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       # taz.de -- Theaterstück am Wiener Schauspielhaus: In der Sprache der Großeltern
       
       > Der argentinische Autor Guido Wertheimer schreibt in „Die Realen Geister“
       > über das Trauma der Schoah, das bis in die dritte Generation reicht.
       
   IMG Bild: Aus Buenos Aires nach Berlin und Wien: Dramatiker Guido Wertheimer
       
       Jason heißt der Held der Irrfahrt, die ihn schon mal bis zur Salzwüste in
       den Höhen der bolivianischen Anden getrieben hat. Dort hat ihm die antike
       Göttin Hera, wie dem Protagonisten der Argonautensage, tatsächlich aus der
       Patsche geholfen. Seitdem begleitet sie ihn schützend wie eine katholische
       Nothelferin.
       
       Man begegnet Jason am Flughafen, auf dem Wiener Zentralfriedhof, wie er
       zwischen den Gräbern des alten jüdischen Friedhofs Namen notiert oder sie
       mit seiner analogen Kamera zu körnigen Schwarz-Weiß-Bildern sichert. Man
       findet ihn in bukolischen Naturbetrachtungen im Schwarzwald, wenn er dort
       gerade nicht nach Dokumenten der Geschichte seiner versprengten Familie
       sucht, oder am Strand von Tel Aviv.
       
       Hier bleibt er ratlos zurück, nachdem er Liebeskind, den Freund, zu dem
       sich gerade erst zarte Liebesbande entwickelten, ans Meer verloren hat. Von
       dort wird er aufbrechen nach Kolchis im Kaukasus ins mythologisch
       Ungewisse, in dem vom legendären Goldenen Vlies längst nicht mehr die Rede
       ist.
       
       Die Verstrickung des Protagonisten in die Argonautensage geht bis auf
       seine „verrückte Urgroßmutter“ in Buenos Aires zurück. Sie, eine von
       35.000 deutschen Jüdinnen und Juden, die 1933 bis 1945 Zuflucht in
       Argentinien fanden, verordnete ihren Nachkommen Namen aus der antiken
       Tragödie. So zumindest in „Die realen Geister“, dem am Wiener
       Schauspielhaus uraufgeführten Theatertext von Guido Wertheimer, der, 1996
       in Buenos Aires geboren, 2020 nach Berlin kam, um an der Universität der
       Künste szenisches Schreiben zu studieren.
       
       ## Bilder, die einen selbstbestimmten Fortgang stützen
       
       Seit Sommer ist Wertheimer Hausautor im Autor:innentheater am
       Deutschen Theater Berlin. „Die realen Geister“ wurde in Wien mit dem
       renommierten Hans-Gratzer-Preis ausgezeichnet, was nicht nur eines dieser
       in der Autor:innenförderung üblichen Showcaseformate bringt. Neben
       dem Preisgeld ist diese Auszeichnung vor allem mit einer vollständigen
       Uraufführungsinszenierung am Wiener Schauspielhaus dotiert, die diesmal
       Stephan Kimmig besorgte.
       
       Der Mythos als schreibstrategischer Rückgriff, den Wertheimer hier
       anwendet, codiert Verlusterfahrungen, bannt die Traumata des
       Familienromans, die in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen über
       Generationen zwangsläufig weitergegeben werden, in Bilder, die Erlittenes
       nicht ungeschehen machen können, aber einen selbstbestimmten Fortgang der
       familiären Geschichte stützen, Identitäten, die über das Erlittene
       hinausweisen.
       
       Die prägende Erfahrung einer dritten Generation von Nachgeborenen der Opfer
       der Schoah, die sich seit einigen Jahren in der Literatur und im
       öffentlichen Diskurs eindrucksvoll zu Wort meldet, ist das Schweigen in den
       Familien, das ein so von Grund auf anderes ist als das Schweigen in den
       Familien von Tätern und Mitläufern. Liebe und Empathie für die
       Großelterngeneration hinderten die Kinder aus Rücksicht gerade daran, ihnen
       die Fragen zu stellen, die die Zuneigung für die Großeltern aufwerfen.
       
       „Ich wusste, dass sie die schlimmsten Gräueltaten miterlebt hatten, aber
       ich wusste auch, dass ich nicht zu viele Fragen stellen sollte, denn es
       gibt Wunden, die an Abenden, an denen wir Kneidelaj-Suppe aßen, die Oma mit
       so viel Liebe zubereitet hatte, nicht wieder aufgerissen werden mussten“,
       so Wertheimer in einem Text, den er zu einer Gedenkveranstaltung zum 9.
       November verfasst hatte.
       
