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       # taz.de -- Bundestagswahl in Berlin: And the winner is …
       
       > Zwölf Wahlkreise, zwölf Prognosen: Die taz erklärt, wo es am 23. Februar
       > spannend wird beziehungsweise wo der Gewinner eigentlich schon feststeht.
       
   IMG Bild: Sieht so die Zukunft aus? Die taz-Prognosen für die Bundestagswahl in Berlin
       
       Berlin taz | Ein ehemaliger Regierender Bürgermeister von der SPD, der um
       sein politisches Überleben kämpft. Ein 76-jähriger Linker, von dem sogar
       die Zukunft seiner ganzen Partei abhängt. Grüne, die kurz vor knapp noch
       ihre Plakate verändern. Und eine CDU, die so viele Wahlkreise gewinnen
       könnte, dass nicht alle zum Einzug ins Parlament berechtigt sein könnten.
       Das ist die Lage in den zwölf Berliner Wahlkreisen 35 Tage vor der
       Bundestagswahl.
       
       Rund zweieinhalb Millionen Berlinerinnen und Berliner dürfen am 23. Februar
       an der Bundestagswahl teilnehmen – weniger als bei der jüngsten Europawahl
       und der nächsten Abgeordnetenhauswahl 2026: Auf diesen beiden Ebenen können
       auch 16- und 17-Jährige abstimmen. Bei der Bundestagswahl hingegen liegt
       das Mindestalter bei 18.
       
       Genutzt haben dieses Wahlrecht bei der jüngsten Auflage der bundesweiten
       Wahl – 2021 plus Teilwiederholung im Januar 2024 – bei Weitem nicht alle:
       Weniger als 70 Prozent gingen ins Wahllokal, schickten ihre Stimme per
       Brief oder stimmten vorab direkt in einem Berliner Rathaus ab.
       
       Egal wie viele Berliner sich für welche Partei auch immer am 23. Februar
       entscheiden: Das bundesweite Wahlergebnis insgesamt beeinflusst es nur am
       Rande – die Berliner Stimmen machten 2021 weniger als ein
       Fünfundzwanzigstel beziehungsweise nur vier Prozent der Stimmzettel aus.
       Alles entscheidend aber sind diese Stimmen für die zwölf Wahlkreise
       Berlins. Sie sind in großen Teilen mit den Bezirken identisch. Einzige
       Ausnahmen: Charlottenburg-Nord gehört anders als sonst zum Wahlkreis
       Spandau, Prenzlauer Berg Ost zum Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg.
       
       Bei diesen Wahlkreisen, von denen es bundesweit 299 gibt, kommt Berlin eine
       besondere Rolle zu: Hier zwei der zwölf Wahlkreise zu gewinnen, hielt die
       Linkspartei 2021 samt einem weiteren, in Leipzig gewonnenen Wahlkreis, im
       Bundestag – obwohl sie bei den Zweitstimmen unter der Fünfprozenthürde
       blieb. Denn die sogenannte Grundmandatsklausel besagt: Wenn eine Partei
       mindestens drei Wahlkreise gewinnt, wird ihr Zweitstimmenergebnis komplett
       auf Parlamentssitze angerechnet, auch wenn es unter fünf Prozent liegt.
       
       Eines dieser beiden Berliner Mandate soll Parteiikone Gregor Gysi erneut in
       Treptow-Köpenick holen, dann zum sechsten Mal. Das zweite gewann seit 2002
       in Lichtenberg durchweg Gesine Lötzsch. Doch die tritt nicht mehr an – an
       ihrer Stelle kandidiert die neue Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner. Das
       Problem: 2021 gelang der Wahlkreissieg nur durch Lötzsch’ Popularität. Sie
       holte fast 26 Prozent, während ihre Partei bei den Zweitstimmen nur 18,3
       Prozent holte und klar hinter der SPD lag – und das noch vor der Abspaltung
       des BSW.
       
