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       # taz.de -- Antrag gegen Migration im Bundestag: Über die Merzgrenze
       
       > An einem historischen Tag fällt im deutschen Parlament die Brandmauer.
       > Friedrich Merz erhält für seinen Fünf-Punkte-Antrag eine Mehrheit.
       
   IMG Bild: Blaue Stunde im Bundestag: CDU-Chef Friedrich Merz nimmt die Zustimmung der AfD-Fraktion in Kauf
       
       BERLIN taz | Es sind eindringliche Momente, als der Bundestag am
       Mittwochmittag der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. Bundespräsident
       Frank-Walter Steinmeier greift Worte auf, die ihm der Holocaust-Überlebende
       Leon Weintraub mit auf den Weg gegeben hat: „Ich wiederhole es hier im
       Deutschen Bundestag. Nehmt die Feinde der Demokratie ernst“, sagt der
       SPD-Politiker. Nur wenige Stunden später soll geschehen, was bislang
       undenkbar schien: Die Unionsfraktion strebt eine Abstimmung an, in der sie
       Stimmen der AfD braucht, um eine Mehrheit im Bundestag zu erlangen – wohl
       wissend, dass sie sich des Zuspruchs der extrem rechten Partei sicher sein
       kann.
       
       Bevor der Bundeskanzler um kurz nach 14 Uhr zu einer Regierungserklärung
       ansetzt, eröffnet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) die Sitzung mit
       einer Schweigeminute für die Opfer des Messerangriffs von Aschaffenburg.
       Die Reihen im Plenarsaal sind gut gefüllt, doch ein prominenter Platz
       bleibt leer, als sich die Angeordneten zur Andacht erheben:
       AfD-Fraktionschefin Alice Weidel ist dem Gedenken ferngeblieben.
       
       Bas richtet mahnende Worte an die Abgeordneten und erinnerte an die Bluttat
       eines mutmaßlich psychisch kranken ausreisepflichtigen Asylsuchenden von
       vor einer Woche: „In einem Park in Aschaffenburg griff ein Mann eine
       Kindergartengruppe mit einem Messer an. Wir trauern um einen zweijährigen
       Jungen und wir trauern um einen Familienvater, der die Kinder vor noch mehr
       Leid bewahrt hat“, sagt sie. Die Tat werde auch die Regierungserklärung des
       Kanzlers und die anschließende Debatte prägen, so die SPD-Politikerin. Es
       gelte die Diskussionen „ehrlich, schonungslos und respektvoll“ zu führen.
       
       Doch die Stimmung im Plenaarsaal ist angeheizt. Für Olaf Scholz ist es die
       Gelegenheit, seinen Herausforderer von der CDU, Friedrich Merz, frontal
       anzugehen und dessen Pläne, einen Antrag zur Begrenzung von Migration mit
       den Stimmen der AfD durchzubringen, auseinanderzunehmen. Der
       SPD-Kanzlerkandidat hofft so die politische Stimmung im Land möglicherweise
       drehen zu können. Der Kanzler beginnt nachdenklich, nimmt zunächst Bezug
       auf die Worte [1][des Holocaust-Überlebenden Roman Schwarzman, der keine
       zwei Stunden zuvor im Plenum gesprochen hat]. „Menschlichkeit und
       Gerechtigkeit dürfen keine leeren Worte sein, hat er uns ins Stammbuch
       geschrieben.“ Am Grundrecht auf Asyl dürfe man deshalb nicht rütteln.
       
       ## Juristische, statt inhaltliche Kritik
       
       Im Folgenden zählt der Kanzler jedoch vor allem auf, wie die Regierung
       unter seiner Führung Asylbewerbern das Leben schwer gemacht hat:
       [2][Grenzkontrollen eingeführt], Abschiebehaft ausgeweitet, Rückführungen
       erhöht, und ja, der nächste Abschiebeflug nach Afghanistan sei schon in
       Vorbereitung.
       
       Auch seine Kritik an den Plänen der Union, die deutschen Grenzen für
       Asylbewerber zu schließen und tausende Menschen in Abschiebehaft zu nehmen,
       ist vor allem juristischer, nicht inhaltlicher Natur. Im Gegenteil, er
       bekräftigt: „Ja, wir brauchen mehr Abschiebehaftplätze.“
       
       Nur die SPD-Fraktion applaudiert, die Grünen wirken wie versteinert.
       
