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       # taz.de -- Ost-West-Debatte in der Lausitz: Knusperflocke und die Identitätsschnipsel
       
       > Vor Kurzem zog unsere Autorin in die Lausitz. Im dritten Teil ihrer Serie
       > im Vorfeld der Bundestagswahl geht es darum, worüber sich der Osten
       > aufregt.
       
   IMG Bild: Junge Männer im verlassenen Dorf Mühlrose
       
       Zunächst fand ich es vermessen, in der [1][taz-Themenwoche zu Emanzipation]
       über das ost- und westdeutsche Verhältnis zu schreiben. Emanzipation
       bedeutet, frei oder eigenständig zu werden, und impliziert, dass der Osten
       das bisher nicht ist.
       
       Ich entschied mich dann aber trotzdem es zu tun, nachdem ich
       „Ostdeutschland“ in die Google-Suche tippte und die Ergebnisse lauteten:
       „Wirtschaftlicher Aufholprozess kommt nicht voran“, „Wiedervereinigung
       gescheitert?“, „Geschichte der Radikalisierung“, „rückläufige
       Bevölkerungsentwicklung“, „keine gleichen Lebensverhältnisse“ und „warum
       junge Menschen Ostdeutschland verlassen“. Na, das macht doch Lust auf mehr!
       
       Ich selbst bin knapp 10 Jahre nach der Wende geboren. Für meine Eltern war
       „Ostdeutsch-Sein“ ein großer Teil ihrer Identität. Ich hingegen hatte lange
       nicht das Gefühl, das habe etwas mit mir zu tun. Zumindest nicht, bis es
       mich für mein Studium „rüber“ nach Baden-Württemberg zog. Als eine der sehr
       wenigen Studierenden aus dem Osten bekam ich diesen Identitätsschnipsel
       dort aber zugeschrieben.
       
       Aus meinem sächsischen Dorf war ich es gewohnt, dass die Leute andauernd –
       zugegeben nicht immer wertschätzend – über den Westen sprachen. Deshalb
       irritierte es mich, wie im Gegensatz dazu meine Mitstudierenden abseits von
       Nazi-Klischees kaum etwas über die neuen Bundesländer wussten. Während sich
       Ostdeutsche häufig am Thema Ost-West rieben, dachten viele Westdeutsche
       scheinbar recht wenig über das Thema nach.
       
       Aufgrund oder parallel zum Erstarken des Rechtspopulismus vor allem in
       strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands rückte die Thematik in den
       vergangenen Jahren immer mehr in den gesellschaftlichen Fokus. In der
       öffentlichen Darstellung bewegt sich Ostdeutschland dabei häufig irgendwo
       zwischen Sorgenkind und Schandfleck.
       
       Als die Autorin und Filmemacherin Grit Lemke im vergangenen Herbst den
       Bestseller-Autor [2][Dirk Oschmann] („Der Osten – eine westdeutsche
       Erfindung“) nach Hoyerswerda zum Gespräch einlud, fanden sich Gerda und ich
       in einem unüblich prall gefüllten Saal wieder.
       
       Die Veranstaltung begann mit der Abfrage, wer aus dem Publikum aus
       Westdeutschland stamme (fünf Hände) und wer ostdeutscher Herkunft sei (alle
       anderen). Im Zwiegespräch thematisierten die beiden Expert*innen die
       Klassiker der Ost-West-Unterschiede: Lebensbedingungen und -erwartungen,
       Einkommen, Vermögen und Repräsentanz in Führungs- und Machtpositionen.
       Neben diesen messbaren Ungleichheiten diskutierten die Autor*innen auch
       Fragen zur ostdeutschen Opferrolle und westdeutschen Arroganz. So weit, so
       bekannt.
       
       Interessant wurde es, als das Podium dem Publikum die Möglichkeit
       eröffnete, Fragen zu stellen. Kurze Stille. Schließlich hob ein mittelalter
       Mann die Hand. In einem ausschweifenden Redebeitrag echauffierte er sich
       über die heutige Veranstaltung. Er sei selbst einer der wenigen anwesenden
       Westdeutschen hier und fühle sich überaus ungerecht behandelt: „Ich habe
       einige sehr gute Freunde aus Ostdeutschland und wir haben uns immer nett
       unterhalten. Hier eine Stunde lang so spalterisch Probleme zu schüren – das
       hilft sicher keinem weiter!“ Spannend.
       
