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       # taz.de -- Asselborn über Ukraine-Verhandlungen: „Ein aufgezwungener Frieden wäre inakzeptabel“
       
       > Luxemburgs Ex-Außenminister Asselborn über die Beteiligung von EU-Truppen
       > bei einem Waffenstillstand, die Rolle Deutschlands und das Verhältnis mit
       > Trump.
       
   IMG Bild: Ex-Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, hier bei einer Nato-Konferenz in Berlin am 9. November 2023
       
       taz: Herr Asselborn, Sie werden oft als der „letzte Europäer“ bezeichnet –
       und Europa steht derzeit wahrlich unter keinem guten Stern. 
       
       Jean Asselborn: Das ist ein wenig übertrieben. Europa darf nicht am Ende
       sein. Europa wurde gegründet, damit die Deutschen und die Franzosen
       aufhören, sich zu bekriegen und Millionen Menschen mit ins Leid stürzen.
       Europa ist jetzt wichtiger denn je, auch wenn es vielleicht andere
       Perspektiven hat, allein für Frieden zu sorgen. Das sollte man nicht so
       einfach wegwerfen.
       
       taz: Aber die deutsch-französische Achse ist derzeit nicht besonders
       stabil. 
       
       Jean Asselborn: Ihr in Deutschland wählt am 23. Februar. Und dann wird es
       eine Regierung geben, und in der Opposition Demokraten und auch
       Rechtsextreme. Die Rechtsextremen verpönen Europa, sie wollen Europa
       zerbrechen. Aber ich bin überzeugt, [1][die Deutschen können die AfD
       stoppen]. Jetzt kommen sie sowieso nicht in die Regierung, aber in der
       Zukunft? Demokraten müssen in Deutschland zusammenstehen.
       
       taz: In Frankreich ist die Lage noch komplizierter. 
       
       Jean Asselborn: In Frankreich gibt es jetzt einen Präsidenten, der nicht
       mehr die Zügel in der Hand hält. [2][Die Regierung Bayrou] kann auch in den
       nächsten Tagen und Wochen wieder stürzen – und das könnte wiederum in
       Frankreich eine Krise auslösen. Die [3][Auflösung des Parlaments in
       Frankreich] (nach der Europawahl am 9. Juni 2024 – Anmerk. der Redaktion)
       war keine gute Idee. Frankreich und Deutschland sind die beiden
       Lokomotiven, die die EU hat. Und wenn eine dieser zwei Lokomotiven – in
       diesem Fall Frankreich – keine Regierung hat – dann ist Europa nicht
       voranzubringen. Auch nach der Wahl in Deutschland brauchen wir schnell
       wieder eine stabile Regierung. Davon hängt das Schicksal Europas ab.
       
       taz: Hängt das Schicksal Europas nicht viel stärker von den Ländern im
       Osten Europas ab? Von Polen oder den baltischen Staaten? 
       
       Jean Asselborn: Ohne Polen wäre die Osterweiterung 2004 nicht zustande
       gekommen. Und die Balten sind ganz stark verbunden mit den Polen. Zwischen
       2015 und 2023 hat sich Polen allerdings mit der Regierung Kaczyński selbst
       ein Bein gestellt. Hinzu kam die Zusammenarbeit zwischen dem ungarischen
       Präsidenten Orbán und Kaczyński, die ein gemeinsames Ziel hatten: Europa zu
       destabilisieren. Wenn der Krieg der Russen, der am 24. Februar 2022 begann,
       einmal vorüber ist und wir über die Erweiterung der EU sprechen, dann
       [4][werden der Osten und natürlich Polen] eine noch wichtigere Rolle
       spielen.
       
       taz: Ungarn, Slowakei, Österreich, die Niederlande, Italien – ein
       [5][Rechtsruck in Europa] ist nicht wegzudiskutieren. Sie sprachen sogar
       von einer Orbánisierung Europas. Wie stark sind diese Kräfte? 
       
       Jean Asselborn: Europäische Demokratie bedeutet Rechtsstaatlichkeit, freie
       Presse, freie Medien und natürlich eine unabhängige Justiz. Frieden ist
       nicht durch Verträge zu garantieren. Frieden ist nur zu garantieren durch
       Werte, die wir leben. Wenn Kickl und Wilders und Le Pen und Orbán und Fico
       einmal Europa dominieren, dann tut es mir leid für zukünftige Generationen.
       Dann ist die Europäische Union nicht mehr die Garantie, die sie sein muss,
       dass diese Region der Welt in Frieden leben kann.
       
       taz: Seit 24. Februar 2022 herrscht wieder Krieg in Europa. In Deutschland
       wurde die Zeitenwende ausgerufen, es wird über die Wiedereinführung der
       Wehrpflicht gesprochen, über mehr Geld für Verteidigung. Abschreckung und
       Aufrüstung statt Frieden? 
       
