unterlagen aus der aktuellen Behandlung
       wie Arztbriefe und Laborergebnisse dort eingestellt werden.
       
       taz: Sie und eine Kollegin vom [2][Chaos Computer Club] (CCC) schafften es,
       auf diese Akten zuzugreifen? 
       
       Tschirsich: Diese Akte gibt es ja in der ersten Version schon seit 2020. Da
       wiesen wir schon Mängel nach. Aber damals galt noch das „Opt in“-Prinzip.
       Man entschied sich für die Akte. Und es gab eine Pin für die EPA. Für
       potenzielle Angreifer interessant sind die Zugangsschlüssel der
       Leistungserbringer, also der Praxen und Kliniken. Und die sind leicht zu
       beschaffen.
       
       taz: Wie denn? 
       
       Tschirsich: Die Herausgeber dieser Schlüssel lassen sich austricksen. Auch
       kann ein Angreifer sich gegenüber Arztpraxen als IT-Support-Dienstleister
       ausgeben. Das haben wir auf Gesuche hin gemacht, um zu zeigen, dass
       Dienstleister ein Einfallstor für Angriffe sind. Wir hätten dort
       Voll-Zugriff auf den Schlüssel der Institution gehabt.
       
       taz: Beim [3][CCC-Kongress zeigten sie ein Kartenlesegerät], das Sie über
       Ebay erwarben? 
       
       Tschirsich: Kleinanzeigenportale im Netz sind ein weiteres Einfallstor. Mit
       vier Stunden Zeiteinsatz gelangten wir darüber in Besitz eines
       Praxisausweises mitsamt der weiteren Zugangstechnik. Wir konnten dort
       Zugangsschlüssel gebraucht kaufen. Das kann offenbar passieren, wenn eine
       Praxis aufgelöst wird.
       
       taz: Sie kauften ein Lesegerät und passende Schlüssel? 
       
       Tschirsich: Richtig. Das Lesegerät, in das die Gesundheitskarte gesteckt
       wird, hat an der Seite Schlitze, darin stecken weitere Schlüssel. Unter
       anderen der für die jeweilige Praxis und ihren Zugriff auf das Aktensystem.
       
       taz: Was kann man da lesen? 
       
       Tschirsich: Unser Lesegerät war schon mit allen Schlüsseln besteckt. Da
       steckte auch der Ausweis der Institution drin. Die Pin, die ich brauchte,
       um den freizuschalten, wurde auf nette Anfrage auch noch mitgeliefert.
       Dieses Lesegerät schließe ich dann an. Dafür brauche ich noch eine
       bestimmte Netzwerkverbindung zu diesen zentralen Rechenzentren. Der dafür
       nötige Konnektor, das ist eine kleine Hardwarebox, ist frei käuflich. Oder
       ich bestelle mir so einen Software-Konnektor im Internet. An diesen Zugang
       steckten wir unser Kartenlesegerät. Wir hätten, wenn es die EPA für alle
       schon gäbe, Zugang auf alle Patienten-Akten bekommen, die für diese Praxis
       freigegeben sind. Also alle, die diese Praxis in den letzten 90 Tagen
       besuchten und der Akte nicht widersprachen.
       
       taz: Wie viele? 
       
       Tschirsich: Etwa 1.000 Stück. Aber wir hatten über dieses Lesegerät
       theoretisch Zugriff auf alle 70 Millionen Patientenakten. Das ist technisch
       möglich. Das wurde auch von der „Gematik“, der Nationalen Agentur für
       Digitale Medizin, die diesen Prozess betreut, bestätigt. Es gibt hier
       leider einen kleinen Fehler mit großer Wirkung. Das Digitalgesetz sieht
       vor, dass der Zugriff einer Praxis auf die Akte nur möglich ist, wenn auch
       zuvor die Karte des Versicherten gesteckt war. Wir konnten nachweisen, dass
       eine Arztpraxis auch ohne dies auf die Patientenakte zugreifen kann.
       Angreifer können vortäuschen, dass beliebige Gesundheitskarten gesteckt
       waren und dann auf diese Akten zugreifen.
       
       taz: Wer hacken will, braucht also nur ein gebrauchtes Kartenlesegerät und
       das beschriebene Zubehör? 
       