       Es ist der Jurist Olaf Scholz, der Merz „großspurige Ankündigen“ vorwirft,
       die rechtlich gar nicht funktionieren würden, ihn als Populisten, als
       Zocker und als deutschen Viktor Orbán geißelt.
       
       ## Scholz erntet Buhrufe aus der Unionsfraktion
       
       Der Demokrat Scholz warnt Merz vor einem „unverzeihlichen Fehler, mit dem
       er im Affekt den Grundkonsens dieser Republik“ aufkündige, wenn er für
       seine Anträge und Gesetzesvorschläge Mehrheiten mit der AfD in Kauf nehme.
       Der Wahlkämpfer Scholz appelliert schließlich an die Zuschauertribüne: Es
       dürfe nach der Bundestagswahl keine Mehrheit für CDU/CSU und AfD geben.
       „Sonst droht uns eine schwarz-blaue Regierung in Deutschland.“
       
       Für diese Bemerkung erntet der Kanzler kräftige Buhrufe aus den Reihen der
       Union, die fast bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt sind. Merz bezeichnet
       die Vorwürfe des Kanzlers, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen, als
       „infam“. Er greift dabei das Argument auf, das er in der vergangenen Woche
       öfter vorgetragen hat: „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch
       falsch, dass die Falschen zustimmen“, sagt Merz.
       
       Dabei macht der CDU-Chef selbst deutlich, wie gespalten er agiert. „Die
       werden unerträglich sein“, sagt er in Richtung der AfD und ihres möglichen
       Coups, einem Antrag der Union zu einer möglichen Mehrheit zu verhelfen.
       Doch eine Kehrtwende ist für den CDU-Chef nicht mehr drin, und er will auch
       nicht von seinem Vorhaben abrücken.
       
       Merz sagt, er werde vor die Wahl gestellt, „weiter ohnmächtig dabei
       zuzusehen, wie Menschen in unserem Land vergewaltigt, bedroht und ermordet
       werden“, oder nun konsequenter bei der Einwanderung vorzugehen. Damit ist
       der CDU-Chef auch rhetorisch ganz auf AfD-Linie angelangt.
       
       ## Wagenknecht nennt die Debatte „armselig“
       
       Der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel ist ihr Selbstbewusstsein wohl auch
       deshalb deutlich anzumerken. In ihrer Rede greift sie vor allem die Union
       scharf an: „Solange Sie sich an Ihre Brandmauer klammern, wird es auch
       weiter Brandmauertote geben“, sagte sie, während sie gleichzeitig weiter
       rassistisch Angst vor Morden und Vergewaltigung schürte.
       
       SPD-Chef Lars Klingbeil mahnt: „Herr Merz, stoppen Sie diesen Weg.“ Doch
       Scholz’ bester Mann ist der grüne Wirtschaftsminister und Kanzlerkandidat
       Robert Habeck – das merkt man auch am Applaus aus den Reihen der SPD.
       Habeck erinnert Friedrich Merz an sein Versprechen, keine Mehrheiten, auch
       keine zufälligen, mit der AfD zu suchen, und appelliert in eindringlichen
       Worten an ihn, „nicht mit denen abzustimmen“. „Das Argument, dass jetzt
       Mehrheit wird, was die Mehrheit will, schließt die AfD mit ein.“ Für
       Scholz’ etwas holprige Attacken findet Habeck plastische Bilder: „In einem
       Auto, wo der Fahrer nicht nach rechts und links guckt, möchte man nicht
       Beifahrer sein.“ Merz folge einer Logik, „die Recht brechen will, um Recht
       zu verändern.“
       
       [3][Die Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek] wirft SPD und Grünen
       vor, sich ebenfalls von den Rechten treiben zu lassen und eine
       Asylrechtsverschärfung nach der anderen beschlossen zu haben. Nur mit mehr
       Prävention und besseren Integrationsangeboten könnten weitere Taten
       verhindert werden.
       
