URI: 
       # taz.de -- Facebook, Whatsapp und X: Die gefährliche Allmacht von Social Media in Lateinamerika
       
       > Soziale Medien sind in Lateinamerika im Alltag praktisch unverzichtbar.
       > Viele betrachten sie deshalb unbeschwert – trotz Desinformation.
       
   IMG Bild: 7. April 24: Nake Marubo, indigene Bewohnerin des brasiliansichen Marubo Territoriums, mit ihrem Handy
       
       Der Grund für die Macht von Facebook, Whatsapp, X & Co. in Lateinamerika
       heißt: Zero-Rating. Vor etwa zehn Jahren begannen Telefonanbieter, in ihre
       Tarife für internetfähige Telefone ein paar Apps zu packen, welche die
       Nutzer:innen kein Datenvolumen kosten. Ein gutes Lockmittel, um
       User*innen zu bekommen, besonders, wenn das Internet ansonsten zu teuer
       für sie wäre. Whatsapp und Facebook sind heute also Standard. Manchmal noch
       Twitter und Instagram. Die Folge: Ein allgegenwärtiger Raum, an dem weder
       Politiker:innen noch Zivilgesellschaft oder der kleine
       Gemüseladeninhaber vorbeikommen – und der wohl bald massiv von Hetze,
       Propaganda und Lügen geflutet wird.
       
       „Für viele Menschen in Lateinamerika ist Facebook das Internet. Denn es ist
       das Einzige, wozu sie Zugang haben, ohne mehr zu bezahlen“, sagt Pilar
       Saénz. Sie ist Projektkoordinatorin für Bürgerbeteiligung bei der
       kolumbianischen Stiftung [1][Karisma]. Diese setzt sich dafür ein, dass
       digitale Technologien die Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit
       voranbringen – und hat ganz Lateinamerika im Blick.
       
       In Lateinamerika laden die meisten Menschen ihr Guthaben auf, wie sie
       gerade können. Im Internet zu surfen, geht aufs Datenvolumen. Informationen
       kommen also über die kostenfreien sozialen Netzwerke. „Wenn sie eine
       Information anderswo überprüfen wollen, kostet das – also machen das viele
       Leute nicht. Dasselbe gilt für Whatsapp.“
       
       Whatsapp ist in Lateinamerika einer der wichtigsten Orte für Kommunikation,
       funktioniert wie ein soziales Netzwerk. Gruppen mit Hunderten und Tausenden
       Mitgliedern sind ebenso Marktplatz wie Nachrichtenquelle. Menschen, die
       nicht lesen und schreiben können, nehmen Sprachnachrichten auf. „Diese
       sozialen Netzwerke verlassen zu können, ist ein Privileg“, sagt Pilar
       Sáenz. Eines, das Arme und Nichtstädter:innen nicht haben.
       
       ## „Keine so kritische Sicht auf Technologie“
       
       Jenseits der Städte ist die Netzabdeckung für Telefon und Internet oft so
       schlecht, dass weder Anrufe durchkommen noch Internetseiten laden. Was aber
       meist funktioniert: Facebook und Whatsapp. Denn [2][Meta hat eigene
       Rechenzentren in Lateinamerika], die den Datenverkehr bei Meta-Produkten
       unterstützen. [3][Elon Musks Starlink ist in manchen Regionen der einzige
       Internetanbieter]. Aus all diesen Gründen sind Facebook, Whatsapp und
       Instagram fest in der Gesellschaft verankert, nicht nur bei
       Kleinstunternehmer:innen und Riesenketten, sondern auch bei Behörden
       und staatlichen Stellen.
       
