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       # taz.de -- Streit um Straßenumbenennung in Berlin: Ein Antisemit, der Bürgerwille und die CDU
       
       > Steglitz-Zehlendorf will endlich die Umbenennung der Treitschkestraße auf
       > den Weg bringen. Nur die Union hält an dem Antisemiten als Namensgeber
       > fest.
       
   IMG Bild: Der Antisemit Treitschke sei doch bloß ein bisschen „umstritten“, findet die CDU Steglitz-Zehlendorf
       
       Berlin taz | Die Diskussion hat schon begonnen, bevor die ersten Mitglieder
       des Bildungs- und Kulturausschusses der Bezirksverordnetenversammlung
       Steglitz-Zehlendorf am Mittwochabend im Bürgersaal des Zehlendorfer
       Rathauses eintreffen. Im Vorraum, wo hunderte Stühle mit verblichenen
       Stoffbezügen gestapelt sind, warten ein paar BürgerInnen darauf, dass
       endlich jemand die Türen aufschließt. „Ist doch unglaublich“, empört sich
       ein weißhaariger Herr, „die CDU hängt sich eine riesige Israel-Flagge ans
       Fraktionsbüro – aber einen Treitschke, der gesagt hat: ‚Die Juden sind
       unser Unglück‘, an dem wollen sie festhalten!“
       
       Eben noch haben sich er und das Paar, das neben ihm wartet, ganz freundlich
       unterhalten, plötzlich wird die Stimmung eisig. „Also ich hab' da ehrlich
       gesagt keen Bock drauf“, sagt die Frau und erklärt, dass eine Umbenennung
       der Steglitzer Treitschkestraße, um die es gleich in der öffentlichen
       Ausschusssitzung gehen soll, für sie als Anwohnerin einen unzumutbaren
       Aufwand bei der Änderung ihrer Dokumente bedeutet.
       
       „Ach, kommen Sie, das passiert ja auch nicht alles von jetzt auf sofort“,
       will sie der erste beruhigen, „und es geht doch um die Inhalte. Nicht
       darum, dass jeder mal 'ne halbe Stunde vor dem Computer sitzen muss.“ Die
       so Angesprochene will das nicht gelten lassen: „Ich hab‘ gelesen, also der
       Treitschke, so tief steckte der jetzt auch nicht drin.“ Sie wendet sich ab:
       „Na, dit kan ja 'ne heiße Diskussion werden.“
       
       In der Sitzung des Ausschusses, mit rund 80 ZuhörerInnen laut der
       Vorsitzenden Katharina Concu (FDP) „so gut besucht wie noch keine zuvor“,
       bleibt die Fraktion der Treitschke-VersteherInnen dann eher im Hintergrund.
       Als das Mikrofon für gut 20 Minuten geöffnet wird, kommen die meisten
       Wortmeldungen von Menschen, die nach eigenem Bekunden in der
       Treitschkestraße wohnen und deren Umbenennung uneingeschränkt befürworten.
       „Ich habe mir damals wirklich überlegt, ob ich überhaupt eine Wohnung in
       einer Straße mit diesem Namen kaufen soll“, sagt eine Frau.
       
       ## Umbenennung in Betty-Katz-Straße
       
       Das tatsächliche Meinungsbild unter den AnwohnerInnen der 900 Meter langen
       Seitenstraße hinter der Shoppingmall „Boulevard Berlin“ ist allerdings ein
       anderes: Die meisten von ihnen haben offenbar kein Interesse daran, dass
       der Name des Historikers Heinrich von Treitschke von den Straßenschildern
       verschwindet.
       
       Dass [1][dessen bekannteste Schrift „Die Juden sind unser Unglück“ von 1879
       klar antisemitisch] ist und einige Jahrzehnte nur zu gern von den Nazis
       zitiert wurde, interessierte eine Mehrheit in der Vergangenheit wenig. Bei
       einer Befragung im Jahr 2012 fielen drei Viertel der Rückmeldungen negativ
       aus, bei einer weiteren zum Jahreswechsel 2022/23 waren sogar fast 85
       Prozent dagegen.
       
       Dabei steht eigentlich – nach schier endlosem Streit – die Entscheidung der
       Bezirksverordnetenversammlung fest, die Straße nach Betty Katz
       umzubenennen, die das Jüdische Blindenheim in Steglitz leitete und 1944 in
       Theresienstadt ermordet wurde. Nur die CDU stemmt sich seit vielen Jahren
       gegen das Treitschke-Aus und hatte auch jetzt erreicht, dass der
       Kulturausschuss sich am Mittwoch noch einmal mit der Namenswahl
       auseinandersetzen muss.
       
       Im Vorfeld hatte die direkt in Steglitz gewählte Berliner CDU-Abgeordnete
       Claudia Wein [2][einen Brief an die AnwohnerInnen der Treitschkestraße]
       verschickt, in der sie ihnen versichert, ihre Partei respektiere den
       Bürgerwillen und lehne eine Umbenennung „entschieden“ ab. Zur Begründung
       schreibt Wein, die sich am Mittwoch krankgemeldet hat, Treitschkes
       „Ansichten und seine Rolle in der Geschichte“ seien „umstritten“, aber der
       Straßenname stelle „ein historisches Dokument dar, das die Entwicklung
       unserer Stadt widerspiegelt“.
       
