URI: 
       # taz.de -- Start der Berlinale: Der Wunsch, nach außen zu strahlen
       
       > Die 75. Ausgabe der Berlinale startet am Donnerstag. Wie präsentiert sich
       > das Filmfestival unter seiner neuen Intendantin Tricia Tuttle?
       
   IMG Bild: Souveräner Auftritt: Die neue Berlinalechefin Tricia Tuttle präsentierte sich 2024 erstmals dem Berliner Festivalpublikum
       
       Bei der Berlinale gehört Meckern ein bisschen zum guten Ton. Vonseiten der
       Presse insbesondere. Manche Dinge werden routinemäßig bemängelt, etwa dass
       im Verhältnis zu Cannes wenige bewährte Autorenfilmer kommen und im
       Vergleich zu Venedig zu wenig Hollywood anzutreffen ist, auch wenn sich
       diese Verhältnisse bei Lage der Dinge ohnehin nicht sonderlich ändern
       können. Selbst unter einer neuen Leitung nicht.
       
       Das Meckern hat dabei mehr als bloß destruktive Funktion. Allgemein
       fürchtet man einen Bedeutungsverlust der Berlinale. Unter der
       künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian, der bis zum vergangenen Jahr
       das Programm gestaltete, sahen viele diese Gefahr wachsen. Auf das Duo von
       Chatrian und der Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek ist inzwischen
       [1][Tricia Tuttle] gefolgt. Damit liegt die Verantwortung wieder bei einer
       einzelnen Person, wie es bei der Berlinale bis 2019 üblich war.
       
       Die US-Amerikanerin Tuttle, die zuletzt in der Zeit von 2018 bis 2022 das
       London Film Festival leitete, tritt ihre erste Berlinale, die zugleich die
       75. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Berlin ist, unter der
       Berufsbezeichnung „Intendantin“ an. Ihre Ein-Mann-Vorgänger bis
       einschließlich Dieter Kosslick hatten das Festival noch als „Direktoren“
       geleitet. An der Funktion ändert das jedoch wohl nichts.
       
       Wie gut die Berlinale mit Tuttle aufgestellt ist, um dem Festival wieder
       größere internationale Beachtung zu verleihen, muss sich noch erweisen. An
       dieser Stelle Prognosen abzugeben, wäre verfrüht. Tuttle hat auf jeden Fall
       einen kleinen Akzent gesetzt, der ihren Führungsstil ankündigt, denn sie
       steht bei der Auswahl für den Wettbewerb nicht ganz allein an der Spitze,
       sondern teilt sich diese Aufgabe mit zwei Co-Direktoren: Die Kuratorin
       Jessica Nyonga war zuvor US-Delegierte der Berlinale, ihr Kollege Michael
       Stütz leitet zudem die nicht gerade kleine Nebensektion „Panorama“.
       
       Vom ersten Eindruck des Programms her sind zunächst keine wesentlichen
       Veränderungen von dieser Berlinale zu erwarten. Die deutlichste Abweichung
       besteht darin, dass der unter Chatrian eingeführte Parallelwettbewerb
       „Encounters“ mit bevorzugt offenen filmischen Ansätzen abgelöst wird von
       einer ebenfalls als zweiter Wettbewerb konzipierten Sektion mit dem Namen
       „Perspectives“. Diese ist ausdrücklich Debütfilmen gewidmet, eine
       Kontinuität bei der Offenheit nicht ausgeschlossen. Dass bekannte Namen
       darin die Ausnahme bilden dürften, versteht sich von selbst.
       
       Klingende Namen bietet andererseits auch der Wettbewerb nicht allzu viele.
       Mit Richard Linklater („[2][Boyhood]“) ist ein US-amerikanischer
       „Independent“-Star vertreten, die Besetzung seines aktuellen Films „Blue
       Moon“ mit [3][Ethan Hawke], Margaret Qualley und Bobby Cannavale sorgt für
       ein gut Teil des Aufgebots an Hollywood-Prominenz.
       
       Der mexikanische Regisseur [4][Michel Franco] arbeitet in seinem
       Wettbewerbsfilm „Dreams“ erneut mit der Schauspielerin Jessical Chastain
       als Hauptdarstellerin zusammen, und im restlichen Wettbewerb kommen ein
       paar namhafte europäische Darsteller zusammen, darunter Vicky Krieps. Der
       Regisseur Radu Jude lässt mit seinem Beitrag „Kontinental ’25“ auf scharfe
       Zeitdiagnose mit Witz hoffen. Er hatte 2021 den Goldenen Bären für [5][„Bad
       Luck Banging or Loony Porn“] gewonnen.
       