       „In Lateinamerika haben wir keine so kritische Sicht auf Technologie“, sagt
       Catalina Moreno, Co-Direktorin der Stiftung Karisma. „Es gibt eine Tendenz,
       sie mit Fortschritt gleichzusetzen. Und sie für zutiefst unparteiisch und
       unpolitisch zu halten.“
       
       Auch diese geringe Skepsis gegenüber Social-Media-Plattformen führt dazu,
       dass Digitalisierung für viele Regierungen in Lateinamerika anders aussieht
       als in Europa. Während die offiziellen Webseiten oft unübersichtlich und
       voller technischer Macken sind, bedeutet Modernisierung für viele nur: mehr
       Bürger:innenkontakt auf Facebook und Service über Whatsapp und Co.
       Dort antworten die Krankenkassen und Behörden laut Moreno schneller als
       über ihre eigenen Kanäle auf ihren Webseiten, per Telefon oder gar
       persönlich in einem Büro.
       
       Wieso sie so viel Energie in ihre Social-Media-Auftritte stecken, ist
       schnell beantwortet: „Weil alle hier sind“, sagt Pilar Sáenz von der
       Stiftung Karisma. 86,6 Prozent der Lateinamerikaner:innen nutzen die
       sozialen Netzwerke. Facebook hat mit 77,8 Prozent die höchste
       Durchdringungsrate. Danach folgt Instagram.
       
       ## Zuckerberg sorgt für Alarm
       
       Wer Menschen erreichen und Debatten mitbekommen will, muss hin, wo sie
       sind. Das gilt für Organisationen der Zivilgesellschaft wie für
       Politiker:innen: Egal ob El Salvadors rechter Diktator Nayib Bukele oder
       Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro: X ist ihr Megafon, direkt ans
       Volk. Hier attackieren sie andere Staatsoberhäupter, polieren ihr Image
       auf, greifen Journalist:innen an und verkünden politische
       Entscheidungen.
       
       Wegen dieser Macht der sozialen Medien versetzen die jüngsten Ankündigungen
       von Meta-Chef Mark Zuckerberg zivilgesellschaftliche Organisationen in
       Lateinamerika in Alarmbereitschaft: Faktencheck abschaffen, Beschränkungen
       für Diskussionen über Themen wie Einwanderung und Geschlechtsidentität
       aufheben – vorerst nur in den USA. Das heißt mehr Raum für rassistische
       Hetze und Gewalt gegen LGBTIQ-Bevölkerung. Angeblich sollen die Änderungen
       mehr Meinungsfreiheit schaffen. Tatsächlich ist das ein häufiges
       Scheinargument von Rechtspopulist:innen, deren Inhalte sonst wegmoderiert
       werden. Und es geht um Geld. Denn politische Diskussionen bringen mehr
       Engagement der Nutzer:innen.
       
       „Wir haben in Lateinamerika seit Jahren, was Zuckerberg jetzt in den USA
       einführen will“, sagt [4][Cristina Vélez]. Die Digitalforscherin ist
       Spezialistin für Plattformen und soziale Bewegungen in Lateinamerika. Es
       habe schon immer zu wenige Faktchecker:innen für den riesigen Kontinent
       gegeben und sie seien immer weiter ausgedünnt worden. Die Filter seien für
       Englisch trainiert und funktionierten auf Spanisch schlecht.
       
       Vélez beschäftigt sich seit 2018 insbesondere mit reproduktiven Rechten,
       ist selbst in feministischen Bewegungen engagiert. Sie betont, wie wichtig
       die sozialen Medien in Lateinamerika für Frauen und die Bewegungen sind.
       Denn dort sind traditionelle Medien oft beherrscht von konservativen
       Familien. Feministische Themen haben deswegen vor allem online Erfolg. Das
       zeigen Bewegungen wie #NiUnaMenos („Keine einzige weniger“) und die „grüne
       Welle“ für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen (Pro Choice).
       Sie haben ab 2015 ausgehend von Argentinien Millionen mobilisiert. „Sie
       haben Gesetzesinitiativen für Frauenrechte in sieben Ländern beeinflusst“,
       sagt Vélez.
       
       Feministische Aktivistinnen haben sowohl offline als auch online komplexe
       Netzwerke der Fürsorge für vulnerable Frauen aufgebaut – in einer Region
       mit alarmierenden Raten von Teenagerschwangerschaften und Femiziden. Eine
       wichtige Rolle spielen auch Whatsapp-Gruppen, in denen Frauen sich
       gegenseitig praktisch unterstützen, Tipps geben, wie man an Medikamente für
       den Schwangerschaftsabbruch kommt, welche Ärzt:innen den Eingriff
       durchführen. 
       
