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       # taz.de -- Nach Suizid einer Teenagerin: Familien verklagen TikTok in Frankreich
       
       > Die Angehörigen werfen der Videoplattform vor, Jugendliche mit ihren
       > Algorithmen gefährlichen Inhalten auszusetzen. TikTok weist den Vorwurf
       > zurück.
       
   IMG Bild: Eine Mutter in Frankreich hat die Social-Media-Plattform TikTok verklagt
       
       Cassis AP | Die 15-jährige Tochter von Stephanie Mistre beging vor drei
       Jahren Suizid. „Im Bruchteil einer Sekunde wurde es für mich dunkel“, sagt
       die Französin. An jenem Tag im September 2021 begann ihr Kampf gegen
       TikTok. Mistre macht das von einem chinesischen Unternehmen betriebene
       Videoportal dafür verantwortlich, dass ihre Tochter in die Verzweiflung
       getrieben wurde.
       
       Als Mistre nach dem Tod ihrer Tochter deren Mobiltelefon durchforschte,
       entdeckte sie Videos, die für Suizidmethoden warben, Anleitungen und
       Kommentare, die die Nutzer ermutigten, über „bloße Suizidversuche“
       hinauszugehen.
       
       Der Algorithmus von TikTok habe ihrer Tochter wiederholt solche Inhalte
       angezeigt. „Es war Gehirnwäsche“, sagt Mistre, die in Cassis in der Nähe
       von Marseille in Südfrankreich lebt. „Sie haben Depressionen und
       Selbstverletzungen normalisiert und in ein pervertiertes Gefühl der
       Zugehörigkeit verwandelt.“
       
       Nun verklagen Mistre und sechs weitere Familien TikTok Frankreich. Sie
       werfen der Plattform vor, [1][schädliche Inhalte nicht zu moderieren und
       Kinder lebensbedrohlichen Inhalten auszusetzen]. Zwei der sieben Familien
       haben ein Kind verloren.
       
       ## Kind wurde schikaniert und drangsaliert
       
       Auf Nachfrage erklärt TikTok, seine Richtlinien verböten jegliche Förderung
       von Suizid. Das Portal beschäftige weltweit 40.000 Sicherheitsexperten –
       unter ihnen Hunderte französischsprachige Moderatoren –, um gefährliche
       Beiträge zu entfernen. Nutzer, die nach Videos mit Suizidbezug suchen,
       würden an psychologische Dienste verwiesen.
       
       Bevor sie Suizid beging, drehte Marie mehrere Videos, um ihre Entscheidung
       zu erklären. Sie führte verschiedene Schwierigkeiten in ihrem Leben an und
       zitierte einen Song der auf TikTok sehr beliebten Emo-Rap-Gruppe
       Suicideboys.
       
       Ihre Mutter erklärt, ihre Tochter sei in der Schule und im Internet
       wiederholt schikaniert und drangsaliert worden. Zusätzlich zu der Klage
       haben die 51-jährige Mutter und ihr Ehemann eine Beschwerde gegen fünf von
       Maries Klassenkameraden und ihre frühere Oberschule eingereicht.
       
       ## „Heimtückische Strategie“
       
       Doch Mistre gibt vor allem TikTok die Schuld. Die App „in die Hände einer
       einfühlsamen und sensiblen Jugendlichen zu geben, die nicht weiß, was real
       ist und was nicht, ist wie eine tickende Bombe“. „Ihre Strategie ist
       heimtückisch“, sagt Mistre. „Sie locken Kinder mit depressiven Inhalten, um
       sie auf der Plattform zu halten.“
       
       Wissenschaftler hätten keine eindeutige Verbindung zwischen sozialen Medien
       und psychischen Problemen oder seelischen Schäden hergestellt, sagt
       Grégoire Borst, Professor für Psychologie und kognitive Neurowissenschaften
       an der Universität Paris-Cité. „Es ist sehr schwierig, in diesem Bereich
       eine eindeutige Ursache und Wirkung nachzuweisen“, erklärt Borst. Zudem
       deuten ihm zufolge keine aktuellen Studien darauf hin, dass TikTok
       schädlicher ist als konkurrierende Apps wie Snapchat, X, Facebook oder
       Instagram.
       
       Borst sagt, die meisten Teenager nutzten die sozialen Medien ohne
       nennenswerten Schaden. Die wirklichen Risiken liegen laut Borst bei
       denjenigen, die schon mit Herausforderungen wie Mobbing oder instabilen
       Familien konfrontiert sind. „Wenn Jugendliche sich bereits schlecht fühlen
       und Zeit mit verzerrten Bildern oder schädlichen sozialen Vergleichen
       verbringen, kann sich ihr psychischer Zustand verschlechtern“, sagt er.
       
       ## Kreislauf der Verzweiflung
       
       Die Anwältin Laure Boutron-Marmion vertritt die sieben Klägerfamilien und
       sagt, deren Fall beruhe auf „umfangreichen Beweisen“. Das Unternehmen könne
       sich nicht länger „hinter der Behauptung verstecken, dass es nicht in
       seiner Verantwortung liegt, weil es die Inhalte nicht erstellt“, erklärt
       Boutron-Marmion. In der Klage wird geltend gemacht, dass der Algorithmus
       von Tiktok darauf ausgelegt sei, [2][gefährdete Nutzer aus Profitgründen in
       einen Kreislauf der Verzweiflung] zu stürzen. Für die Familien wird eine
       Entschädigung gefordert.
       
       Boutron-Marmion verweist darauf, dass die chinesische Version von TikTok,
       Douyin, viel strengere Inhaltskontrollen für junge Nutzer vorsehe, als sie
       in Frankreich gelten. Es gebe einen „Jugendmodus“, der für Nutzer unter 14
       Jahren obligatorisch sei. Der beschränke die Bildschirmzeit auf 40 Minuten
       pro Tag und biete nur genehmigte Inhalte an. „Das beweist, dass sie Inhalte
       moderieren können, wenn sie es wollen.“
       
       Ein [3][Bericht mit dem Titel „Kinder und Bildschirme“], den der
       französische Präsident Emmanuel Macron im April in Auftrag gab und zu dem
       Professor Borst beigetragen hat, kam zu dem Schluss, dass bestimmte
       algorithmische Funktionen als süchtig machend eingestuft und in Frankreich
       aus allen Apps verbannt werden sollten. Der Bericht forderte auch, den
       Zugang zu sozialen Medien für Minderjährige unter 15 Jahren in Frankreich
       zu beschränken. Beide Maßnahmen wurden bislang nicht umgesetzt.
       
       Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur AP erklärte TikTok, es sei bislang
       nicht über die französische Klage informiert worden, die im November
       eingereicht wurde. Anwältin Boutron-Marmion sagt, es könne Monate dauern,
       bis die französische Justiz die Klage bearbeite und die Behörden in Irland
       – wo sich der europäische Hauptsitz von TikTok befindet – das Unternehmen
       formell benachrichtigten.
       
       24 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Expertin-ueber-Medien-und-Suizid/!5934835
   DIR [2] /Social-Media-erst-ab-16/!6051179
   DIR [3] https://www.elysee.fr/admin/upload/default/0001/16/06a9854b34d98bb3e4fbf72b2b28ed3b0dd601a1.pdf
       
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