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       # taz.de -- Wählen mit Migrationsgeschichte: Mein Vater, der Erstwähler
       
       > Der Vater unseres Autors wird erstmals bei einer Bundestagswahl
       > abstimmen, nach über 35 Jahren in Deutschland. Dafür holt er sich Rat
       > beim Sohn.
       
   IMG Bild: Nicht für alle selbstverständlich: das Recht zu wählen
       
       „Wen sollen wir jetzt wählen?“, fragt mich mein Vater.
       
       Er grinst dabei. Als ob das keine ernste Frage wäre, sondern Quatsch, auf
       den man auch nur mit einem witzigen Spruch zu antworten braucht. Vielleicht
       liegt es daran, dass mein Vater sich diese Frage lange gar nicht gestellt
       hat und sie deshalb immer noch etwas absurd wirkt.
       
       Mein Vater wird am 23. Februar zum ersten Mal [1][bei einer Bundestagswahl]
       wählen. [2][Nach über 35 Jahren] in Deutschland. Bei der letzten
       Bundestagswahl hatte er noch keinen deutschen Pass.
       
       „Also, wen sollen wir wählen?“, bleibt er hartnäckig.
       
       Warum eigentlich wir? Jeder wählt für sich. Ich wähle für mich. Du wählst
       für dich. Und du musst auch niemandem verraten, wen du gewählt hat,
       Wahlgeheimnis und so, denke ich. Gerade noch so schaffe ich es, diesen
       Gemeinschaftskundevortrag zurückzuhalten. Ich will ihn ja nicht belehren.
       Vielleicht fühlt sich das „Wir“ beim ersten mal einfach sicherer an?
       
       „Sag schon, wen sollen wir wählen?“
       
       „Ich weiß es nicht, Baba, das musst du selbst entscheiden“, weiche ich ihm
       endlich aus.
       
       Wie cool, dass er sich so über das erste Mal freut, denke ich. Meine Freude
       darüber versuche ich aber zu verbergen. Weil es mich auch ein bisschen
       ärgert: Warum freust du dich über etwas, das dein gutes Recht ist?
       
       „Soll ich die Grünen wählen?“, unterbricht er meine gesellschaftskritische
       Reflexion.
       
       „Warum die Grünen?“, entgegne ich.
       
       Ich versuche meine Gegenfrage so neutral wie möglich zu betonen. Auf keinen
       Fall möchte ich eine Wahlempfehlung aussprechen. Das Recht zu wählen bringt
       schließlich eine Verantwortung mit sich, man muss sich mit den Parteien und
       ihren Inhalten auseinandersetzen, sich eine eigenständige Meinung bilden.
       Diese Arbeit will ich ihm nicht abnehmen.
       
       „Weil die einen schönen Namen haben“, antwortet mein Vater und lacht.
       
       „Warum nicht die SPD?“, hake ich nach.
       
       „Denen vertraue ich nicht, die unterstützen die Politik gegen
       Asylbewerber“, lautet seine Antwort, schlagartig wieder ernst. Vielleicht
       unterschätze ich, wie viel mein Vater doch über die politischen Vorgänge in
       diesem Land weiß, denke ich.
       
       „Vielleicht sollte ich doch die Linke wählen?“, sagt er. „Weil die Rechten
       stärker werden und wenn die Rechten an die Macht kommen, dann wird es
       gefährlich für uns.“
       
       Schon wieder wir! „Wer ist wir?“, frage ich ihn, harsch wie ein
       Blattkritiker, der einen Leitartikel kritisiert, der die unjournalistische
       Formulierung „Wir sollten“ enthält.
       
       „Wir Ausländer“, antwortet er und sein Blick sagt: Junge, was für eine
       blöde Frage! Dann erzählt er von den vielen Wahlplakaten mit „ausländischen
       Namen“, wie toll es sei, dass so viele von „uns“ kandidieren, dass es
       wichtig sei, dass diese Leute ins Parlament kommen, damit wir in
       Deutschland nicht mehr wie Fremde leben müssen.
       
       „Aber ich bin ja kein Fremder mehr, ich habe einen deutschen Pass“,
       korrigiert er sich schnell und grinst wieder.
       
       „Und wie ist das jetzt für dich so, deine erste Bundestagswahl nach so
       vielen Jahren, in denen du nicht wählen durftest“, frage ich ihn,
       mittlerweile doch ein bisschen sentimental und nicht mehr ganz so
       beherrscht.
       
       „Ach, ist nichts Besonderes“, sagt er. Dabei grinst er nicht mehr. Er
       strahlt über das ganze Gesicht.
       
       12 Feb 2025
       
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