       Tschirsich: Richtig. Denn ich benötige als Angreifer nur die Nummer einer
       Karte und nicht die echte Karte selbst. Diese Nummern sind einfach
       aufsteigend vergeben. Man zählt einfach von einer Karte noch eins, zwei,
       drei Nummern hoch, dann hat man schon den nächsten Versicherten. Das ist
       ein Mangel, auf den wir mehrfach hinwiesen.
       
       taz: Was können denn Böswillige mit den Akten anstellen? 
       
       Tschirsich: Der Nachteil ist das mangelnde Vertrauen. Viele Menschen
       möchten ihre Gesundheitsinformationen nicht mit allen teilen, weil sie
       stigmatisierende Diagnosen haben. Sie könnten aber sehr von den Vorteilen
       einer elektronischen Akte profitieren. Diese Menschen werden von den
       Vorteilen abgeschnitten, weil das System schlecht gemacht ist.
       
       taz: Ist die Karte sinnvoll? 
       
       Tschirsich: Viele Mediziner sagen, so eine elektronische Patientenakte
       können sie gut gebrauchen, damit zum Beispiel unbeabsichtigte
       Wechselwirkungen von Medikamenten der Vergangenheit angehören.
       
       taz: Was muss passieren? 
       
       Tschirsich: Wir müssen an die Entwicklung dieser digitalen Infrastruktur
       anders herangehen. Wir brauchen eine unabhängige und belastbare
       Risikobewertung. Die Risiken, die wir auf dem Kongress in Hamburg
       demonstrierten, waren seit August bekannt. Aber erst mit dem praktischen
       Nachweis wird hektisch gehandelt. Wir wünschen uns, dass solche Risiken
       zuvor behandelt werden. Dazu braucht es eine unabhängige Einschätzung, zum
       Beispiel des Bundesdatenschutzbeauftragten, die auch publik gemacht wird.
       Damit wir alle eine informierte Entscheidung treffen können sollte.
       
       taz: Sollte Hamburg als Modellregion denn jetzt mit der Akte starten? 
       
       Tschirsich: Nach Auskunft der zuständigen Ministerien wird das so sein.
       Zunächst gehen am 15. Januar 300 Praxen in Hamburg und in Franken mit den
       bekannten Mängeln an den Start. Und aus jeder dieser 300 Praxen besteht
       dann der Vollzugriff auf alle 70 Millionen Aktenkonten. Die werden nämlich
       schon parallel angelegt und bis zum 15. Februar mit Daten gefüllt. Das
       dauert ein paar Wochen. Ist diese Testphase abgeschlossen, soll – trotz
       grundsätzlich fortbestehender Mängel – die Nutzung deutschlandweit
       passieren.
       
       taz: Können wir die Zustimmung noch zurückziehen? 
       
       Tschirsich: Jederzeit.
       
       taz: Was tun Sie selbst? 
       
       Tschirsich: Das sage ich nicht. Jeder hat einen ganz unterschiedlichen
       medizinischen Bedarf. Und wenn ich jetzt aus privilegierter Position heraus
       sage, ich nehme so eine Akte, weil ich bisher mit keiner stigmatisierenden
       Diagnose durchs Leben gehe, gilt das für viele andere nicht.
       
       taz: Geben Sie einen Rat? 
       
       Tschirsich: Das ist so ein bisschen wie beim Beipackzettel. Dort findet ja
       auch immer eine Risikoaufklärung statt. Wenn man nicht möchte, dass eine
       andere Person zum Telefon greift und sich in zehn Minuten Zugangsschlüssel
       zur Akte verschaffen kann, dann kann man widersprechen. Wenn ich aber mehr
       Vorteile der EPA sehe, kann man die Akte auch nutzen. Man sollte nur das
       Risiko kennen. Ich wünsche mir, dass diese Option des individuellen
       Widerspruchs nicht von der Politik als Ausrede genutzt wird, ihrer
       Fürsorgepflicht für jene nachzukommen, die von dieser EPA profitieren
       können, sie aber wegen des Sicherheitsdefizits derzeit nicht nutzen. Sodass
       wir wirklich eine EPA für alle haben.
       
       8 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Elektronische-Patientenakte/!5918459
   DIR [2] /Der-CCC-2024-in-Hamburg/!6052887
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       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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