       Jean Asselborn: Artikel 61 der Charta der Vereinten Nationen sagt: Wenn ein
       Land angegriffen wird, hat es das Recht, eine Koalition zu bilden und dann
       Hilfe zu bekommen, um sich wehren zu können auf seinem Territorium. Das
       ist, was wir dann Schritt für Schritt gemacht haben. Den einen ging es zu
       weit, den anderen ging es nicht schnell genug.
       
       Aber: Wir sind in Europa, wir haben von der Friedensdividende gelebt. Wir
       haben nach dem Fall der Mauer geglaubt, dass wir mehr Geld investieren
       können in Kooperation, in Entwicklungshilfe, in Sozialbudgets als in
       Waffen. Das kann aus heutiger Sicht ein Fehler gewesen sein. Aber das hat
       jeder vernünftige Politiker damals und auch die Menschen in Europa so
       gesehen.
       
       taz: Deutschland wurde in den vergangenen mehr als 1.000 Tagen zum
       zweitgrößten Waffenlieferanten der Ukraine. Und trotzdem wurde und wird dem
       deutschen Kanzler Scholz Zögerlichkeit vorgeworfen. Gerechtfertigt? 
       
       Jean Asselborn: Ich bin damit nicht einverstanden. Deutschland ist ja kein
       normales Land, sondern ein Land, das im Osten und im Westen anders tickt.
       Neuhardenberg ist nicht Koblenz oder Rüdersheim. Das ist ein anderes
       Deutschland, ein sehr sympathisches Deutschland. Die Menschen dort waren
       immer auf einer Linie, dass man als Europäer irgendwie schauen muss, dass
       man diese Äquidistanz zwischen Russland und Amerika hält.
       
       taz: Haben Sie dafür Verständnis? 
       
       Jean Asselborn: Ich war auch einer von denen, die immer geglaubt haben, wir
       müssten versuchen, mit Russland ein normales Verhältnis zu haben. Aber das
       wurde am 24. Februar 2022 alles von Putin kaputtgeschlagen. 2005 waren wir
       mit Juncker, mit Barroso und mit Solana einen ganzen Tag im Kreml und haben
       eine Vereinbarung für den Frieden (For Peace Agreement) unterschrieben. Da
       ging es um Außenpolitik, Innenpolitik, Bildungspolitik et cetera. Damals
       war Russland ein strategischer Partner der Europäischen Union. Putin hat
       uns damals gesagt, die größte Katastrophe im 20. Jahrhundert sei der
       Zusammenbruch der Sowjetunion. Aber es gibt kein Argument, Schulen,
       Spitäler, Menschen zu bombardieren.
       
       taz: Und gibt es wiederum seitens der EU kein anderes Mittel als Waffen, um
       Putin in die Schranken zu weisen? 
       
       Jean Asselborn: Ich kann mich noch genau erinnern, als wir damals mit den
       europäischen Außenministern [6][die Bilder von Butscha] sahen. Da haben wir
       beschlossen, dass sich die Ukraine gegen die Angriffe der Russen wehren
       können muss. Aber so einfach geht das nicht. Und es braucht Zeit, bis es
       zielgenaue Sanktionen geben kann. [7][Aber Deutschland hat auch vieles
       ermöglicht, was den Wiederaufbau angeht.]
       
       taz: Seit diesem Montag ist Donald Trump erneut Präsident der USA. Sein
       Versprechen, den Krieg in 24 Stunden zu lösen, hat er zurückgezogen. Er
       nennt nun einen Zeitrahmen von sechs Monaten. Welche Taktik verfolgt Trump
       mit der Ukraine? 
       
       Jean Asselborn: Trump möchte mit Putin sprechen, doch was der Kreml genau
       anstrebt, bleibt unklar. Sollte es Trump gelingen, einen Waffenstillstand
       zu erreichen, könnten die USA Europa dazu auffordern, mit Truppen die
       Demarkationslinie zu sichern – idealerweise im Rahmen der UNO, auch wenn
       das schwierig ist.
       
       taz: Würden Sie das befürworten? 
       
       Jean Asselborn: Man muss sehr genau darauf achten, was damit gemeint ist.
       Es geht hier nicht um europäische Truppen, die gegen Russland kämpfen. Wenn
       von Truppen in der Ukraine gesprochen wird, wird oft missverstanden, dass
       es um Kampfhandlungen gegen Russland geht. Das wäre hier nicht der Fall.
       Das Ideal wäre ein Einsatz von Blauhelmen – einer UNO-Mission, in der auch
       Europäer vertreten sind – um die Demarkationslinie zu überwachen und
       sicherzustellen, dass der Waffenstillstand eingehalten wird. Ich
       unterstütze diesen Ansatz, doch das wird eine große Herausforderung für die
       Europäer.
       
