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       # taz.de -- Tagung über die Rettung der Demokratien: Bessere Gärtner für die Zukunft gesucht
       
       > Wie kann man den Liberalismus neu denken, fragte eine internationale
       > Tagung in Berlin. Dafür analysierte sie die Schwächen in der Gegenwart.
       
   IMG Bild: Das Schlusswort hatte der online zugeschaltete russische Dissident Garry Kasparow (hier: Archivaufnahme vom 2- Oktober 2023)
       
       Ein Baumstumpf mit abgehackten Ästen, nur aus einem sprießen noch Blätter:
       Unter diesem tristen Emblem lud am 16. Januar der Thinktank Liberale
       Moderne zu einer Tagung in Berlin. Die Stimmung im Allianz-Forum war dem
       Ernst der Lage angemessen: Kurz vor Trump fühlten rund 30 Intellektuelle
       und Politiker:innen unter der Federführung von [1][Ralf Fücks] der
       liberalen Demokratie den Puls. „Rethinking Liberalism“, den Liberalismus
       neu denken, lautete das Motto. Über allem stand die bange Frage: Ist die
       parlamentarisch verfasste liberale Demokratie westlicher Prägung noch zu
       retten?
       
       Von einer globalen „illiberalen Konterrevolution“ sprach Fücks eingangs,
       und dass das größte Problem der liberalen Demokratie nicht die Stärke ihrer
       Gegner sei, sondern ihre eigene Schwäche. Die mitveranstaltende
       [2][Karolina Wigura] vom polnischen Thinktank Kultura Liberalna verglich
       das liberale Versprechen mit einem Garten, der gut gepflegt werden müsse,
       in letzter Zeit aber vernachlässigt worden sei.
       
       Der Diagnose stimmte auch Alan S. Kahan zu, Professor für Britische
       Zivilisation in Versailles: Unkraut gedeihe am besten auf Mangelböden. Dass
       autoritäre Strömungen so viel Zuspruch bekämen, liege an einem moralischen
       Vakuum in liberalen Gesellschaften: Diese zeichne die Abwesenheit von Angst
       aus – in den vergangenen Jahrzehnten habe man den Fokus zu sehr auf
       Wahlfreiheit gelegt. Menschen wünschten sich aber auch moralische
       Leitplanken.
       
       ## Arroganz der Macht
       
       Jan Zielonka, Politikprofessor in Venedig, sah eher die Arroganz der Macht
       am Werk: Seit dem Zweiten Weltkrieg und mehr noch seit dem Fall des
       Eisernen Vorhangs hätten sich liberale Demokratien als alternativlose
       Sieger der Geschichte gesehen. Die Publizistin Constanze Stelzenmüller, die
       bei der Brookings Institution forscht, fragte, ob der Flirt junger Leute
       mit dem Autoritarismus ein Generationenproblem sei: Wer in den Ruinen des
       Finanzsystems aufgewachsen sei und mit wechselnd erfolgreichen
       Interventionen westlich-demokratischer Staaten, fühle sich vom
       Freiheitsversprechen der liberalen Moderne betrogen.
       
       Die Politikstrategin Jessica Berlin vom Center for European Policy Analisis
       (CEPA) war dagegen der Ansicht, dass die liberale Weltordnung westlicher
       Prägung an ihrer eigenen Hybris zugrunde gehe. Für viele Teile der Welt
       habe sie ohnehin nie Gültigkeit besessen.
       
       Dass die Tagung nicht bei Diagnosen und Selbstkritik stecken blieb (oder
       Widersprüche diskutierte, wie die zwischen der ehrwürdigen politischen Idee
       des bürgerlichen Liberalismus und der von der FDP praktizierten
       Ampel-Verantwortungslosigkeit), lag an den vielen osteuropäischen und
       postsowjetischen Stimmen. Diese verliehen der Debatte Dringlichkeit: Der
       aus Kyjiew angereiste Philosoph Wolodymyr Yermolenko erinnerte daran, dass
       Freiheit nicht selbstverständlich sei, dass sie leicht verloren gehe und
       dass es für Freiheit territoriale Souveränität brauche – um die sein Land
       seit drei Jahren kämpfe.
       
       ## Kampf für die Werte der Europäischen Union
       
       Für die Selbstgeißelung westlicher Demokrat:innen hatte er wenig
       Verständnis. Der polnische Politikwissenschaftler Jarosław Kuisz erinnerte
       daran, dass in der Ukraine, in Georgien und Belarus jeden Tag Menschen für
       die Werte der Europäischen Union stürben.
       
       Auch die bulgarischstämmige Politologin Ewa Atanassow machte deutlich: „Wir
       sind im Kampf“, die deutsche Gesellschaft müsse das endlich verstehen. Wenn
       er als politisches Angebot überleben wolle, müsse der Liberalismus
       Patriotismus und Nation wieder entdecken – ein starker Staat sei
       Grundbedingung für bürgerliche Freiheitsrechte. Das Schlusswort hatte der
       online zugeschaltete russische Dissident [3][Garry Kasparow], der an die
       Versammelten appellierte: „Wir alle müssen uns endlich verhalten wie ein
       Land im Krieg und der Ukraine beistehen!“
       
       20 Jan 2025
       
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