       Ihre ehemalige Fraktionskollegin Sahra Wagenknecht bezeichnet die Debatte,
       ob man mit der AfD abstimmen solle oder nicht, als „trauriges Gezänk“. Das
       jahrelange Versagen der „alten Parteien“ hätte dazu geführt, dass die Werte
       der AfD durch die Decke gingen, wobei die Grünen die Hauptverantwortlichen
       seien. Die Worte der Chefin des Bündnis Sahra Wagenknecht quittiert selbst
       eine AfD-Abgeordnete mit Klatschen. Was diese auch freuen dürfte:
       Wagenknecht kündigt die Zustimmung ihrer Gruppe zum
       [4][Zustrombegrenzungsgesetz] der Union an. Da will die AfD ebenfalls
       mitstimmen.
       
       Die Union bringt im Anschluss an die 90-minütige Aussprache der
       Regierungserklärung des Kanzlers einen Antrag ein, in dem sie fordert, die
       Migration nach Deutschland durch pauschale Zurückweisungen von
       Asylsuchenden an den Grenzen zu stoppen. Es gelte, „Grenzkontrollen
       dauerhaft durchzuführen und Menschen zurückzuführen“, sagt CDU-Chef
       Friedrich Merz im Anschluss an die Rede von Scholz. Aus der Bank der AfD
       kommt der Zwischenruf prompt: „Das sind unsere Vorschläge.“
       
       Für diese Vorschläge, die von der Union als ein 5-Punkte-Plan zur
       Begrenzung der Einwanderung eingebracht werden, hat die AfD unlängst ihre
       Zustimmung signalisiert. Zwar handelt es sich bei den zwei
       Entschließungsanträgen, die die Konservativen eingebracht haben, nicht um
       Gesetze, sondern Appelle an die Bundesregierung. Doch mit der gemeinsamen
       Abstimmung steht die Brandmauer, die auch CDU-Chef Merz stets beschwört,
       erstmals ganz offen zur Debatte.
       
       ## Nach der Abstimmung blickt Merz regungslos geradeaus
       
       Die Mehrheit der abgegebenen Ja-Stimmen reicht, damit die Anträge
       durchkommen. SPD, Grüne und Linkspartei stellen zusammen 352 Abgeordnete
       und kündigten schon vorher an, mit Nein zu votieren. Doch es reicht nicht:
       Um 17.40 Uhr bricht Jubel bei der AfD aus, die Abgeordneten johlen. Mit 348
       Ja-Stimmen wird der Antrag der Union angenommen, 345 haben dagegen votiert.
       Die Union hat die Abstimmung gewonnen, doch die Abgeordneten schweigen,
       niemand applaudiert. Merz blickt regungslos geradeaus. Es ist
       SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der zuerst das Wort ergreift. „Die Union
       ist aus der politischen Mitte dieses Hauses ausgebrochen“, sagt er in
       Richtung des CDU-Chefs. SPD und Grüne beantragen eine
       Sitzungsunterbrechung. Man könne nicht einfach zur Tagesordnung
       zurückkehren.
       
       Als Merz erneut ans Rednerpult tritt, scheint er erst zu begreifen, was
       geschehen ist. „Ich suche in diesem Deutschen Bundestag keine anderen
       Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte. Wenn es hier heute solch
       eine Mehrheit gegeben hat, dann bedauere ich das.“ Er versucht halbherzig
       einen Ausweg, bietet Grünen und SPD Gespräche an. Am Freitag will die Union
       ihren Gesetzentwurf zur Begrenzung der Zuwanderung einbringen. Die
       Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, weist den CDU-Chef
       zurecht: „Ich rede über heute.“ Wenn man in die Gesichter in die AfD sehe,
       dann wisse man, was passiert sei. Sie wirft Merz vor: „Sie haben das zu
       verantworten.“ Weder die Grünen noch die SPD hätten im Vorhinein ein
       Gesprächsangebot erhalten, sondern lediglich eine Mail: „Prüfen und
       zustimmen.“
       
       Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, ist
       euphorisch. Er spricht von einem historischen Tag: „Das ist das Ende der
       rot-grünen Dominanz auch hier. Jetzt beginnt eine neue Epoche. Die führen
       wir an, führt die AfD an. Sie können folgen, Herr Merz.“
       
       29 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw05-de-zustrombegrenzungsgesetz-1042038
       
       ## AUTOREN
       
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