       Die Frage bleibt, ob die Amerikaner unter Trump bereit wären, sich daran zu
       beteiligen. Trump signalisiert ja, dass er weder Geld in die Ukraine
       stecken noch Truppen in europäische Konflikte entsenden will. Stattdessen
       erwartet er, dass die Europäer die Verantwortung für Sicherheit in ihrer
       Region übernehmen. Es handelt sich hier um eine friedenssichernde und keine
       kämpfende Mission.
       
       Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Welche Druckmittel verhindern, dass
       Putin erneut eskaliert? Sicherheitsgarantien sind dafür unerlässlich.
       
       taz: Welche Rolle spielt Europa auf dem Weg zu einer verhandelten Lösung? 
       
       Jean Asselborn: In den Verhandlungen hätten die Amerikaner, insbesondere
       unter Trump, eine stärkere Position als die Europäer. Vor einem Jahr, als
       die Ukraine keine Mittel mehr zur Verteidigung hatte, kam die Munition
       zeitweise ausschließlich aus Europa, da die Republikaner US-Hilfen
       blockierten. Trump könnte daher Druck ausüben, um Verhandlungen
       voranzutreiben. [8][Doch ein aufgezwungener Frieden wäre inakzeptabel.] Die
       Ukraine und Europa müssen beteiligt sein; ein Deal ausschließlich zwischen
       Trump und Putin wäre problematisch.
       
       Die humanitären Kosten des Krieges sind enorm, mit nahezu einer Million
       Toten auf beiden Seiten. Eine Amnestie könnte helfen, den Konflikt zu
       beenden, doch die konkreten Sicherheitsgarantien und Schritte nach einem
       Waffenstillstand, wie etwa die EU-Erweiterung, müssen sorgfältig geplant
       werden. Trump wird an seinem Umgang mit dem Krieg in der Ukraine gemessen
       werden.
       
       taz: Sie befürworten also, dass Trump möglichst schnell ein Treffen mit
       Putin organisiert – sei es im Kreml, in Washington oder auf neutralem
       Boden? 
       
       Jean Asselborn: Ja.
       
       taz: Das alles kostet Geld. Damit wären wir schnell bei einer erneuten
       [9][Debatte über die Nato-Ziele] und die Erhöhung der
       Verteidigungsausgaben. Das würde viele europäische Staaten – darunter auch
       Deutschland – enorm unter Druck setzen. 
       
       Jean Asselborn: Die sogenannte Friedensdividende, also die Einsparungen im
       Verteidigungsbereich zugunsten anderer Bereiche, lässt sich nicht einfach
       umverteilen. Dies darf nicht zulasten der Sozialpolitik oder der Gemeinden
       geschehen. Doch genau hier liegt die Herausforderung, denn die
       Sozialbudgets machen in vielen europäischen Ländern bis zu 30 Prozent der
       Gesamtausgaben aus.Es wird eine zentrale Frage sein, ob die Menschen bereit
       sind, solche Investitionen zu akzeptieren. Ein rein nationaler Ansatz wird
       kaum ausreichen.
       
       taz: Sondern? 
       
       Jean Asselborn: Idealerweise müsste es einen europäischen Plan geben, der
       die Finanzierung regelt. Die Staaten müssten Wege finden, zusätzliche
       Mittel bereitzustellen, etwa durch gemeinsame Anleihen. Steuererhöhungen
       sind politisch heikel und wenig populär. Daher bräuchte es innovative
       Finanzierungsmodelle, um den nötigen Spielraum zu schaffen. Es ist jedoch
       klar, dass man nicht einfach auf bestehende Budgets zurückgreifen kann. Es
       wäre ein enormer Kraftakt, der sorgfältig abgestimmt und langfristig
       tragfähig sein müsste.
       
       taz: Ist die EU bereit für Trump? 
       
       Jean Asselborn: Es gibt für mich nur eines: Wir in Europa müssen standhaft
       bleiben – aus Respekt vor unseren Kindern und Enkelkindern, die in dieses
       21. Jahrhundert hineinwachsen. Es ist unerlässlich, dass wir an den
       Prinzipien des Rechtsstaats und den Regeln der Demokratie festhalten und
       nicht ins Hintertreffen geraten. Europa wird in den kommenden vier Jahren
       eine entscheidende Rolle spielen, und ich bin fest davon überzeugt, dass
       wir auf der richtigen Seite stehen. Diejenigen, die glauben, alles auf den
       Kopf stellen zu dürfen, werden nicht die Gewinner sein, unter einer
       Bedingung: dass wir keinen Millimeter nachgeben.
       
       Die Europäische Kommission muss konsequent handeln, insbesondere im Umgang
       mit den sozialen Medien. Thierry Breton hat gezeigt, wie wichtig es ist,
       entschlossen für die Durchsetzung der EU-Gesetze zu kämpfen. Das darf nicht
       verwässert werden oder nachlässig geschehen.
       
       22 Jan 2025
       
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