       ## Archäologie in eigener Sache
       
       Was bleibt, so das Programmheft zur Uraufführung, wenn man nicht „auf den
       Schultern von Riesen“ (Umberto Eco) einer starken identitätsstiftenden
       Erzählung steht, sondern auf einem Massengrab? Eine fortwährende
       existenzielle Verunsicherung und ein Sensorium für alles, was in der
       Gegenwart trotz des mit Nachdruck vorgetragenen „Nie wieder!“ in den
       Nachfolgestaaten des Nazireichs an das erinnert, was den Großeltern
       widerfahren ist.
       
       Was aber bleibt, wenn man nicht mehr fragen kann, wenn irgendwann die
       letzten Zeitzeugen verstorben sind und trotzdem immer noch in hoher
       emotionaler Intensität präsent ist, was der Mehrheitsgesellschaft „eine
       Ewigkeit her“ scheint? Archäologie in eigener Sache: aus den über die Welt
       verstreuten Bildern, Dokumenten, Archivalien Erinnerungen an neun
       gestohlene Jahrzehnte rekonstruieren, auch wenn sich ein Gesamtbild nie
       wieder herstellen lassen wird. Aber die Einzelheiten lassen sich zum
       Sprechen bringen.
       
       Sie sind die realen Geister, von denen in Wertheimers Stück die Rede ist,
       sie können bisweilen auch laut werden in den Verwerfungen der Gegenwart.
       Man ruft sie auch nicht herbei, eher wird man gerufen. „Was können wir für
       euch tun, liebe Geister?“, spricht der Chor. Zuhören, zumindest eine ganze
       Weile noch.
       
       Man muss „die Zeitgenossen lesen, man muss lesen, was an den Mauern der
       Straßen geschrieben steht, die Namen auf den Steinen, die Unterschriften
       auf den Briefen, man muss die Namen der Toten auswendig lernen“, lässt
       Wertheimer Hera, Jasons Schutzgöttin, deklamieren.
       
       ## Geisterhafte Realität
       
       Den realen Geistern ist Guido Wertheimer auch in der Wirklichkeit gefolgt,
       als er 2020 in das bekannte, unbekannte Land seiner Großeltern gekommen
       ist. Das Berlin der Gegenwart ist voller Geister, er findet in der
       Topografie auch ohne Stolpersteine zum Wohnhaus in der Charlottenburger
       Goethestraße, in der seine Großmutter bis zum achten Lebensjahr gewohnt
       hat.
       
       In einem westdeutschen Archiv fand er einen Bericht über Gewalttaten im
       Novemberpogrom 1938, niedergeschrieben von jenem Berliner Rabbiner, der in
       Buenos Aires nach dem Krieg seine Großeltern getraut hatte. Wo die Geister
       real sind, gerät die Realität bisweilen geisterhaft. Seine Schauplätze
       wirken oft wie eingefrorene, menschenleere Areale, die seinen Protagonisten
       und den mythischen Gestalten zugänglich sind. Sie wirken, als ob Geschichte
       schon vorbei sei, ohne an ein versöhnliches Ende gelangt zu sein.
       
       Die Kräfte, die sie noch bewegen, scheinen außerhalb zu liegen, „Die realen
       Geister“ zählt bis zum Massaker des 7. Oktober 2023 monatlich den Countdown
       ab, „bis wieder alles explodiert“, was es aber nie plötzlich tut.
       Wertheimers Reaktion auf die retraumatisierenden Ereignisse ist jedoch
       alles andere als resignativ.
       
       Seine Stücke sind politisch, weil sie versuchen, antipolitisch zu sein. Sie
       verweigern kollektive Vereinnahmungen, beharren auf Singularität und der
       Möglichkeit einer Vergesellschaftung jenseits von Macht. „Zusammensein ist
       eine futuristische Idee“, heißt es im Geisterstück.
       
       Was die Texte Guido Wertheimers vor allem auszeichnet, ist die Sprache, die
       nicht seine ist, aber seine geworden in wenigen Jahren vom C1-Zertifikat zu
       einem der interessantesten jungen Dramatiker deutscher Sprache. Seine Sätze
       sind von randloser Präzision, die für viele Autoren, die in ihrer
       Zweitsprache schreiben, charakteristisch ist.
       
       Ihr fehlt die übererklärende Deklaration vieler Kolleg:innen, auch das
       alltägliche Hintergrundrauschen, das am Theater oft Zeitgenossenschaft
       vermittelt. Die semantischen Spinnfäden, die intertextuellen
       Verstrickungen gehen anderswohin. Sie sind ein gutes Beispiel für
       literarische Innovation, die möglich wird, wo das Deutsche sich aus seinen
       provinziellen Verengungen heraus wieder internationalisiert.
       
       3 Feb 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
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