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       # taz.de -- Befreiung des KZ Auschwitz: Niemals wieder für alle
       
       > Erica Fischer ist Nachfahrin von Holocaustüberlebenden. Sie hat eine
       > klare Forderung an die, die in Auschwitz der Befreiung von den Nazis
       > gedenken.
       
   IMG Bild: Auschwitz, 27. Januar 2025: am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers besuchen Menschen die Gedenkstätte und das Museum
       
       Heute findet in Auschwitz-Birkenau die [1][Gedenkveranstaltung] anlässlich
       des 80. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers statt, in dem über
       eine Million Menschen ermordet wurden, überwiegend Jüdinnen und Juden, aber
       auch nichtjüdische Pol:innen, Roma und Sinti, sowjetische Kriegsgefangene
       und Homosexuelle.
       
       Seit Beginn des Ukrainekriegs sind Vertreter Russlands nicht mehr zu der
       Gedenkveranstaltung eingeladen. Gegen Wladimir Putin wurde 2023 vom
       Internationalen Strafgerichtshof wegen des Verdachts, für die Deportation
       ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich zu sein, Haftbefehl
       erlassen. Über Putin mag man denken, was man will, festzuhalten ist jedoch,
       dass es die Rote Armee war, die am 27. Januar 1945 das Lager befreite und
       7.000 Überlebende in einem unbeschreiblichen Zustand vorfand. Die Russische
       Föderation gilt als Nachfolgestaat der Sowjetunion.
       
       Einen Haftbefehl hat der Strafgerichtshof letzten November auch gegen den
       israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu erlassen. Der jedoch könnte
       an der Veranstaltung teilnehmen, weil die polnische Regierung den
       Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und [2][Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit] nicht umsetzen wird. Als Mitgliedsland des Gerichts wäre
       Polen verpflichtet, ihn in Haft zu nehmen, doch der Gerichtshof hat keine
       Möglichkeit, dies durchzusetzen. Israel selbst ist, wie die USA, nicht
       Mitglied des Gerichts und bestreitet dessen Zuständigkeit.
       
       Der Verantwortliche für den Völkermord an bislang mindestens 47.000
       palästinensischen Zivilist:innen, überwiegend Frauen und Kindern, oder ein
       Vertreter seiner Regierung werden also ihr Haupt beugen in Anerkennung der
       jüdischen Opfer eines beispiellosen Genozids. Seite an Seite mit deutschen
       Politiker:innen, die sich durch ihr Schweigen zum Genozid an den
       Palästinenser:innen und die Waffenlieferungen an Israel zu
       Kompliz:innen gemacht haben.
       
       Ich bin froh, dass meine [3][polnischjüdische] Mutter diese Schande nicht
       miterleben muss. Ihre Eltern wurden 1942 im Vernichtungslager Treblinka
       ermordet. Direkt vom Zug wurden sie in die Gaskammer getrieben, wo es noch
       etwa 20 Minuten dauerte, bis sie tot waren. Davor hungerten und froren sie
       im Getto von Warschau inmitten von stinkendem Müll und Sterbenden auf den
       Straßen, wie heute die Menschen in Gaza.
       
       Meine Mutter konnte sich nach England retten, wo sie sich als
       Hausangestellte durchschlug. Der Gedanke an den Tod ihrer Eltern hat sie
       ihr Leben lang verfolgt, auch wenn sie nie darüber gesprochen hat. Wie
       viele ihrer anderen Verwandten ermordet wurden, weiß ich nicht, auch über
       sie hat sie geschwiegen.
       
       Ihre beiden Geschwister verschlug es mit ihren Familien nach Australien,
       damals für meine Mutter praktisch unerreichbar. So blieb sie nach der
       Rückkehr mit ihrem österreichischen Mann nach Wien ihr Leben lang allein,
       umgeben von einstigen Täter:innen, in einem Österreich, das sich heute
       erneut zum Weg in die Vergangenheit aufmacht.
       
       Die Trauer über den Verlust ihrer Familie hat meine Mutter nie davon
       abgehalten, den Blick darauf zu richten, dass Hunderttausende an den
       Verbrechen der Nazis unbeteiligte Palästinenser:innen vom
       zionistischen Staat aus ihren Häusern getrieben und viele von ihnen
       ermordet wurden. Sie ging sogar so weit zu sagen, ein jüdischer Staat habe
       in Palästina nichts verloren. Die Fortsetzung und vielleicht Vollendung der
       Nakba von 1948 muss sie heute nicht mehr miterleben.
       
       Die Nibelungentreue der deutschen Regierung angesichts des Unrechts, das
       Israel an der palästinensischen Bevölkerung verübt, seit dem
       Waffenstillstand nun verstärkt in der Westbank, und die
       Selbstgerechtigkeit, mit der heute jede Kritik an Israel in Deutschland als
       Antisemitismus desavouiert wird, hätte meine Mutter zur Weißglut
       getrieben.
       
       So bin ich aufgewachsen, ohne religiöse Bindung, aber mit dem Stolz auf die
       Tradition eines humanistischen Judentums. Nicht von ungefähr sind viele der
       wortgewaltigen Kritiker:innen der Politik Israels Jüdinnen und Juden.
       Nicht von ungefähr lehnte Albert Einstein das Angebot ab, nach dem Tod von
       Chaim Weizmann im November 1952 Präsident von Israel zu werden.
       
       Der deutschen Mehrheitsmeinung ist das egal. Es ist für mich unerträglich,
       dass deutsche Menschen, ob Nachkommen von Täter:innen oder nicht, den
       antizionistischen Jüdinnen und Juden aus Israel, den USA, einigen wenigen
       aus Deutschland und mir selbst vorschreiben wollen, was wir zu denken
       haben, uns Förderungen, Ehrungen und Preise entziehen und sogar an der
       Einreise nach Deutschland hindern.
       
       Glaubt der deutsche Mainstream tatsächlich, dass er mit der Gleichsetzung
       von Antizionismus – einer legitimen politischen Position – und
       [4][Antisemitismus] die Schuld und die Scham ablegen kann, die wegen der
       Taten der Vorfahren nie vergeht? Indem er mich an ihrer Statt zur
       Antisemitin stempelt? Sei’s drum, ich trage die Beschimpfung erhobenen
       Hauptes. Mein Gewissen ist rein.
       
       Welchen Sinn hätte die Gedenkveranstaltung in Auschwitz, wenn sie nicht die
       Gelegenheit nutzt, einen Genozid zu verurteilen, der sich vor unser aller
       Augen vollzieht, und zwar genau im Namen des Genozids, dessen zu gedenken
       sie vorgibt?
       
       Welchen Sinn hätte es, an die Menschlichkeit zu appellieren, wenn nicht, um
       darauf hinzuweisen, dass die Gewalt und Zerstörungslust, mit der die
       israelische Armee gegen die Bevölkerung von Gaza vorging, die israelische
       Gesellschaft von Grund auf zerstören und brutalisieren wird? Dieser Krieg
       hat Israel zum Pariastaat gemacht. Danach wird für seine Bürgerinnen und
       Bürger nichts mehr so sein wie vorher.
       
       Die Lehre aus Auschwitz kann nur sein: „Niemals wieder für alle“, die
       Forderung nach Menschlichkeit, die vor keiner Gruppe, vor keiner Religion,
       vor keiner Ethnie halt macht.
       
       27 Jan 2025
       
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