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       # taz.de -- Stimmen aus dem Gazastreifen: „Die Hamas wird eine Kraft in Gaza bleiben“
       
       > Im Gazastreifen feiern die Menschen den Waffenstillstand. Vier von ihnen
       > erzählen, was nun ihre Pläne sind – und was sie über die Hamas denken.
       
   IMG Bild: Menschen versuchen in ihre Häuser zurückzukehren: nach dem Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen am 19. Januar
       
       ## „Wir dachten, der Krieg würde zwei Monate dauern“
       
       „Ich wurde zu Beginn des Krieges aus Gaza-Stadt im Norden des Gazastreifens
       in den Süden vertrieben, nachdem das israelische Militär uns dazu
       aufgefordert hatte:[1][um unser Leben und das Leben unserer Kinder zu
       schützen.] Der Weg nach Süden war dennoch voller Risiken. Wir hatten nicht
       damit gerechnet, dass der Krieg so lange andauern würde. Als wir vertrieben
       wurden, stellten wir uns als Erstes die Frage: Was brauchen wir, was müssen
       wir mitnehmen? Dass der Krieg so lange dauern würde, hat mich wirklich
       überrascht.
       
       Wir dachten, dass er vielleicht fünf Tage anhält, maximal aber zwei Monate.
       Wir dachten: Bald können wir nach Hause zurückkehren. Tatsächlich war die
       Situation viel schwieriger als erwartet. Wir dachten dann: Vielleicht hat
       die israelische Armee Ziele, die sie nicht öffentlich erklärt. Die Leute
       sind sich unsicher, was ihre Zukunft bringen wird. Ich habe zu Beginn des
       Krieges mein Zuhause verloren und auch Angehörige. Ich kann derzeit nichts
       planen: Ich bin im Süden des Gazastreifens, muss aber irgendwann in den
       Norden zurück.
       
       Die Hamas regiert den Gazastreifen. Ich denke aber, dass sie nicht an der
       Macht bleiben wird. Sie wird allerdings eine Kraft vor Ort bleiben. Ich
       könnte mir vorstellen, dass sie dann offiziell andere Parteien unterstützt
       oder sogar in die Opposition geht. Die Hamas weiß, dass ein großer Teil der
       Welt damit ein Problem hat, wenn sie an der Macht bleibt – auch die USA.
       Die ganze Welt hat sich klar ausgedrückt: Die Hamas darf nicht an der Macht
       bleiben. Wenn sie das tut, wird sie noch mehr Probleme schaffen. Es sei
       denn, es finden Wahlen statt – und die Hamas wird offiziell wiedergewählt.
       Das kann ich mir derzeit aber nicht vorstellen.
       
       Ich hoffe, dass bald die Preise für Lebensmittel und Güter deutlich sinken,
       wenn täglich 600 Lastwagen in den Gazastreifen einfahren sollen. Ich habe
       das Gefühl, dass es jetzt schon eine Verbesserung gibt, obwohl das Ende des
       Krieges erst einige Stunden her ist. Früher fuhren nur 30 Lastwagen am Tag
       in den Gazastreifen ein. Es kann nur besser werden.“
       
       Muhammad Sobh, vertrieben aus Gaza-Stadt in Nordgaza 
       
       ## „Das wichtigste ist, dass der Krieg nicht zurückkehrt“
       
       „Ich wurde mehr als sieben Mal vertrieben: Aus dem Al-Shati-Camp in
       Nordgaza nach Zentralgaza, mehrfach innerhalb von Zentralgaza, dann nach
       Raffah ganz im Süden. Innerhalb Raffahs wurde ich wieder viele Male
       vertrieben, schließlich kam ich in das Al-Bureij-Lager in Zentralgaza und
       [2][schließlich nach Deir Al-Balah].
       
