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       # taz.de -- Politische Gefangene in Belarus: Lebendig begraben und einfach nicht mehr da
       
       > In Belarus sitzen rund 1.200 politische Gefangene ein. Sollte der Westen
       > mit dem Regime Alexander Lukaschenkos aus humanitären Gründen verhandeln?
       
   IMG Bild: Die belarussische Organisationen ist aus dem Exil darum bemüht, Hilfe für die Inhaftieren zu organisieren
       
       Berlin taz | „Maria hatte fast zwei Jahre lang keinen Kontakt zur
       Außenwelt. Im November konnte unser Vater sie in der Strafkolonie Homel
       besuchen. Er hatte sie seit Dezember 2022 nicht mehr gesehen.“ Wenn Tatjana
       Chomitsch von ihrer Schwester Maria Kolesnikowa erzählt, wird ihr Gesicht
       ganz starr.
       
       Kolesnikowa ist eine der bekanntesten belarussischen Oppositionellen. Nach
       den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 wurde sie
       festgenommen und ein Jahr später [1][zu 11 Jahren Haft verurteilt]. Die
       Vorwürfe sind konstruiert: „Extremismus“, „versuchte Machtergreifung“ und
       „Aufrufen zu staatsgefährdenden Handlungen“. Seitdem ist sie in Haft.
       
       Im November 2022 wurde sie am Magen notoperiert, kurz darauf durfte der
       Vater noch einmal für zehn Minuten zu ihr. Im Februar 2023 erhielt die
       Familie die letzte Postkarte von ihr. Seitdem war Maria Kolesnikowa von der
       Außenwelt abgeschnitten, ohne Kontakt zu Familie oder Anwälten, ohne
       Erlaubnis, Briefe oder gar Zeitungen in die Haftanstalt zu bekommen. Es
       hieß, sie habe große gesundheitliche Probleme, sei auf 45 Kilo abgemagert
       und nicht mehr arbeitsfähig. Lange war nicht klar, ob sie überhaupt noch
       lebte.
       
       ## Alexander Lukaschenko sendet „Zeichen“
       
       Deswegen war das Treffen mit ihrem Vater eine Sensation. Wie es überhaupt
       dazu gekommen war, zeigt, wie verfahren und absurd die Situation in Belarus
       ist. In einem BBC-Interview hatte der belarussische Machthaber Alexander
       Lukaschenko erwähnt, dass schriftliche Gesuche für Besuche bei Gefangenen
       eingereicht werden könnten. „Das war offenbar ein Zeichen für uns“, sagt
       Tatjana Chomitsch. Dem Antrag ihres Vaters sei dann stattgegeben worden.
       
       „Bei seinem anderthalbstündigen Besuch im Dezember hat Maria alle Angaben
       über ihre Gesundheit bestätigt, aber auch von Herzproblemen und
       Bluthochdruck berichtet. Davon hatten wir bis dahin nicht gewusst“, sagt
       Tatjana Chomitsch. Maria sei in der Haft völlig isoliert, sie dürfe weder
       Post noch Zeitungen bekommen. Und auch nicht mehr arbeiten. „Sie wollen in
       der Strafkolonie dadurch den Eindruck erwecken, als sei sie gar nicht mehr
       da“, so Chomitsch. Vor dem Treffen mit ihrem Vater, von dem es auch ein
       offizielles Foto gibt, sei sie in verschiedenen medizinischen Behandlungen
       gewesen, um nicht ganz so krank auszusehen.
       
       ## Dunkelziffer bei politischen Gefangenen
       
       In Belarus gibt es offiziell 1.250 politische Gefangene. Menschenrechtler
       und [2][die Exilregierung der Oppositionspolitikerin Swetlana
       Tichanowskaja] vermuten allerdings, dass die wirkliche Zahl höher liegen
       dürfte. Aus Angst machen viele Menschen nicht öffentlich, wenn Angehörige
       festgenommen wurden. Verhaftet wurden zuletzt auch Belarussen, die im
       Ausland leben und über die Weihnachtsfeiertage nach Belarus eingereist
       waren.
       
       Seit 2020 gab es mindestens sieben Todesfälle in Haftanstalten. Der letzte
       von ihnen war [3][der 22-jährige Dmitri Schletgauer]. Er war gerade Vater
       geworden, als er zu 12 Jahren Haft verurteilt worden war. Kurz nach seiner
       Inhaftierung starb er im letzten Oktober in der Strafkolonie Mahiljou unter
       ungeklärten Umständen.
       
       Noch bemühen sich belarussische Organisationen aus dem Exil um Hilfe für
       die Inhaftieren. Doch da sie in Belarus verboten sind, machen sich selbst
       Angehörige, die dort um Hilfe nachsuchen, schon strafbar. Von außen
       betrachtet scheint die Situation ausweglos.
       
       Doch Tatjana Chomitsch sagt: „Lukaschenko gibt Zeichen, dass er bereit sei,
       politische Gefangene freizulassen.“ So habe er seit Herbst 2024 rund 250
       Häftlinge begnadigt. Vor allem ältere Menschen, Schwerkranke, Menschen mit
       Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Aber zum Beispiel auch Eltern
       mit mehreren Kindern.
       
       Der Westen hat im Laufe der letzten vier Jahre zahlreiche Sanktionen gegen
       Belarus verhängt. Das Land ist politisch isoliert. Seit den gefälschten
       Präsidentschaftswahlen 2020 gibt es zum Beispiel Flugverbindungen nur noch
       eingeschränkt über Drittländer, belarussische Maschinen dürfen nicht mehr
       in der EU landen.
       
       ## Belarussischer Brain-Drain in alle Richtungen
       
       Mindestens 500.000 Menschen haben das Land seitdem verlassen. Knapp die
       Hälfte davon ist in westliche Länder gegangen, die anderen nach Russland.
       Für ein kleines Land wie Belarus mit derzeit neun Millionen Einwohnern
       wächst so das demografische Problem. Schon jetzt fehlen vielerorts
       Arbeitskräfte.
       
       Und auch soziale Probleme nehmen merklich zu. Die Zahl von Fällen
       häuslicher Gewalt hat sich drastisch erhöht. Viele der NGOs, die früher im
       sozialen Bereich tätig waren, zum Teil mit westlichen Spendengeldern, sind
       mittlerweile verboten. Einen staatlichen Ersatz gibt es nicht.
       
       Beobachter fordern, man solle aus humanitären Gründen mit Belarus in einen
       Dialog treten, um eine Freilassung der politischen Gefangenen zu erreichen.
       Im Gegenzug könnten die Sanktionen schrittweise gelockert werden. „Ich
       glaube daran, dass es eine Lösung geben kann“, sagt Tatjana Chomitsch. Und
       lächelt zum ersten Mal während des Gesprächs.
       
       25 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Gaby Coldewey
       
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