       Die CDU wiederum könnte von einer Besonderheit der jüngsten
       Wahlrechtsreform betroffen sein. Gewinnt sie mehr Wahlkreise, als nach
       ihrem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, dürfen nicht mehr alle
       Wahlkreisgewinner in den Bundestag. Die mit den schwächsten Ergebnissen
       müssten draußen bleiben.
       
       Friedrichshain-Kreuzberg
       
       Berlins sicherster Wahlkreis, der wie seit 2002 wieder an die Grünen geht.
       Siegerin wird aber nicht Canan Bayram sein, die hier 2021 doppelt so viele
       Stimmen holte wie die zweitplatzierte Konkurrenz von der Linkspartei: Sie
       überwarf sich im Herbst 2024 mit ihrer Partei. Stattdessen kandidiert
       Katrin Schmidberger, die langjährige Mieten-Expertin der Grünen im
       Abgeordnetenhaus. Mit ihr kehrt mittelbar der 2022 verstorbene
       Hans-Christian Ströbele in den Bundestag zurück, der den Wahlkreis ab 2002
       viermal in Folge gewann: Schmidberger war bis 2011 acht Jahre Mitarbeiterin
       von Ströbele.
       
       Charlottenburg-Wilmersdorf
       
       2021 inklusive der Teilwiederholungswahl im Februar 2024 gab es hier das
       knappste Ergebnis. Ex-Regierungschef Michael Müller (SPD) lag nur einen
       halben Prozentpunkt vor CDU und Grünen, für die Bundesfamilienministerin
       Lisa Paus antrat. Die seither weiter zugunsten der CDU veränderte
       Umfragelage dürfte Müller darum chancenlos sein lassen. Er wäre damit raus
       aus dem Bundestag, weil die SPD ihm auf ihrer Landesliste keinen
       aussichtsreichen Platz zugestehen mochte. Paus wiederum konnte ihren
       gewachsenen Bekanntheitsgrad als Ministerin nicht in Prozente umwandeln:
       Sie erhielt weniger Stimmen als die Grünen über die Zweitstimme. Erster,
       wenn auch weit weniger bekannter Sieganwärter in einem knappen Duell ist
       darum der neue CDU-Kandidat Lukas Krieger.
       
       Steglitz-Zehlendorf
       
       Hier hat seit 1990 mit zwei Ausnahmen und zuletzt durchweg seit 2005 die
       CDU gewonnen, selbst bei ihrer bundesweiten Wahlniederlage 2021. Damals war
       der Vorsprung bei den Erststimmen zwar auf vier Prozentpunkte geschrumpft,
       beim aktuellen Umfragestand aber dürfte der neue CDU-Kandidat Adrian Grasse
       – er löste Ex-Justizsenator Thomas Heilmann ab, der nicht mehr antreten
       mochte – gegen Berlins SPD-Spitzenkandidat Ruppert Stüwe und die
       Grünen-Landesvorsitzende Nina Stahr gewinnen.
       
       Treptow-Köpenick
       
       Gregor Gysi holte hier 2021 mehr Erststimmen als die Zweit- und
       Drittplatzieren von SPD und CDU (damals Eisschnelläuferin Claudia
       Pechstein) zusammen. Wie sehr seine Linkspartei dort von ihm abhängt, zeigt
       das nur halb so gute Zweitstimmenergebnis der Linkspartei klar hinter der
       bei anderen Wahlen im Bezirk dominierenden SPD. Die CDU dürfte am meisten
       durch den Filmstar-Namen ihres Kandidaten Dustin Hoffmann auffallen.
       