       Was uns widerfahren ist, widerfuhr fast allen im Gazastreifen. Die Menschen
       hier sind gezeichnet von Hunger, von Unterdrückung, von Vertreibung und
       Obdachlosigkeit. Wir sind mehr als einmal dem Tod entkommen – durch direkte
       und indirekte Angriffe der israelischen Armee. Nun, mit dem Beginn des
       Waffenstillstands, ist das endlich vorbei. Das wichtigste für uns ist, dass
       der Krieg nicht zurückkehrt, dass das Leben wieder beginnt und dieser
       zerstörerische Kreislauf ein Ende nimmt. Und dass die Menschen aus den
       schwierigen Umständen, in denen sie derzeit leben, befreit werden. Darauf
       freuen wir uns in der jetzigen Zeit.
       
       Vielleicht ist es noch zu früh, um über Pläne für ein Danach nachzudenken.
       Wir stehen immer noch unter dem Schock des Schreckens und der Zerstörung,
       die wir durchlebt haben. Wir haben so viele Schäden durch diesen Krieg
       erlitten. Ich frage mich: Wie wird uns das in Zukunft beeinflussen? Was
       wird uns das Geschehene tun lassen? Wird die Hamas an der Macht bleiben
       oder nicht? Am wichtigsten ist die nationale Einheit der Palästinenser.
       Dass die Spaltung des Staates ein Ende hat, dass es eine Regierung von
       Technokraten gibt, dass es einen gemeinsamen Konsens gibt und dass es keine
       Besetzung von Gaza gibt. Es gibt politische Optionen, die den Menschen
       bessere Dienste leisten können als bisher.
       
       Der Waffenstillstand hat begonnen – jetzt ist die Versorgung besonders
       wichtig. Die Einfahrt von Hunderten Lastwagen nach Gaza wird eine große
       Wirkung haben. Ägypten spielt dabei sicherlich eine wichtige Rolle, ebenso
       wie die Vereinigten Arabischen Emirate und internationale Organisationen.
       Alle freuen sich darauf, dass die Preise fallen, wenn der Zustrom von
       Gütern nach Gaza endlich steigt.
       
       Yousef Ahmed, vertrieben aus dem Al-Shati-Lager in Nordgaza 
       
       ## „Wir brauchen eine Polizei, die die Lage vor Ort kontrolliert“
       
       Sieben Mal wurde ich vertrieben: Aus meiner Heimat Beit Hanoun in das
       Al-Maghazi-Camp in Zentralgaza, dann nach Deir Al-Balah, dann nach Rafah,
       dann wieder zurück nach Zentralgaza. Immer in die Gebiete, die die
       Besatzungsmacht als sichere „Humanitäre Zone“ festlegte. Wir haben während
       Vertreibung und Krieg im Gazastreifen katastrophale Lebensbedingungen
       durchgemacht: Bombenangriffe, Tote und Verletze um uns herum, den Verlust
       einer großen Anzahl von Familienmitgliedern und Freunden. Und wir wissen:
       Wir selbst sind zwar aus dem nördlichen Gazastreifen geflohen, aber viele,
       die geblieben sind, wurden zu Märtyrern.
       
       Wird die Hamas an der Macht bleiben? Das ist ein sehr, sehr sensibles
       Thema, das ich nicht öffentlich diskutieren möchte. Wir im Gazastreifen
       fordern: Polizeikräfte, damit die Lage vor Ort kontrolliert wird – während
       des gesamten Krieges herrschte eine prekäre Sicherheitslage. [3][Die
       Menschen müssen wieder Sicherheit und Schutz spüren.] Das ist wichtig, um
       nach dem Krieg im Gazastreifen endlich aufatmen können.
       
       Wir hoffen, dass diejenigen, die nun die Kontrolle über den Gazastreifen
       übernehmen, berücksichtigen, was uns widerfahren ist. Wir wissen nicht, was
       geplant ist. Aber wir hoffen, dass diejenigen, die die Kontrolle über den
       Gazastreifen übernehmen, auf die trauernden und verletzten Menschen hier
       schauen und sich von persönlichen Interessen distanzieren. Es gibt keine
       echten Feierlichkeiten im Gazastreifen: Trauer, Verlust und Schmerz
       dominieren die Atmosphäre. Trotz der Waffenruhe: Gefeiert wird hier nicht.
       
