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       # taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Kino der Utopien
       
       > Das Babylon Mitte widmet sich dem Poetischen Realismus, in der Brotfabrik
       > betrachtet man den real existierenden Sozialismus aus kindlicher Sicht.
       
   IMG Bild: „Sabine Kleist, 7 Jahre“ (1981), Regie: Helmut Dziuba
       
       Die Bezeichnung „Poetischer Realismus“ für eine bestimmte Form des
       französischen Kinos der 1930er und 40er-Jahre entstammt der Nachkriegszeit,
       geprägt seinerzeit vom kommunistischen Filmhistoriker Georges Sadoul, dem
       daran vermutlich vor allem der Realismus, die Sozialkritik und die
       politischen Utopien gefielen, die einigen der Filme zu eigen waren.
       
       Es ist also kein Genre, von dem man hier spricht, und auch kein Stil wie
       etwa der amerikanische Film Noir, den der pessimistische Fatalismus von
       Werken wie „Le quai des brumes“ (1938) und „Le jour se lêve“ (1939)
       übrigens durchaus beeinflusste. Vielmehr steht der „poetische Realismus“
       für eine Art Zeitgeist, der zwar gewisse Gemeinsamkeiten schuf, dann jedoch
       von Filmemachern wie Marcel Carné/Jacques Prévert, Jean Renoir, Julien
       Duvivier und Jean Vigo sehr individuell ausgestaltet wurde.
       
       Gemeinsam war vielen Filmen der Held aus dem Volk, wie ihn Jean Gabin als
       unumstrittener männlicher Star jener Tage so brillant verkörperte: Er war
       der Deserteur in „Le quai des brumes“ (R: Marcel Carné), der Arbeiter, der
       in „Le jour se lêve“ (R: Marcel Carné) den Verführer seiner Freundin
       erschossen hat und sich in seiner Wohnung verbarrikadiert, und auch der
       Gangster, dem in „Pépé le Moko“ (R: Julien Duvivier, 1937) sein Versteck in
       Algier langsam zum Gefängnis wird.
       
       Eine Zukunft gibt es für diese Figuren nicht, und die Ausweglosigkeit ihrer
       Situation findet sich wieder in den Studiokulissen wie sie der Designer
       Alexander Trauner für die Carné-Filme entwarf: trostlose Mietskasernen und
       schäbige Häuschen neben Bahngleisen, eingehüllt vom Rauch der
       Dampflokomotiven oder eben ein schummeriger „Hafen im Nebel“, in dem es für
       den Deserteur kein gutes Ende nimmt.
       
       Die Filme von Jean Renoir haben einen ganz anderen Tonfall: In dem
       Kriegsgefangenendrama „La grande illusion“ (1937) kommt etwa Renoirs
       humanistische Gesinnung deutlich zum Ausdruck, „La règle du jeu“ (1939)
       blickt voller Ironie auf die Welt der Wohlhabenden, und die Tragikomödie
       „Le crime de M. Lange“ (1936) erzählt eine vergnügliche kleine
       Gesellschaftsutopie: Nachdem ein Schriftsteller seinen ausbeuterischen
       Verleger umgebracht hat, führen die Angestellten den Verlag einfach als
       erfolgreiche Kooperative weiter.
       
       [1][Im Kino Babylon Mitte gibt es den „poetischen Realismus“ mit fünfzehn
       ausgewählten Beispielen] vom 20.1. bis 22.1. zu sehen, darunter mit „Les
       enfants du paradis“ (1945) auch den letzten Höhepunkt der Zusammenarbeit
       von Marcel Carné mit seinem Autor Jacques Prévért, die hier in einem
       romantischen Melodram sehr poetisch von Geschehnissen rund um den Boulevard
       du Crime erzählen, die Pariser Theaterstraße des 19. Jahrhunderts (Le quai
       des brumes, 21.1., 19.30 Uhr; Le jour se lève, 21.1., 20 Uhr; Pépé le moko,
       22.1., 18 Uhr; Le crime de M. Lange, 20.1., 22.15 Uhr; La règle du jeu,
       21.1., 21.15 Uhr; La grande illusion, 20.1., 20 Uhr; Les enfants du
       paradis, 20.1., 19.30 Uhr, Babylon Mitte).
       
       Von poetischem Realismus könnte man vielleicht auch beim 1981 entstandenen
       DEFA-Kinderfilm „Sabine Kleist, 7 Jahre“ von Helmut Dziuba sprechen:
       Sabine, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern in einem Heim lebt, verkraftet
       es nicht, dass ihre neue Bezugsperson, die Erzieherin Edith, aufgrund ihrer
       Schwangerschaft den Job aufgibt.
       
       Das Mädchen reißt aus, stromert durch Ost-Berlin, trifft auf die
       verschiedensten Menschen – und wird dabei ein Stück reifer und
       verständiger. Ein wiederzuentdeckender Blick auf den real existierenden
       Sozialismus aus kindlicher Sicht, ohne großes Drama und ohne erhobenen
       Zeigefinger (18.1.-19.1., 14 Uhr, [2][Brotfabrik Kino]).
       
       Besonders zu loben ist auch stets das Kinderfilmprogramm des Wolf Kinos in
       Neukölln: Hier werden Filme gezeigt, die die Intelligenz und das emotionale
       Einfühlungsvermögen von Kindern nicht unterschätzen. Das Kurzfilmprogramm
       „Hüpfen, Fliegen, Träumen“ bietet Unterhaltung und mehr für Vorschulkinder:
       fünf kurze Animationsfilme ganz ohne Dialoge, aber mit viel Action und
       Bewegungsdrang (18.1., 14 Uhr, 19.1., 13.40 Uhr, [3][Wolf Kino]).
       
       16 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://babylonberlin.eu/programm/festivals/r%C3%A9alisme-po%C3%A9tique
   DIR [2] https://www.brotfabrik-berlin.de/events/sabine-kleist-7-jahre/?occurrence=2025-01-18
   DIR [3] https://wolfberlin.org/de/programm/kinderkino/hueuefen-fliegen-traeumen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Penning
       
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