       Dass Frédéric Hambalek mit „Was Marielle weiß“, in dem Julia Jentsch eine
       der Hauptrollen spielt, als einziger deutscher Regisseur im Wettbewerb
       vertreten ist, muss im Übrigen kein Nachteil sein. Und der Umstand, dass
       auch dieses Jahr der südkoreanische Regisseur [6][Hong Sangsoo] im
       Wettbewerb antritt („What Does that Nature Say to You“ lautet der
       internationale Titel seines Films), braucht überhaupt kein Grund zur Klage
       sein. Manche Gewohnheiten sollte man einfach pflegen.
       
       Für Stars ist jenseits des Wettbewerbs allemal gesorgt: Dass James Mangolds
       [7][Bob-Dylan]-Biopic „A Complete Unknown“ mit Timothée Chalamet in der
       Rolle des Singer-Songwriters kurz vor seinem deutschen Kinostart als
       „Berlinale Special“ Premiere hat, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit für
       den gewünschten Kreischfaktor sorgen. Und nicht zu vergessen: Tom Tykwer
       holt mit seinem Spielfilm „Das Licht“, der die Berlinale heute eröffnet,
       Lars Eidinger und Nicolette Krebitz auf die Leinwand des Berlinale-Palasts.
       
       Der Filmtitel passt dabei ganz gut zum eher abstrakt gehaltenen Plakatmotiv
       der Berlinale, einem in mehrere Bögen zerteilten Kreis, aus dessen Mitte –
       zentralperspektivisch – Strahlen hinausragen. So als wolle man
       signalisieren, dass die Sache energisch nach außen dringen möge.
       
       Nachdem die [8][Berlinale im vergangenen Jahr vor allem durch die Debatte
       über die Frage nach Antisemitismus auf dem Festival] nach außen wirkte, ist
       der Konflikt durch den begonnenen Geiselaustausch zwischen Israel und der
       Hamas in eine andere Phase eingetreten. Hier setzt die Berlinale ein
       positives Zeichen, wenn auch mit ein wenig Verspätung: Der Schauspieler
       David Cunio, der unter den israelischen Geiseln im Gazastreifen ist, war
       2013 im Film „Youth“ auf der Berlinale zu sehen.
       
       Laut Berichten aus der Presse hatte es 2024 schon Anfragen gegeben, ob sich
       die Berlinale daher mit ihm solidarisch zeigen würde. Diese sollen
       unbeantwortet geblieben sein, eine Solidaritätsbekundung gab es damals
       nicht. Dafür ist dieses Jahr der Regisseur von „Youth“, Tom Shoval, mit dem
       Film „A Letter to David“ im Programm, einer filmischen Solidaritätsadresse,
       in der Shoval Material aus der Zeit von „Youth“ mit heutigen Bildern von
       David Cunios Familie verbindet, allen voran sein Zwillingsbruder Eitan
       Cunio.
       
       Freuen kann man sich ansonsten ebenso auf bemerkenswerte Debütfilme wie
       Sarah Miro Fischers „Schwesterherz“, der von einer Gewissensprüfung unter
       Geschwistern erzählt. Der Regisseur [9][Ira Sachs kehrt nach „Passages“
       (2023)] mit „Peter Hujar’s Day“ zum Festival zurück, um in seinem
       Kammerspiel scheinbar beiläufig Einblicke in die Künstlerszene New Yorks in
       den siebziger Jahren zu bieten. Freunde des Pianisten Keith Jarrett
       wiederum könnten mit „Köln 75“ von Ido Fluk auf ihre Kosten kommen, wird
       darin doch die Entstehung von dessen Über-Hit „The Köln Concert“ aus dem
       Jahr 1975 fantasievoll nacherzählt.
       
       Auch die Dokumentarfilme und Filmessays haben dieses Jahr einiges zu
       bieten, ohne dabei zwangsläufig offenkundig „engagiert“ zu sein. Kühnes
       findet sich in jedem Fall darunter. „The Sense of Violence“ von Kim
       Mooyoung denkt mithilfe von Archivmaterial und Szenen aus alten
       Spielfilmen darüber nach, wie sich der Antikommunismus in Südkorea in
       Architektur und Kino manifestierte.
       