       Sicherlich waren viele Menschen über das Ende des Krieges und das
       Inkrafttreten des Waffenstillstands sehr froh. Immerhin haben die Massaker,
       die an palästinensischen Familien verübt wurden, aufgehört. Es gibt keine
       täglichen Bombenangriffe mehr, kein Töten und Blutvergießen, keine
       abgesprengten Körperteile – diese Szenen sind jetzt vorbei. Jedes Mal, wenn
       wir die Geräusche der Raketen hörten, dachten wir, sie würden auf uns
       fallen. Nach diesem Tag werden wir diese Geräusche nicht mehr hören müssen.
       Dafür danke ich Gott. Ich möchte einfach in Frieden, Sicherheit und Ruhe
       leben.
       
       Ich hoffe, dass sich nun auch die Versorgungslage ändert: Es war im Krieg
       nicht einfach, an Lebensmittel zu kommen. Immer wieder waren sie so teuer,
       dass wir sie uns nicht leisten konnten. Der Preis für einen Sack Mehl stieg
       zwischenzeitlich auf 350 US-Dollar. Dafür fehlte uns das Geld – auch weil
       wir unsere Lebensgrundlage verloren hatten, unsere Arbeit und unsere
       Häuser. Wir lebten vor allem von humanitärer Hilfe, die über die
       israelischen Grenzübergänge ins Land kamen. Nachdem die teilweise
       geschlossen wurden, wurden die Bedingungen noch schlechter: Das Essen war
       schlecht, [4][es gab kein sauberes Wasser mehr]. Wir tranken verschmutztes
       Wasser, wurden krank.
       
       Diese schwierige Phase haben wir hoffentlich überstanden. Die Menschen im
       Gazastreifen haben 15 Monate lang gelitten. Wir wollen wieder leben wie vor
       dem 7. Oktober – und wie alle anderen Menschen auf der ganzen Welt auch.
       
       Nahed Abu Harbid, vertrieben aus Beit Hanoun in Nordgaza 
       
       ## „Die Hamas wird eine Siegesparade abhalten“
       
       Am 2. November 2023 habe ich mein Zuhause im Gebiet Tal al-Zaatar in
       Jabalia, Nordgaza, verlassen. Ich floh nach Zentralgaza, und von diesem
       Zeitpunkt an gab es nur noch den Krieg: Tod, Zerstörung und gezielte
       Angriffe, jeder Augenblick ein Schrecken. Die Angst hat sich in ein Gefühl
       der Hoffnung verwandelt, dass unser Leid mit diesem Waffenstillstand enden
       wird. Dass nun mindestens 470 Tage Frieden folgen.
       
       Als die Hamas-Kämpfer herauskamen, [5][um die entführten Frauen in die
       Autos des Roten Kreuzes zu bringen], war das ein erster öffentlicher
       Auftritt. Das Innenministerium von Gaza gab eine Erklärung ab: Es werde die
       Sicherheitslage im Gazastreifen kontrollieren. Dann entsandte es seine
       Angehörigen in ihren Uniformen. Ich glaube, dass dies die ganze Zeit ihr
       Plan war. Und nun ist es kein Geheimnis mehr. Ich denke, dass die Hamas
       eine Militärparade abhalten wird. Vielleicht wird sie eher klein und
       spontan sein, aber es wird diese Siegesfeiern geben. Die Hamas wird mit
       Waffen an öffentlichen Orten erscheinen und sich zeigen.
       
       In Gaza herrscht ein Gefühl der Freude und Traurigkeit zugleich. Es gibt
       keinen Palästinenser, der nicht unter diesem Völkermord gelitten hat. Jeder
       hat einen geliebten Menschen, einen Freund oder ein Familienmitglied
       verloren.
       
       Muhammad Abu Namous, vertrieben aus Jabalia in Nordgaza
       
       20 Jan 2025
       
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