       Die Geschichte sei komplex, aber „Teil unserer Identität“, und „die
       Erinnerung daran, dass Bildung und Kultur nicht davor schützen, Positionen
       mit menschenfeindlicher Wirkung zu vertreten“, dürfe „nicht ausgelöscht
       werden, sondern soll uns als Mahnung dienen“. Die Begriffe Antisemitismus
       oder Judenhass verwendet Wein in ihrem Schreiben, deren AdressatInnen sie
       zur zahlreichen Teilnahme an der Sitzung einlädt, nicht.
       
       ## Jahrelanges Gezerre, umstrittene Kompromisse
       
       Komplex ist auch [3][die Geschichte der Umbenennungsversuche]. In den
       2000er Jahren war neben der CDU auch die FDP dagegen. Als sich das änderte,
       traten plötzlich die Grünen auf die Bremse, die mittlerweile eine
       Zählgemeinschaft mit der CDU eingegangen waren. Als bis heute umstrittener
       Kompromiss wurde schon Ende 2008 eine angrenzende Grünanlage nach Harry
       Bresslau benannt, Treitschkes Kontrahenten im sogenannten Berliner
       Antisemitismusstreit. Eine Informationsstele soll über die Geschichte
       aufklären.
       
       Nachdem 2021 Grüne, SPD und FDP eine Zählgemeinschaft geformt hatten,
       geriet die CDU ins Hintertreffen. Dennoch torpediert sie weiter die
       Umbenennung, so gut sie kann. Dass ihre VertreterInnen am Mittwoch
       reichlich kleinlaut wirken, liegt wohl nicht nur an den Argumenten der
       anderen Fraktionen, sondern auch an den beiden Gästen, die diese eingeladen
       haben: den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, und
       den der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg.
       
       Ein „geistiger Brandstifter“ sei Treitschke gewesen, sagt Klein. Man müsse
       zwar immer abwägen, ob die Namensgeber von Straßen neben ihrem Judenhass
       auch „Großes geleistet“ hätten – er erwähnt Martin Luther und Richard
       Wagner. Im Fall von Treitschke sei die Bewertung aber „so eindeutig, dass
       wirklich unverständlich ist, warum diesem Mann noch ein ehrendes Gedenken
       zukommt“. Seine Bezeichnung der Juden als „Fremdkörper“ in der deutschen
       Kultur wirke bis heute.
       
       Ähnlich äußert sich Königsberg, der meint, eine direkte Verbindung zur
       Gegenwart ziehen zu können. „Israel ist unser Unglück“ sei heute die
       Parole, derer sich die „Hamas-Freunde“ bedienten. Jedenfalls, so
       Königsberg, wolle doch wohl „niemand in diesem Raum in einer
       Die-Juden-sind-unser-Unglück-Straße wohnen“.
       
       ## Linke: CDU muss auf „Schleimspur“ tanzen
       
       Der ebenfalls jüdische Grünen-Bezirksverordnete Daniel Eliasson verweist
       darauf, dass die Diskussion über die Umbenennung eben nicht nur die
       AnwohnerInnen der Straße etwas angehe. Und wer Treitschke wie die
       CDU-Abgeordnete Wein lediglich als „umstritten“ bezeichne, stehe nicht
       entschlossen gegen jeden Antisemitismus. Die anwesenden CDU-Verordneten
       hätten es wiederum „nicht mal geschafft, Herrn Klein zu applaudieren“.
       
       Nicht als einziger, aber besonders prägnant bringt es der Linken-Verordnete
       Dennis Egginger-Gonzalez auf den Punkt: Ob die CDU es denn gemäß ihrer
       Argumentation auch befürworten würde, wenn der Theodor-Heuss-Platz immer
       noch Adolf-Hitler-Platz hieße, fragt er. Er glaubt, dass zumindest die
       CDU-Ausschussmitglieder eigentlich gar nicht an Treitschke hingen, aber
       Gefangene einer „strategische Fehlentscheidung“ seien: „Ihr
       Fraktionsvorsitzender“ – der Anwalt Torsten Hippe – „hat Sie auf diese
       Schleimspur gesetzt, auf der sie jetzt tanzen müssen. Das tut mir fast
       schon leid.“
       
       Zu Beginn der Sitzung hatte der CDU-Stadtrat für Bürgerdienste, Tim
       Richter, länglich aufgezählt, welche Dokumente und Verträge die
       AnwohnerInnen bei einer Straßenumbenennung ändern müssen – und was das etwa
       im Falle der Beantragung eines neuen Personalausweises kostet. Bevor der
       Ausschuss mit der Mehrheit der Zählgemeinschaft der Umbenennung zustimmt
       und den Vorgang zurück an die BVV verweist, meldet sich unter den
       AnwohnerInnen auch eine Vertreterin der an der Treitschkestraße gelegenen
       evangelischen Patmos-Kirche zu Wort.
       
       Die Gemeinde könne sehr gut mit Betty Katz als Namensgeberin leben – auch
       wenn sie vor vielen Jahren angeregt hatte, die Straße nach dem Bischof Kurt
       Scharf zu benennen. Außerdem sei man gern bereit, gerade ältere Menschen
       bei den notwendigen Behördengängen zu unterstützen. Als ein anderer Redner
       anregt, einen solchen Service könnten doch auch die Christdemokraten
       anbieten, wenn es ihnen darum gehe, den AnwohnerInnen Härte zu ersparen,
       werden die Gesichter der CDU-Verordneten besonders lang.
       
       9 Jan 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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