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       # taz.de -- VW in der Krise: Mit der Macht der Geschichte
       
       > Beim Autobauer VW war man immer stolz darauf, dass Krisen mit der
       > Belegschaft gemeinsam gemeistert werden. Kann das wieder gelingen?
       
   IMG Bild: Wirtschaftswunderjahre: VW-Arbeiter überqueren den Mittellandkanal, 1962
       
       So eine Krise hatte die VW-Stadt Wolfsburg noch nie erlebt: Der bis dahin
       erfolgreiche „Käfer“ war veraltet, neue Modelle floppten, die
       Personalkosten stiegen unaufhörlich, dazu kam die Ölkrise. 1974 geschah
       dann das Unvermeidliche: VW musste zehntausende Beschäftigte entlassen.
       „Und das ganz leise, ohne irgendwelchen Krach“, erinnert sich
       Alt-Gewerkschafter Ernst Lieske und es schwingt Stolz mit, wie geschickt VW
       damals dem Abgrund entkam. Das Novum: Wer den Aufhebungsvertrag
       unterschrieb, bekam eine Abfindung. Insgesamt wurden bis März 1975 über
       32.000 Stellen abgebaut.
       
       Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung, auf diese Formel wird der „Geist von
       Wolfsburg“ oft gebracht. Er schwebt über der Stadt wie der Dampf, der
       drüben vom VW-Kraftwerk aufsteigt. Was anderswo Unternehmen wanken lässt,
       räumen Vorstand und Betriebsrat ab, und sie tun es gemeinsam.
       
       Nach der Krise erreichte der Konzern 1974 mit dem Golf schnell wieder neue
       Höhen. Lieske hat das Modell mitentwickelt. Der schlanke Herr mit dem
       schmalen Oberlippenbart, Jahrgang 1947, sitzt heute wie ein Kapitän im
       Konferenzraum der IG Metall Wolfsburg. Er hält ein wenig Distanz zu der
       Handvoll Senioren ringsum, doch nicht aus Dünkel. Lieske laboriert noch an
       einer Erkältung, trotzdem ist er gekommen. Sie wollen über die Krise reden
       und unbedingt über den Geist, der Stadt und Werk verbindet.
       
       Lieske, Arbeiter, Metaller und Unternehmensvertreter in einem, ist so etwas
       wie die Inkarnation dieses Geistes. Er kam in den 50er Jahren als
       Flüchtlingskind aus der DDR und hauste in einer der Baracken, aus denen die
       Stadt Wolfsburg damals bestand. Lieske hat Autoschlosser gelernt, hat sich
       zum Meister hochgearbeitet, war in der Entwicklungsabteilung des
       Unternehmens und wirkte später aufseiten des Vorstandes an Tarifrunden mit.
       
       Wolfsburg ist wie keine andere Stadt Sinnbild für den Standort Deutschland,
       und VW ist das Symbol der Wirtschaftswunderjahre und des Wiederaufstiegs.
       Das weiß auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Am 17. Januar kam er zu
       seiner ersten „Highlight“-Veranstaltung, so bewirbt der SPD-Wahlkampfstab
       dieses Event, in die Stadt, rief: „Hallo Wolfsburg!“, und bekräftigte, dass
       bei dieser Wahl auch entschieden werde, „wie es weitergeht mit Arbeit und
       Beschäftigung!“ Die Stadthalle war gut gefüllt.
       
       Das Gewerkschaftshaus der IG Metall, in dem Lieske und seine Mitstreiter
       sitzen, ist ein gläserner Bau mit Außenbildschirm in Richtung der
       VW-Konzernzentrale und der Botschaft: „Wir halten zusammen“. Die Senioren
       praktizieren das seit Jahrzehnten. Sie haben für VW die Rücken krumm
       gemacht, sie sind im Konzern aufgestiegen und können auch als Rentner nicht
       lassen von VW. Die einen sind im Freundeskreis des VW-Museums, andere sind
       in der Seniorenvertretung der IG Metall, wieder andere bei den Christen bei
       VW. Anfang Dezember haben sie für ein Ende der Krise gebetet. Man kann
       sagen, mit Erfolg. Der Tarifvertrag, der vor Weihnachten unterzeichnet
       wurde, da sind sich alle einig, war, ähnlich wie der Abfindungs-Coup 1974,
       wieder ein Kunststück. Ernst Lieske hatte den Kompromiss schon Tage früher
       prophezeit. Wie Verhandlungen bei VW enden, das hat so ein alter Kämpe wie
       er wohl im Blut.
       
