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       # taz.de -- Anthologie-Buch „Und ich –“: Literarische Sammlung der Veränderungen
       
       > In der Anthologie „Und ich –“ erzählen 20 Autorinnen von Wendepunkten in
       > ihrem Leben. Marica Bodrožić, Zsuzsa Bánk und Claudia Hamm sind dabei.
       
   IMG Bild: Ist der Richtungswechsel eine radikale Wende oder ein sukzessiver Prozess?
       
       Hört man von einem Wendepunkt im Leben, so assoziiert man meist eine
       grundlegende Veränderung. Wie aber kommt es dazu? Ist der Richtungswechsel
       eine radikale Wende oder ein sukzessiver Prozess? Handelt es sich um eine
       selbstbestimmte Entscheidung, oder verstellt ein hereinbrechendes Ereignis
       den bisher eingeschlagenen Weg?
       
       All das interessiert die Literaturvermittlerin Maria-Christina Piwowarski.
       Die von ihr herausgegebene Anthologie „Und ich –“ versammelt zwanzig
       Beiträge zum Thema; ausschließlich von Frauen, die zudem schon ein ganzes
       Stück Leben hinter sich haben, denn derlei Texte gebe es zu wenige, wie
       Piwowarski im Vorwort ausführt.
       
       Namhafte Schriftstellerinnen wie Marica Bodrožić, Gabriele von Arnim oder
       Zsuzsa Bánk ließen sich ebenso auf das Projekt ein wie noch weniger
       bekannte Autorinnen, etwa Daria Kinga Majewski oder Caca Savić. Einnehmend
       an der so entstandenen Sammlung sind die Bandbreite der Textformen und die
       vielen Facetten dessen, was ein Wendepunkt sein kann.
       
       Die naheliegende autobiografische oder autofiktionale Herangehensweise
       wurde recht oft gewählt. Doch kann diese sehr unterschiedliche Gestalt
       annehmen.
       
       ## Aufgezwungene Wendepunkte
       
       Stefanie Jaksch etwa erzählt in „Der Baum“ (vermutlich) biografische
       Stationen, von denen aus sie aber immer wieder zu einem einschneidenden
       Ereignis der Kindheit kommt. Darin spielt die Großmutter eine zentrale
       Rolle, die eine Art aufgezwungenen Wendepunkt erlebt. Ihre Reaktion darauf
       bringt den Charakter dieser Frau auf den Punkt, was wiederum prägend für
       die Erzählerin ist.
       
       Diese Art der mehrschichtigen Spiegelung ist literarisch sehr schön
       gemacht. Und Wendepunkte gibt es hier mehrere.
       
       Christine Koschmieder wählt die Form eines persönlichen Essays, um von
       Kindheitsprägungen zu erzählen, die ihr Leben durchziehen und beschweren.
       Und ihr als Autorin das Erzählen beschneiden. In kurzen Passagen, die sie
       auf überraschende Weise assoziativ verknüpft – von realen Räumen geht es
       etwa zu den Erzählräumen –, wird ein Prozess fassbar, an dessen Ende eine
       freier machende Loslösung steht: „Ich erzähle nicht mehr, um mein Leben zu
       rechtfertigen. Ich erzähle, um der Vielfalt der Verunsicherungen gerecht zu
       werden.“
       
       Die persönliche Geschichte verbindet sich bei Jarka Kubsova und Claudia
       Hamm mit Umbrüchen in der großen Geschichte. In „Das Erbe“ erzählt Kubsova,
       1977 in Tschechien geboren und 1987 nach Deutschland immigriert, einen Teil
       ihrer Familienbiografie, die aufs Engste mit dem Prager Frühling und dessen
       Niederschlagung verknüpft ist.
       
       ## Der Weg ist noch nicht zu Ende
       
       Es ist die leidvolle Geschichte ihrer Großmutter und Mutter – die auf
       schmerzvolle, unauflösliche Weise mit der eigenen verwoben ist. Ihr
       Wendepunkt liegt im Akt des Erzählens selbst, darin, sich an diese
       Geschichte heranzutrauen: „Ich habe einige Splitter zusammengesetzt, um bis
       hierher erzählen zu können. Ich habe die Splitter angerührt, und ich habe
       es überstanden. Fühlt es sich jetzt besser an?“ Das ist nicht einfach zu
       bejahen, der Weg ist noch längst nicht zu Ende.
       
       In „Rübermachen“ ist es für Claudia Hamm ein früher Wendepunkt, der ihre
       Selbstverortung in der Welt prägen wird. Als 13-Jährige verlässt sie mit
       ihren Eltern und der Schwester 1983 die DDR, als Staatsfeinde markiert. Ihr
       gelingt in diesem autobiografischen Essay ein schöner Wechsel zwischen
       persönlichen, dichten Szenen und daraus erwachsenen Reflexionen, die auf
       eine gesellschaftspolitische Ebene gehen.
       
       Welche Geschichten Einzelner „finden Eingang in ‚die‘ Geschichte? Und in
       wessen Version?“, fragt die Autorin etwa und wirft weitere anregende Fragen
       das innerdeutsche Ost-West-Verhältnis betreffend auf.
       
       Sehr persönlich erzählt Daria Kinga Majewski von ihren Erfahrungen als
       trans Frau. Wenn es ihr schließlich gelingt, sich von Wünschen zu lösen,
       die sich aus Zuschreibungen anderer ergeben haben, so bringt sie auch die
       Bedeutung gesellschaftlicher Erwartungen und wirkmächtiger Frauenbilder in
       den Text ein.
       
       ## Zugespitzte Patriarchatskritik
       
       Diese spielen auch in Zsuzsa Bánks Erzählung „Familienaufstellung“ eine
       Rolle, in der es um sogenannte häusliche Gewalt geht. Ihre Ich-Erzählerin
       schildert den langen Weg hin zu dem Punkt, eine gewaltvolle Beziehung
       endlich zu verlassen. Empathie verbindet Bánk mit den Kenntnissen über die
       komplexen innerpsychischen Prozesse, die es Betroffenen oft so schwer
       machen, den vermeintlich naheliegenden Schritt der Trennung zu vollziehen.
       
       Satirisch zugespitzte Patriarchatskritik betreibt dann Mareike Fallwickl.
       Ein paar Mittfünfzigerinnen kündigen den Alltag mit ihren Männern auf
       höchst schräge Weise auf, daraus wird eine Bewegung.
       
       Den Weg der literarischen Fantasie wählt auch Gabriele von Arnim, schon der
       Titel ist verheißungsvoll: „Luise und Frau Z. oder Die Haut ist ein
       hungriges Organ“. Wieder ein ganz anderer Wendepunkt.
       
       In eben dieser Verschiedenheit, der Vielfalt an Formen und Tonlagen, in der
       Verbindung von tief Persönlichem mit gesellschaftlichen Verhältnissen –
       oftmals in einem Text –, liegt der Reiz der Lektüre.
       
       28 Jan 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carola Ebeling
       
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