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       # taz.de -- Mary-Heilmann-Ausstellung in Turin: Etüden in Form und Farbe
       
       > Mary Heilmann hat in ihren wilden Jahren das Klischee vom
       > Künstler-Bohemien ausgelebt. Ihre Malerei ist so schlicht, dass sie
       > wieder komplex wird.
       
   IMG Bild: Autofahren: Mary Heilmanns „Driving at Night“ von 2016
       
       Eine „einfache Komplexität“ attestiert der Einführungstext der Galleria
       Civica d’Arte Moderna der Kunst von Mary Heilmann. Was wie ein
       unfreiwilliger Selbstwiderspruch aussieht, ist dennoch nicht verkehrt. Denn
       die Gemälde der 85-jährigen US-Amerikanerin sind je für sich einfach,
       schlichte Etüden in Form und Farbe, in ihrer Gesamtheit jedoch ein
       mehrschichtiges Unterfangen.
       
       Mary Heilmann kam 1940 in San Francisco zur Welt und verbrachte ihre
       Kindheit und Jugend in Kalifornien, ehe sie 1968 nach New York
       übersiedelte. Mit dem Umzug wechselte sie von der Bildhauerei zur Malerei,
       mit der ihre eigentliche Künstlerkarriere begann. Die Liste ihrer
       Ausstellungen ist beeindruckend.
       
       Im Haus der Zürcher Stiftung für konstruktive, konkrete und konzeptuelle
       Kunst hatte Mary Heilmann 1997 ihre erste europäische Museumsausstellung,
       nachdem Arbeiten von ihr immerhin schon 1980 beim Düsseldorfer Galeristen
       Hans Strelow zu sehen waren. Es dauerte, bis Heilmann als Künstlerin ernst
       genommen wurde, wohl auch angesichts ihrer wilden Jahre, in denen sie
       geradezu das Klischee vom Künstler-Bohemien ausgelebt hatte, eine endlose
       Party mit Drogenkonsum, aber auch harten Einschnitten wie dem Krebstod des
       [1][befreundeten Gordon Matta-Clark].
       
       Darüber gibt ein autobiografischer Text im jetzigen Katalog Auskunft. Aber
       da steht auch der Satz, sie habe mit den 1990er Jahren ihr „Selbstbild als
       Außenseiter, als Outlaw, Heilige, Märtyrerin“ aufgeben müssen und sich als
       die Person zu sehen begonnen, die sie geworden war, ganz Mittelklasse mit
       Haus und Auto.
       
       Mary Heilmanns Kunst ist von diesen Häutungen unberührt, und die in Turin
       gezeigten Arbeiten, die zeitlich von 1980 bis in die Gegenwart reichen,
       stehen nicht für irgendetwas, sie bezeugen oder verneinen nichts, sondern
       sind, was die Zürcher Stiftung im Titel führt: konkret. Sie sind Gemälde,
       aber sie sind zugleich Objekte.
       
       ## Rhythmen zwischen den Arbeiten
       
       Die Kuratorin, Chiara Bertola, unterstreicht diesen Doppelcharakter durch
       subtile Arrangements verschieden großer, verschieden farbiger Leinwände.
       Sie selbst spricht von „Spannungen und Rhythmen zwischen den Arbeiten“, die
       die Verteilung der Bilder erzeuge. Ins Auge springt die Vielfalt der
       Formen, es können farbige Streifen sein, Rechtecke auf weißem Grund,
       organische Rundungen, es kann „Hard Edge“ sein, „Shaped Canvas“,
       „Colourfield Painting“ oder fast so etwas wie die „Drippings“ der New
       Yorker Nachkriegs-Expressionisten.
       
       Mary Heilmann hat die Kunst der vergangenen Jahrzehnte aufmerksam verfolgt
       und in sich aufgenommen, ohne jemals in ausgetretene Pfade einzuschwenken.
       Das Moment des Spielerischen, des Ausprobierens ohne die Verbissenheit,
       etwas erreichen oder gar nachahmen zu wollen, ist allen Arbeiten eigen.
       
       Wenn man sie als „abstrakt“ kennzeichnet, dann deshalb, weil sie keine
       greifbare Realität abbilden, sondern von ihr im Wortsinne abstrahieren. In
       einem Kabinett der Ausstellung läuft eine Diashow mit Bildern aus dem
       [2][US-Alltag der Parkplätze, Schnellstraßen], der weiten Räume und ihrer
       Leere, und all das findet sich in Mary Heilmanns Bildern wieder. Wer sie
       betrachtet und mit den gesehenen Dias im eigenen Kopf überblendet, erkennt
       die Ursprünge der Streifen, Flecken und Flächen in Heilmanns Bildern. Deren
       Formenreichtum geht allerdings weit darüber hinaus, es gibt Ähnlichkeiten,
       aber keine Abbildungen. In ihrer Gesamtheit ist es eine zugleich simple wie
       komplexe Malerei.
       
       Ein Bild zu betrachten, wird Heilmann im Katalog zitiert, sei wie ein
       Kinofilm. Das gilt für die Turiner Ausstellung: Sie ist eine lange
       Kamerafahrt durch die Welt der Formen und der Farbe, die in immer neuen
       Formen und Zusammenstellungen erscheinen, ein Film ohne Anfang und Ende,
       vielmehr ein Zustand: der einer freien Kunst, die nichts will und wird,
       sondern einfach ist.
       
       27 Jan 2025
       
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