       Beiträge zu diesem Thema finden sich inzwischen aber nur noch selten in den
       Facebook- und Instagram-Feeds der User:innen. Im April 2024 wurden Konten
       mit angeblich politischen und sozialen Inhalten auf einmal nicht mehr im
       Feed empfohlen und angezeigt, sofern man ihnen nicht folgte. Um
       Polarisierung und Stress für die Nutzer:innen zu vermeiden, sagte
       Zuckerberg. Besonders betroffen waren Aktivist:innen.
       
       „Die Organisationen mussten ihre Strategie komplett ändern“, sagt Cristina
       Vélez. Für NGOs heißt das: Nicht mehr „Rechte“, „Schwangerschaftsabbruch“
       und andere Wörter ausschreiben, die mit Feminismus oder auch Klimakrise zu
       tun haben. Die „Abtreibung“ wird zur „Ab*R**BUnG“. So umgehen sie
       technische Filter.
       
       Doch jetzt dreht sich Zuckerberg, möchte politische Inhalte wieder
       prominenter ausspielen lassen. Gleichzeitig nimmt er die Instanzen weg, die
       ein klein bisschen zivilen Umgang und geprüfte Information ins Netzwerk
       brachten. Zumindest in den USA. Aber die Erfahrung mit Meta zeigt: Was sie
       in den USA ändern, testen sie nach und nach in einzelnen Ländern des
       Globalen Südens – und wird dann dem ganzen Kontinent übergestülpt.
       
       ## „Der Staat wird die Zivilgesellschaft nicht beschützen“
       
       Mehrere Onlinemedien in Lateinamerika sind Teil des Factchecking-Programms
       von Meta und finanzieren so auch ihre eigenen Recherchen. Ihre Verträge
       laufen bis 2025. Es ist offen, wie es dann weitergeht. Diese
       Factchecking-Profis haben bisher zum Beispiel in Wahlkampfzeiten Deepfakes,
       also besonders gute Fälschungen, enttarnt – für Laien praktisch unmöglich.
       Insbesondere, weil die schiere Masse an Lügen und Propaganda durch neue,
       starke generative KIs enorm zugenommen hat.
       
       So wird das Umfeld auf Social-Media-Plattformen toxischer, wird es
       leichter, politisch zu manipulieren. Das fürchten viele aus der
       Zivilgesellschaft. „Dann gilt das Gesetz des Stärkeren“, sagt Cristina
       Vélez. „Verteidige sich, wer kann – und wer Geld hat, um für politische
       Inhalte zu bezahlen, wird den Diskurs gewinnen. Je mehr Geld eine Rolle
       spielt, umso mehr wird Lateinamerika verlieren. Denn hier konzentriert sich
       der Reichtum auf wenige.“
       
       In der EU hätten die Bürger:innen immerhin durch den Digital Service Act
       etwas Schutz, sagt Vélez. Dieses Gesetz regelt unter anderem, dass
       Plattformen etwas gegen Desinformation und Hetze unternehmen müssen. „In
       Lateinamerika wird der Staat die Zivilgesellschaft nicht beschützen“, ist
       Cristina Vélez sicher. Die Ausnahme sei Brasilien. Das
       bevölkerungsreichstes Land des Kontinents könnte als einziges
       wirtschaftlich Druck ausüben. Dort interessieren sich die Gerichte schon
       lange für das Internet – und haben X zeitweise abgeschaltet, weil die Firma
       keinen Sitz im Land hatte, obwohl es das brasilianische Recht vorschreibt.
       Digital-Expert:innen raten den Ländern auch, sich zusammenzutun und auf
       Regulierungen und Verbesserungen innerhalb der Netzwerke zu drängen. Doch
       so ein Länderverbund ist momentan unrealistisch.
       