       Pankow
       
       Bis Mitte Dezember galt der Wahlkreis als sichere Sache für die Grünen –
       bis nun womöglich haltlos gewordene Vorwürfe gegen Stefan Gelbhaar
       auftauchten, der in Pankow 2021 gewann und seinen Vorsprung bei der
       Teilwiederholungswahl im Januar 2024 gegen den Trend ausbauen konnte. Die
       Grünen tauschten ihn gegen seinen Willen als Direktkandidaten gegen das
       bisherige Abgeordnetenhausmitglied Julia Schneider aus. Weil unklar ist,
       wie das bei der Wählerschaft ankommt, gibt es Außenseiterchancen für
       CDU-Kandidatin Franziska Dezember.
       
       Marzahn-Hellersdorf
       
       Mutmaßlich nach Friedrichshain-Kreuzberg der Wahlkreis mit dem sichersten
       Wahlausgang: Mario Czaja (CDU) gewann hier schon 2021 ohne jeglichen
       bundespolitischen Rückenwind und wird darum diesmal bei deutlich besserer
       CDU-Umfragelage noch klarer vorne liegen. Platz 2 wird die Linkspartei
       wahrscheinich an die AfD abgeben müssen – wenn nicht das BSW für eine
       Überraschung sorgt: Für das Bündnis tritt ihr berlinweiter Spitzenkandidat
       Oliver Ruhnert an, der frühere Manager von Fußball-Bundesligist Union.
       
       Lichtenberg
       
       Vielleicht der unvorhersehbarste aller zwölf Wahlkreise. Denn hier wie
       sonst nur noch in drei anderen hat das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)
       einen Kandidaten aufgestellt, den Bezirkspolitiker Norman Wolf. Wie die
       neue Linkspartei-Bundeschefin Ines Schwerdtner als Nachfolgerin der hier
       fünfmal siegreichen Gesine Lötzsch ankommt, ist völlig offen. Bei der
       Abgeordnetenhauswahl 2023 lag die CDU – für sie tritt der langjährige
       Landesparlamentarier Danny Freymark an – im Bezirk klar vorne. Bei der
       Europawahl im Juni aber dominierte die AfD: Die hat hier mit der vor Ort
       nicht verwurzelten, aber überregional bekannten Beatrix von Storch ihre
       größten Chancen auf einen Berliner Wahlkreissieg.
       
       Tempelhof-Schöneberg
       
       Neben Lichtenberg der spannendste Wahlkreis. 2021 gewann hier der damalige
       SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Doch der hat sich zurückgezogen, und für
       ihn tritt die Ex-Landeschefin der Jusos an: Sinem Taşan-Funke. Die Grünen
       müssen verkraften, dass die weithin bekannt Ex-Ministerin und frühere
       Parteivorsitzende Renate Künast nach 23 Bundestagsjahren nicht mehr
       kandidiert. Die Umfragewerte begünstigen den CDU-Mann Jan-Marco Luczak, der
       hier 2009, 2013 und 2017 gewonnen hatte. Er ist auch Berliner
       Spitzenkandidat der CDU. Seine Konkurrenz wird allerdings angesichts der
       Wohnungsnot in Berlin mutmaßlich stark thematisieren, dass Luczak sich –
       anders als sein Parteifreund Kai Wegner – Ende 2024 erneut ablehnend zur
       Mietpreisbremse äußerte. Wenn die CDU-Umfrageführung nicht einbricht,
       könnte er dennoch vorne liegen, weil die Bewerber von SPD und Grünen zu
       unbekannt sind.
       
       Mitte
       
       Es ist einer der wenigen Wahlkreise, in denen die CDU trotz Aufwinds keine
       Chance auf einen Sieg hat. Hanna Steinmüller von den Grünen dürfte sich
       erneut durchsetzen, und das deutlich. Denn schon 2021, als ihre Partei und
       die SPD bei den Zweitstimmen gleichauf waren, lag sie deutlich vor ihrer
       schärfsten Konkurrentin, der früheren Juso-Landeschefin Annika Klose, die
       ebenfalls wieder antritt. Weil Steinmüllers Grüne aktuell in Berliner
       Umfragen klar vor der SPD liegen, dürfte Klose keine Chance haben. Dass die
       CDU sich hier selbst keine Chancen ausrechnet, lässt sich schon daran
       ablesen, dass die 2021 hier kandidierende Ottilie Klein, mittlerweise
       Generalsekretärin ihres Landesverbands, in den Wahlkreis Neukölln
       wechselte.
       
