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       # taz.de -- Ausstellung „Illusion“ in Hamburg: Das Sein als Anschein
       
       > Hamburgs Kunsthalle führt in der Ausstellung „Illusion“ durch
       > Kunstgeschichte. Das ist amüsant, auch wenn Werke zu Religion und
       > Sozialutopie fehlen.
       
   IMG Bild: Kunst des Spiegelns: Installation „Concave Convex Mirror (Triangle)“ des indisch-britischen Bildhauers Anish Kapoor
       
       Hamburg taz | Alles ist Illusion – jedenfalls alles, was nicht direkter
       Kontakt mit fester Materie ist. Doch selbst da sind Zweifel angebracht – im
       Mikrobereich sind auch Alltagsobjekte kaum real, nur eine Ansammlung von
       vielen Löchern zwischen Atomen.
       
       Das Hauptfeld der Illusionen aber sind die Träume und die Kunst – und
       leider auch die Medien und die Politik. Was nicht heißt, dass dergleichen
       nicht praktische Auswirkungen hätte. Es fängt schon damit an, dass unser
       Selbstbild trügerisch ist: Jeder Spiegel zeigt uns seitenverkehrt, nicht
       aber über Kopf, wie es nach den optischen Gesetzen sein müsste. Das Gehirn
       verarbeitet die Bildinformation des Auges so, dass es möglich ist, mit der
       Welt klarzukommen.
       
       Eine Ausstellung zum eher offenen Thema „Illusion“ wie jetzt in der
       Hamburger Kunsthalle kann in vielen Aspekten epochenübergreifend nahezu
       alle Kunst in allen Genres herbeizitieren – auch den speziellen Spiegel von
       Anish Kapoor, der erstaunlicherweise alles kopfüber zeigt.
       
       In zehn Kapiteln zwischen surrealen Inhalten und feinmalerischen
       Formalismen, mythischen Visionen und sowieso immer falscher Fotografie
       changierend, führt die Kuratorin Sandra Pisot in ihrer Ausstellung von
       antiken Verwandlungsmythen über Bildträume zu einer sterbenden Amsel und
       der lebensechten Arbeitslosenfigur von Duane Hanson, die immer schon in der
       Kunsthalle irritierte.
       
       ## Jedes Bild ein Fenster
       
       Der Jüngling Narziss verliebt sich in sein trügerisches Spiegelbild, die
       Illusion, ein anderer zu sein, wird hinter Masken gesucht. Räume werden mit
       Fensterbildern erweitert, die in eine phantasierte andere Welt führen. Seit
       der Beherrschung der Zentralperspektive kann jedes Bild als ein Fenster
       betrachtet werden – und manchmal greift eine Hand nach dem Rahmen. Erst im
       Surrealismus ersetzen etwa bei Magritte gemalte Wörter die Bilder und die
       zerbrochenen Fensterscheiben nehmen die darin gespeicherte Aussicht mit in
       ihren Zerfall.
       
       Die Blüte der Augentäuscherei war das [1][Barock], im Großen in der
       Architektur und auf Leinwand in Stillleben und Trompe-l’oeil-Stücken. Ein
       Bündel Spargel, halbgefüllte Weingläser oder leicht konfuse Pinnbretter,
       schnöde Briefumschläge, einfache Schmutzspuren oder im Kunstraum aus Ritzen
       wachsendes Unkraut werden auch heute noch verblüffend wie real vorgeführt.
       
       Perfekt der Realität Nachgeahmtes als real wahrzunehmen, ist ein teils
       lustiges, teils philosophisches Vergnügen. Etwas für real zu halten, nur
       weil es so schön dargestellt wurde, ist allerdings durchaus nicht
       vergnüglich, seien es liebliche Engel oder krasse Fake-News.
       
       Die größte Illusion überhaupt fehlt leider weitgehend in der Ausstellung:
       Fast alles Religiöse und Sozialutopische bleibt als vielleicht immer noch
       zu kontrovers außen vor. Nun war die sozialistische Idee ja einem plumpen
       Realismus verfallen, der Utopisches als Ziel konkretisieren sollte – was
       letztlich aber auch eine Illusion war. Das Mittelalter dagegen schätzte in
       seinen endzeitlichen Illusionen die zeichenhafte Vergeistigung am höchsten.
       
       Davor in der Antike und dann seit der Renaissance galt die Imitation der
       sichtbaren Welt als Maß aller Dinge. Und auch wenn es stets notwendig ist
       zu betonen, dass ein Bild eben nicht die dargestellte Sache ist, galt
       spätestens seit Giotto immer wieder deren täuschend echte Vorführung als
       malerisches Ziel.
       
       Berühmt ist da die alte Legende vom Wettstreit zwischen Zeuxis und
       Parrhasios: Hatte der erstere Trauben so täuschend gemalt, dass Vögel
       kamen, um daran zu picken, gewann der andere damit, dass er den
       Konkurrenten dazu brachte, zu verlangen, endlich den Vorhang über seinem
       Bild zu lüften – der aber war gemalt. Es ist also klar, dass auch diese
       Ausstellung so einige Trauben und Vorhänge zeigt, wobei als Gipfel der
       Illusionsverwirrung neben den gemalten Vorhängen, beispielsweise von
       Superstar [2][Gerhard Richter], dann ein von Edith Dekyndt bemalter
       „echter“ Vorhang hängt.
       
       Zu sehen ist eine in der Breite amüsante Ausstellung mit schönen Leihgaben
       und vielen Werken der Kunsthalle. Wobei seltsamerweise sämtliche Foto- und
       Videoarbeiten ausschließlich vom Schauspieler, DJ und Bildermacher [3][Lars
       Eidinger] sind – eine dann doch zweifelhafte Illusion von dessen Bedeutung.
       Und dass am Ende einige der gezeigten Bilder mit Datenbrille in Virtueller
       Realität zu manipulieren sind, meinen auch ernsthafte Kunsthistoriker dem
       Publikum schuldig zu sein.
       
       Die Illusionshaftigkeit der [4][Realität] ist aber eine auf Veränderung
       gezielte aufklärerische Erkenntnis, nur zum geringen Teil ein
       Jahrmarktspaß. Da bleibt Goyas Ungeheuer gebärender „Schlaf der Vernunft“
       aktuell. Aber auch der Traum des absolutierten Vernunftdiktats kann ins
       Verderben führen. Beides ist weit über die dargestellten Nachtmonster
       hinaus leider keine Illusion.
       
       21 Feb 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Hajo Schiff
       
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