       Die Regisseure und Brüder Gianluca De Serio und Massimiliano De Serio
       unternehmen in „Canone effimero“ eine musikethnologische Reise durch
       Italien, um das Fortleben alter Traditionen in den einzelnen Regionen des
       Landes zu erkunden. „Paul“ von Denis Côté begleitet einen jungen Mann in
       Kanada, der die Wohnungen von dominanten Frauen putzt, was ihm als eine Art
       Therapie dient. Ein wenig Mut erfordert wohl „Palliativstation“ von Philipp
       Döring, der das Publikum vier Stunden lang an der Arbeit in einem Berliner
       Krankenhaus teilhaben lässt.
       
       In dieser Hinsicht findet sich immer noch genug Interessantes und filmisch
       Innovatives auf dieser Berlinale, Strahlkraft hin oder her. Die Frage nach
       dem Profil des Festivals stellt sich ungeachtet dessen weiter. Mehr dazu
       dann spätestens nach der Bundestagswahl.
       
       12 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neue-Berlinale-Intendantin-Tricia-Tuttle/!5979079
   DIR [2] /Verleihung-der-Golden-Globe-Awards/!5024097
   DIR [3] /Serie-The-Good-Lord-Bird-auf-Sky/!5725635
   DIR [4] /Regisseur-Michel-Franco-ueber-Memory/!6037008
   DIR [5] /Film-Bad-Luck-Banging-or-Loony-Porn/!5780755
   DIR [6] /Grass-von-Hong-Sangsoo-im-Forum/!5482600
   DIR [7] /Buch-von-Bob-Dylan/!5894738
   DIR [8] /Streit-um-die-Berlinale/!5993341
   DIR [9] /Regisseur-Ira-Sachs-ueber-Film-Passages/!5953370
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Tricia Tuttle
   DIR Hollywood
   DIR Independent
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR taz Plan
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Schwerpunkt Berlinale
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abschluss der 75. Berlinale: Für das Leben träumen
       
       Die Berlinale 2025 ging mit dem verdienten Goldenen Bären für den Film
       „Drømmer“ von Dag Johan Haugerud zu Ende. Doch die Bilanz fällt gemischt
       aus.
       
   DIR Wieder im Kino: Alles nur Show?
       
       Die Doku „Crass. The Sound of Free Speech“ porträtiert ein
       sozialpolitisches Musikprojekt. Auch „The Red Shoes“ zeugt von radikalem
       Kunstverständnis.
       
   DIR Bewerbungsprozess für die Berlinale: Unbequemes Kino für unbequeme Zeiten
       
       Was passiert, bis ein Film wie „Hysteria“ (Panorama) von Regisseur Mehmet
       Akif Büyükatalay auf der Berlinale zu sehen ist? Protokoll einer Prozedur.
       
   DIR Tom Shovals „A Letter to David“: Eine Person geteilt in zwei
       
       Beeindruckend erzählt Tom Shoval von einer Geisel der Hamas, dem
       Hauptdarsteller in einem früheren Spielfilm des Regisseurs, ein Berlinale
       Special.
       
   DIR Goldene Ehre für Tilda Swinton: Suche nach dem Immerneuen
       
       Der Ehrenbär der Berlinale geht dieses Jahr an die Schauspielerin Tilda
       Swinton. Sie kann sich Rollen ebenso aneignen wie in ihnen verschwinden.
       
   DIR Tom Tykwers „Das Licht“: Den Zeitgeist ausbeuten
       
       O mamma mia, mamma mia! Die Berlinale eröffnet mit Tom Tykwers lautstark
       angekündigtem Film „Das Licht“ (Berlinale Special).
       
   DIR Berlinale Forum Special: Tragödie Transamazônica
       
       Bei der heute beginnenden Berlinale läuft Jorge Bodanzkys Roadmovie
       „Iracema“ über die Bewohner des brasilianischen Regenwaldes und dessen
       Zerstörung.
       
   DIR Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle: Neue Perspektiven in Sicht
       
       Die nächste Berlinale ist die erste unter der Intendantin Tricia Tuttle.
       Bei der Pressekonferenz verspricht sie viel Gewohntes, mit ein paar Twists.
       
   DIR Aufarbeitung der Berlinale: Nach dem Abspann geht es weiter
       
       Im Kulturausschuss des Bundestags geht es um die Antisemitismus-Vorwürfe
       gegen die Berlinale. Kein leichter Einstieg für die neue Leiterin Tricia
       Tuttle.
       
   DIR Neue Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle: 1970, Baby!
       
       Tricia Tuttle wird die neue Intendantin der Berlinale. Das klingt nach
       einer guten Lösung. Zuvor leitete sie das BFI London Film Festival.