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       # taz.de -- Neue Band Sinem: Villa, Kiosk, und Luftschloss
       
       > „Köşk“ heißt das tolle Debütalbum von Sinem. Da ist alles drin: New Wave,
       > türkische Volkslieder und Münchner Artschool. Das funktioniert sehr gut.
       
   IMG Bild: Coverversionen aus dem Anadolu Rock. Sinem und ihre Band probieren einiges aus
       
       Dass auf Familienfeiern gesungen wird, ist nichts Ungewöhnliches. Dass der
       80. Geburtstag der Großmutter von Sinem Arslan Ströbel zur Keimzelle für
       ein Bandprojekt wurde, bei dem türkisches Liedgut lässig im Geiste des
       Postpunks interpretiert wird, aber schon. Eigentlich wollte Sinem mit der
       Oma den Song „Sivas’ın Yollarına“ singen. Der Klassiker von Protestsängerin
       Selda Bağcan erzählt im Text von einem mörderischen Angriff auf ein
       alevitisches Musikfestival in Sivas – dem anatolischen Ort, aus dem Sinems
       Großeltern stammen.
       
       Die Idee, dass aus dem Ständchen mehr werden könnte, hatte die gelernte
       Veranstaltungskauffrau aus München da nicht – doch in Tom Wu hatte sie
       einen musikalisch umtriebigen Mitbewohner. Dessen Soloalbum „Tom Wu is
       Dead“ (2023) zerpflückte munter Rock-’n’-Roll-Klischees; [1][bekannt ist er
       außerdem als Mitglied der Münchner Artschoolband What Are People For?].
       
       An einem Sommertag versteckten sich die beiden vor der brüllenden Hitze im
       Probenraum und probierten eine Coverversion von „Sivas’ın Yollarına“ aus.
       Daraus ist nun die soghafte Single ihres Debütalbums „Köşk“ geworden. Ihr
       Konzertdebüt haben die beiden übrigens anlässlich des Umzugs eines
       Kulturzentrums namens „Köşk“ gespielt.
       
       Der von ihnen sehr geschätzte Münchener Ort musste neue Räume suchen. Im
       Türkischen hat das Wort einige Bedeutungen – Villa, Kiosk, aber auch
       Luftschloss; ihr Albumtitel bezieht sich jedoch auf das „Köşk“, an dem der
       Auftritt stattfand.
       
       ## „Köşk“ ist ein persönliche Songbook
       
       Wenig später stieß Martin Tagar, [2][Bassist der Noiserockband Friends of
       Gas,] als Gitarrist dazu. Sinem ist nun also ein Trio – und „Köşk“ so etwas
       wie das persönliche Songbook der Sängerin geworden. Es besteht aus
       Coverversionen von für sie prägenden Songs – etwa aus dem Anadolu Rock,
       einer Fusion türkischer Volksmusik mit westlichem Rock. Einige Songs kennt
       Sinem seit Kindesbeinen. Doch auch Neueres, etwa das hymnische „Akşam“ (
       2002) von der Istanbuler Altrock-Band Duman, haben sie gecovert.
       
       Diese mal groovenden, mal postpunkigen Tracks präsentiert die Sängerin
       lässig abgehangen. Auch verhaltene Pathosmomente gibt es, bei denen die
       Distanznahme gleich mitzuschwingen scheint – vielleicht fast zwangsläufig,
       wenn die eigene Musiksozialisation so ein Spagat wie bei Sinem war.
       
       Zu Schulzeiten auf einem Gymnasium am Starnberger See war die 33-Jährige
       die einzige Schülerin mit türkischen Vorfahren. „In meiner Familie sprechen
       fast alle besser Deutsch als Türkisch“, erzählt sie im Zoom. Musik war
       lange der einzige Bereich, mit dem sie überhaupt an türkische Kultur
       andockte – was sie aber kaum mit deutschen Freunden teilen konnte. „Kinder
       dieser Menschen / Sind geteilt in zwei Welten“, sang Ata Canani in seinem
       legendären Song „Deutsche Freunde“ aus den späten 1970er Jahren.
       
       ## In zwei Kulturen zuhause
       
       Sinem erzählt, dass sie erst als sie nach dem Abitur für zwei Jahre nach
       Istanbul ging, erlebte, „wie positiv es sein kann, in zwei Kulturen zu
       Hause zu sein“. Nicht nur veränderte Istanbul ihren Blick auf die Türkei.
       Mittlerweile fragt sie sich auch, ob ihre Jugend so frei von Rassismus war,
       wie sie lange selbst glaubte.
       
       „Ich bin musikalisch mit allem Möglichen in Kontakt gebracht worden.
       Türkischer Pop jedoch fehlte komplett.“ Den bekam sie immer nur im
       Sommerhaus ihrer Großeltern mit – in den Discos der Ferieninsel liefen die
       amtlichen Hits. Dieser Pop wurde für sie zur Sehnsuchtsmusik. In ihrem
       bayrischen Alltag mochte sie eher Punk.
       
       Der mit Anadolu Rock bestückte Plattenschrank der Familie war ein
       Bindeglied zwischen diesen Welten. „Dass es eine politische Dimension hat,
       diese Musik zu hören, war mir da noch gar nicht bewusst. Doch Menschen, die
       Selda Bağcan hören, Cem Karaca oder Barış Manço, haben eine eher linke und
       kemalistische Einstellung.“ Das sei für ihre Familie wichtig gewesen.
       
       ## Frenetischer als die Vorlage
       
       Der Auftaktsong „Dem Dem“, ursprünglich aus der Feder des alevitischen
       Sängerpoeten Aşık Mahzuni Şerif, ist frenetischer als die Vorlage – ein
       tanzbarer Beginn. „Gurbet“, ein Liebeslied von Jazzer Özdemir Erdoğan,
       klingt auch bei Sinem sehnsuchtsvoll – fast noch schwelgerischer als das
       Original. Mit ihrer Band probiert sie einiges aus, nicht alles
       funktioniert. Langweilig wird es bei den acht Stücken aber nie.
       
       [3][Verglichen mit den Jahrzehnten türkischen Musikschaffens in
       Deutschland, von denen Cem Kayas filmisches Essay „Songs of Gastarbeiter –
       Liebe, D-Mark und Tod“ (2022) und die gleichnamigen Compilations bei
       Trikont erzählen], beobachtet Sinem einen veränderten Zeitgeist. Lange Zeit
       drang aus der migrantischen Musikkultur wenig zum Rest der Gesellschaft
       durch. Doch kaum hatten Sinem ihr erstes Konzert gespielt – „da waren wir
       noch keine richtige Band“ –, trudelten Anfragen ein. [4][„Eine Band wie
       Altın Gün – international erfolgreich – hat dazu beigetragen.“]
       
       Mit der Band, so sagt Sinem, gibt es einen Raum, „in dem ich einfach bin,
       wie ich bin. Wo es nicht heißt: Bist du Türkin oder Deutsche? Hörst du New
       Wave oder türkische Volkslieder? Ich höre einfach alles gleichzeitig.“
       Eigene Songs komponiert sie auch, in anderem Kontext – zusammen mit Nick
       McCarthy. Der britische Musiker war einst Teil von Franz Ferdinand und
       mischt seit seinem Ausstieg 2016 in allerhand spannenden Projekten in
       München mit. Man darf gespannt sein, was da noch alles kommt – von Sinem,
       dem Trio, und Sinem, der Solistin.
       
       31 Jan 2025
       
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