       Reinickendorf
       
       Quasi das Zehlendorf des Nordwestens – jedenfalls, was die Dominanz der CDU
       bei den vergangenen vier Bundestagswahlen angeht. Es fehlt zwar dieses Mal
       der überregional bekannte Name der früheren Kulturstaatsministerin und
       Ex-CDU-Landeschefin Monika Grütters, die schon im September ankündigte,
       nicht erneut anzutreten. Doch ihr Nachfolger, der erst 30-jährige Marvin
       Schulz, ist dort geboren und als Fraktionschef in der
       Bezirksverordnetenversammlung gut vernetzt. Die Grünen schicken chancenlos
       das jüngste Abgeordnetenhausmitglied dort ins Rennen, die 25-jährige Klara
       Schedlich.
       
       Neukölln
       
       2021 war das eine klare Sache für die SPD und ihren Kandidaten Hakan Demir.
       Doch da lag die SPD bundesweit vorne – jetzt ist sie in Umfragen gerade mal
       halb so stark wie die CDU. Die dominierte in Neukölln auch bei der
       Abgeordnetenhauswahl 2023 und lag in der jüngsten Berliner Umfrage weit
       vorne. Grüne und Linkspartei – Letztere auch schon vor der Abspaltung des
       BSW – haben auf dieser Basis keine Chance, auch wenn sie mit bekannten
       Namen antreten, nämlich Grünen-Wahlkampfleiter Andreas Audretsch und Ferat
       Koçak. Vorne dürfte deshalb CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein liegen.
       Möglich ist aber, dass sie bei breiter Stimmverteilung dennoch nicht in den
       Bundestag einzieht: Wenn die CDU mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach den
       Zweitstimmen Sitze zustehen, bleiben die Sieger mit den schwächsten
       Ergebnissen draußen.
       
       Spandau
       
       Hier könnte es den einzigen SPD-Wahlkreissieg in Berlin geben. Der
       vormalige Bezirksbürgermeister Helmut Kleebank lag 2021 mit rund 32 zu 23
       Prozent so weit vor CDU-Konkurrent Joe Chialo, heute Kultursenator, dass
       dieser Rückhalt auch bei aktuell schwacher SPD-Umfragelage reichen könnte.
       Der neue CDU-Kandidat gehört zu den Bewerbern mit dem vielfältigsten
       Werdegang: Bernhard Schodrowski, früher mal mit der damaligen
       Grünen-Spitzenpolitikerin Ramona Pop liiert, war als Polizist beim Mobilen
       Einsatzkommando, wurde Sprecher von Polizei, Justizverwaltung und IHK,
       Vize-Senatssprecher und mehrere Jahre Sprecher beim Entsorgerverbands BDE.
       Dass dessen Chef Peter Kurth, früher als CDU-Mitglied Berlins
       Finanzsenator, [1][Nähe zu rechtsextremen Kreisen] entwickelte, will
       Schodrowski nicht mitbekommen haben. [2][„Erschüttert und überrascht“] sei
       er davon, sagte er dem Tagesspiegel.
       
       Hinweis: In einer früheren Version war Charlottenburg-Nord nicht dem
       Wahlkreis Spandau, sondern Pankow zugeordnet.
       
       20 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/peter-kurth-cdu-politiker-war-gastgeber-fuer-rechtsextreme-a-f3d92242-c607-4fa3-8c33-35fdd6027072
   DIR [2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/seine-agenda-sicherheit-und-wirtschaft-was-bringt-der-neue-cdu-mann-dem-berliner-westen-12698309.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
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