       „Wenn die Straflosigkeit in diesen Netzwerken steigt, werden in
       Lateinamerika die verletzlichsten Menschen am meisten leiden, die weder
       staatlichen Schutz noch Unterstützungsnetze haben.“ Das steht für Cristina
       Vélez fest. „Viele Organisationen werden in diesem feindlichen Klima aus
       Angst zur Selbstzensur greifen.“
       
       31 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://web.karisma.org.co/
   DIR [2] https://www.netify.ai/resources/cdn/meta-cdn
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2024/06/02/world/americas/starlink-internet-elon-musk-brazil-amazon.html
   DIR [4] https://ccsre.stanford.edu/people/cristina-velez
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Wojczenko
       
       ## TAGS
       
   DIR Lateinamerika
   DIR Social Media
   DIR Informationen
   DIR Fact-Checking
   DIR Big Tech
   DIR Schwerpunkt Meta
   DIR Social-Auswahl
   DIR New York Times
   DIR Naturschutzgebiet
   DIR Social Media
   DIR El Salvador
   DIR Schwerpunkt Meta
   DIR Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
   DIR Zölle
   DIR Twitter / X
   DIR Elon Musk
   DIR Kolumne Latin Affairs
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Berichte über Pornokonsum: Amazonas-Stamm klagt gegen „New York Times“
       
       Ein indigener Stamm in Brasilien fühlt sich durch Medienberichte als
       pornosüchtig verunglimpft. Nun hat ein US-Gericht den Fall entschieden.
       
   DIR Naturschutzgebiete in Ecuador: Angst vor dem Ausverkauf
       
       Ein neues Gesetz soll die Naturschutzgebiete Ecuadors sichern. Doch
       Indigene fürchten, dass sie Privatisierung und Landraub Tür und Tor öffnen.
       
   DIR Bluesky-CEO Jay Graber über Social Media: Die bessere Zukunft bauen
       
       Jay Graber will das Internet retten. Als Chefin von Bluesky verspricht sie
       ein Social Media ohne Milliardäre und Trolle. Kann diese Utopie bestehen?
       
   DIR Zivilgesellschaft in El Salvador: Leben unter dem Zocker-Präsidenten
       
       Die USA schieben Venezolaner:innen nach El Salvador ab. Dort sagt
       Präsident Bukele Banden den Kampf an. Das stößt auf Zustimmung – und
       Ängste.
       
   DIR Renate Künast gegen Facebook: Auf die Captions kommt es an
       
       Renate Künast verlangt von Facebook die automatische Löschung eines
       Falschzitats. Der Konzern verweist auf Probleme mit Bildunterschriften.
       
   DIR KI-Gipfel mit JD Vance: Angst vor der Intelligenzbremse
       
       Schöne Worte, schmutzige Tricks: Während die KI-Welt auf Tempo setzt,
       drohen Nutzerinteressen unterzugehen.
       
   DIR Reaktion auf US-Zölle: Kanada kündigt Starlink
       
       Kanada reagiert auf Trumps Zölle mit Gegenmaßnahmen. Die Provinz Ontario
       nimmt dafür Elon Musk und seine Satellitenfirma ins Visier.
       
   DIR Elon Musks Online-Plattform: In Brasilien bald ausgeixt
       
       Weil Musk kaum gegen Hassrede und Fake News auf X vorgeht, hat
       Bundesrichter Alexandre de Moraes am Freitag die Sperrung der
       Online-Plattform angeordnet.
       
   DIR Verbreitung von Falschnachrichten auf X: Brasilien ermittelt gegen Musk
       
       Elon Musk bedrohte einen brasilianischen Richter auf seiner Plattform X.
       Nun hat Brasiliens Oberster Gerichtshof ein Verfahren eingeleitet.
       
   DIR Hegemonie in Lateinamerika: Hamas bestimmt den linken Diskurs
       
       In bedeutenden Kreisen Lateinamerikas hat der Slogan „Free Palestine“
       popkulturellen Wert. Kritischen Blicke auf die Hamas sind in der Linken
       selten.