       ## Stimmung wurde hitziger
       
       Es meldete sich eine junge Frau zu Wort, sichtlich aufgebracht: „Dass sich
       nach allem Gesagten ausgerechnet ein Wessi als erstes äußert und solch
       einen Kommentar ablässt – das ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten.“ Im
       Grunde war die folgende Dreiviertelstunde ein wutentbranntes Ringen
       darüber, wer wo noch schlechter verdiene und wie am härtesten getroffen
       sei. Die Stimmung wurde zunehmend hitziger, mir war körperlich unwohl. Ein
       Kassierer aus Fulda beschwerte sich über unterirdische Arbeitsbedingungen,
       woraufhin eine Krankenschwester aus Hoyerswerda erklärte, warum es bei ihr
       noch schlimmer sei.
       
       Gerda flüsterte mir ins Ohr: „Ich glaub, wir müssen hier raus, ehe es
       handgreiflich wird.“ So etwas hatte ich bei einer Kulturveranstaltung noch
       nicht erlebt. Im Raum waren so viel Wut und Frust und Vorwürfe, dass es mir
       die Sprache verschlug. Mit einer merklich betroffenen Abmoderation wurde
       der Abend schließlich für beendet erklärt. Schnell raus. Das Ganze wollte
       mir nicht so richtig aus dem Kopf gehen. Es ist mehr als verständlich, dass
       Ungerechtigkeiten für Frust und Wut sorgen. Aber warum feinden sich dann
       ausgerechnet die Leute gegenseitig an, die doch offensichtlich alle unter
       ähnlich schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden?
       
       Immer öfter habe ich den Eindruck, dass viele Kämpfe an vermeintlichen
       Trennlinien ausgetragen werden, beispielsweise Ost und West oder auch Stadt
       und Land. Als dienten sie stellvertretend zum Spannungsabbau der
       eigentlichen Ungerechtigkeiten in einer hierarchisierten Gesellschaft.
       Haben also wirklich ein westdeutscher Kassierer und eine ostdeutsche
       Krankenschwester einen Konflikt, oder liegt das eigentliche Problem
       vielmehr in der ungleichen Machtverteilung zwischen wenigen Eliten und der
       breiten Bevölkerung? Vielleicht ist das auch nur der linke Idealismus, der
       da aus mir spricht, wer weiß das schon.
       
       Mir bleibt die Erkenntnis: Natürlich gibt es keine „universelle,
       ostdeutsche Identität“, die sich irgendwie integrieren oder vom Westen
       emanzipieren müsste. Oder gar könnte. Was es sehr wohl gibt, sind
       anhaltende strukturelle Benachteiligungen – insbesondere in den ländlichen
       Regionen des Ostens. Das spüren die Leute. Manchmal habe ich den Eindruck,
       wir verwenden mehr Energie darauf, über [3][Politikverdrossenheit] und
       Demokratieabkehr zu diskutieren, als diese grundlegenden
       Ungerechtigkeitserfahrungen ernst zu nehmen und für gleichwertige
       Lebensverhältnisse einzustehen. Diese hochkomplexe Gemengelage wird uns
       sicher noch über Jahre beschäftigen. Deshalb verbleibe ich vorerst damit,
       der eingangs erwähnten Schlagwortsuche wenigstens ein bisschen was
       entgegenzusetzen.
       
       Hier eine unsortierte Liste an Dingen, die ich persönlich mit
       Ostdeutschland (oder Sachsen oder Dorf oder wie auch immer) verbinde und
       super finde:
       
       Pragmatismus, Knusperflocken, Humor, Senioren-Kegeln, Arbeiterbiografien,
       zu starke und zu billige Rum-Cola auf dem Dorffest, Radio PSR,
       Einfallsreichtum, „Muss ja“ als Antwort, wenn man sich erkundigt, wie es
       jemandem geht, Bautzner Senf, zu ernst Skat spielen, praktisches Denken,
       geblümte Plastiktischdecken, Hilfsbereitschaft.
       
       29 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!6061997/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Linda Leibhold
       
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