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       # taz.de -- Sachsen spart soziale Projekte kaputt: „Aus wirtschaftlicher Sicht irrational“
       
       > Die Landesregierung hat für 2025 noch keinen Haushaltsplan und streicht
       > deshalb Fördergelder. Für einige soziale Angebote ist das
       > existenzbedrohend.
       
   IMG Bild: Sachsens schwarz-rote Minderheitsregierung hat noch keinen Haushalt für dieses Jahr. Das geht auf Kosten sozialer Projekte
       
       Leipzig taz | Wenn Mona Herdmann vom vergangenen Jahr beim Bel, dem
       Beratungszentrum für Essstörungen in Leipzig, erzählt, klingt sie zufrieden
       – und gleichzeitig frustriert. Am vergangenen Freitagmorgen sitzt sie auf
       der Couch in einem der drei Beratungszimmer und sucht bedacht nach Worten.
       Rund 500 Menschen hätten sie 2024 beraten: Betroffene von Essstörungen und
       deren Angehörige. So viele wie noch nie, berichtet Projektleiterin
       Herdmann. Doch trotz der guten Bilanz muss das Bel schließen.
       
       Das sächsische Sozialministerium, geleitet von Petra Köpping (SPD), hat zum
       1. Januar aufgehört, die Beratungsstelle zu fördern. Warum? Aktuell hat die
       neue CDU-SPD-Minderheitsregierung in Sachsen noch nicht geplant, wie sie
       ihr Geld verwenden möchte. Der Entwurf für den Haushalt 2025 kommt
       voraussichtlich erst im März, wie Ministerpräsident Michael Kretschmer
       (CDU) am Mittwoch verkündete. Bis dahin haben die Ministerien nur einen
       begrenzten finanziellen Spielraum.
       
       Beim Bel zeigt sich das besonders deutlich. Die Förderung vom Land machte
       in den vergangenen Jahren etwa 90 Prozent des Budgets aus. Ohne die
       beantragten 214.000 Euro für 2025 vom Sozialministerium muss das Bel seine
       Arbeit zum 28. Februar einstellen.
       
       Dass Geld bei gemeinnützigen Projekten knapp ist, ist weder selten noch
       neu. Doch in Sachsen verschärft sich für sie derzeit die Lage, nicht nur
       beim Bel. Allerdings lässt sich die Situation schlecht verallgemeinern. Wie
       drastisch die Probleme im Einzelfall sind, hängt von verschiedenen Faktoren
       ab – zum Beispiel, ob die Projekte zu Pflichtaufgaben des Staats gehören,
       freiwillig sind oder von welcher Stelle das Fördergeld kommt.
       
       ## Kommunen sparen ebenfalls beim Sozialen
       
       Neben dem Land sparen auch die sächsischen Kommunen, um ihre steigenden
       Ausgaben und sinkenden Einnahmen zu kompensieren. Und dabei wurde der
       fehlende Bundeshaushalt noch gar nicht erwähnt. Geht im staatlichen
       Haushalt das Geld aus, leiden darunter soziale Projekte.
       
       Die Folgen zeigen sich in verschiedenen Ecken Sachsens. Während etwa im
       Süden die Aids-Hilfe Chemnitz wegen der unklaren Fördersituation keine
       HIV-Tests mehr machen kann, hat ganz im Osten, im Landkreis Görlitz, der
       Jugendring Oberlausitz Ende vergangenen Jahres einen Insolvenzantrag
       gestellt.
       
       Der Landkreis hatte schon im November angekündigt, einen Teil des Geldes
       für die Jugendarbeit zu kürzen. Hinzu kommt der fehlende Haushalt des
       Landes. „Wir können das Geld bei elf Mitarbeitern nicht vorstrecken“, sagt
       Vereinsvorsitzende Jana Lübeck (Linke). Sie glaubt, wenn Landrat Stephan
       Meyer (CDU) gewollt hätte, wäre zumindest eine Vorfinanzierung auch über
       den Kreis möglich gewesen. Abschlagszahlungen für die Jugendhilfe hätte er
       versprochen gehabt, schriftlich hatte der Jugendring nichts. „Soziale
       Themen haben gerade einen schweren Stand“, konstatiert Lübeck.
       
       ## „Liste der Grausamkeiten“ in Dresden
       
       In der Landeshauptstadt fehlt ebenfalls Geld. Um sämtliche Pflichtaufgaben
       zu erfüllen, müsse Dresden freiwillige Leistungen kürzen, sagt
       Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP). Rund 70 Millionen weniger als letztes
       Jahr, bekommt die Stadt von der Landesregierung. Nachdem sich das im
       vergangenen Jahr abgezeichnet hatte, plante er nicht nur eine höhere
       Grundsteuer, sondern auch die Streichung vieler sozialer Angebote. „Liste
       der Grausamkeiten“ hat er das genannt. Doch dagegen regt sich Protest.
       
       Am Samstag versammeln sich in Dresden um 13 Uhr vor dem Rathaus etwa 150
       Menschen. „Kürzungen? Nicht mit uns!“, steht auf einem Banner. Das Bündnis
       „Jugend gegen Kürzungen“ hat zur Demonstration aufgerufen, von den sieben
       Redner:innen ist einer über 20 Jahre alt.
       
       In ihren Appellen thematisieren sie die angekündigten Einsparungen bei der
       Jugendsozialarbeit und beim ÖPNV. Kapitalismuskritisch analysieren sie
       dabei die Argumente, mit denen Hilbert die Kürzungen begründet. Nach einer
       halben Stunde ziehen sie los, von lauter Punkmusik begleitet und
       vereinzelten Sprechchören gegen die Kürzungen, durch die Dresdner Altstadt.
       
       In Leipzig bemüht sich das Beratungszentrum Bel derweil um Kontakt mit
       Landtagsabgeordneten: Mit Vertreter:innen der Linken, Grünen, SPD und
       CDU hätten sie schon gesprochen, erzählt Mona Herdmann. Sie sollen
       Sozialministerin Köpping umstimmten, sie davon überzeugen, dass es das Bel
       in Sachsen braucht.
       
       Herdmann glaubt, der Landesregierung sei nicht klar, was verloren gehe. So
       eine Beratungsstelle zu organisieren, brauche Zeit. Der „Leidensweg“ von
       Betroffenen verlängere sich, wenn sie keine frühe Hilfe bekommen. „Das ist
       aus wirtschaftlicher Sicht irrational, wenn man weiß, wie viel Behandlung
       beispielsweise eine chronifizierte Anorexie braucht und was ein
       Klinikaufenthalt kostet.“ Um sich selbst mache sie sich keine Sorgen, sie
       finde schon einen Job, sagt Herdmann. „Aber wenn das ganze gesammelte
       Wissen hier versinkt, finde ich das sehr traurig.“
       
       26 Jan 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR David Muschenich
       
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