       Oliver Blume hat das eher nicht. Blume, seit Herbst 2022 VW-Vorstandschef,
       hatte im September angesichts schwacher Umsätze, schleppender Verkäufe und
       Überkapazitäten bei der Kernmarke VW gleich mehrere Tarifverträge gekündigt
       und eine „Giftliste“ präsentiert, in der er Lohnkürzungen um zehn Prozent,
       Entlassungen und Standortschließungen androhte. Und das ohne Rücksprache
       mit dem Betriebsrat, ein Affront. Blume, ein Braunschweiger, hat damit so
       ziemlich alles ruiniert, was bei VW bisher so sorgfältig austariert war.
       
       Viel erreicht hat Blume nicht. Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo, die
       einzige Frau in dieser Welt voller Egos, hat einen „super Job“ gemacht,
       findet Karl-Heinz, „Kalle“, Forytta. Und er zählt auf: [1][Keine
       Werksschließungen, keine Entlassungen], keine Einschnitte beim Tariflohn,
       und auch die Boni und Tariferhöhungen sind nicht weg, sondern fließen in
       einen Zukunfts-Fonds und können als Notgroschen dienen, falls die Krise
       2030 nicht vorbei ist.
       
       „Richtig fies ist es nicht geworden“, fasst Siebert Kloster zusammen.
       Kloster, Jeans, kariertes Hemd, Kumpeltyp, zugewandt. Er ist, wie alle
       hier, sofort beim Du. „Hier wird einfach eine andere Art der
       Arbeitnehmervertretung gelebt“, sagt Kloster, der Vorsitzender in der
       Seniorenvertretung der IG Metall ist. „Die Volkswirtschaft spielt hier noch
       genau dieselbe Rolle wie die Betriebswirtschaft, weil der Geist da ist,
       dass Beschäftigung gehalten wird, hier und an den anderen deutschen
       Standorten.“ Der Grund für diese Einmaligkeit ist das VW-Gesetz von 1960.
       Es garantiert dem Betriebsrat und dem Land Niedersachsen im 20-köpfigen
       Aufsichtsrat eine Mehrheit. Wolfsburg scheint für Gewerkschafter ein
       Leitstern zu sein.
       
       Denn „jeder Stein da drüben“, Kalle Forytta deutet Richtung VW-Werk, sei
       von den Arbeitern bezahlt worden. Was nun folgt, ist ein historischer
       Exkurs, ohne den vieles hier ein Mysterium bliebe. Der Vorläufer von VW,
       das KdF-Werk, das Hitler ab 1938 errichten ließ, wurde auch mit dem
       Vermögen der Gewerkschaften finanziert, die 1933 verboten wurden. Das Geld
       kam der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) zugute, dem NS-Einheitsverband aller
       Arbeiter. Kurzum – im VW-Werk steckt jede Menge geraubtes
       Gewerkschaftsgeld. „Das darf man nicht vergessen!“, findet Forytta.
       
       Im Mai 1938 reiste Hitler an und ließ sich zur Grundsteinlegung im
       KdF-Wagen chauffieren. KdF – „Kraft durch Freude“ – war eine der
       DAF-Untergliederungen, die „Volksgenossen“ bei Laune halten sollte, sie in
       den Urlaub schickte und den KdF-Wagen versprach: keine Luxuskarosse,
       sondern ein bezahlbarer „deutscher Volkswagen“. Das erste VW-Logo, Urbild
       aller späteren, war von einem stilisierten Hakenkreuz bekränzt. Im
       KdF-Werk, wo etwa 20.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge schufteten, liefen
       dann leichte Geländewagen, sogenannte Kübelwagen, und die „Wunderwaffe“ V1
       vom Band, bis 1945 die Amerikaner vor dem Werk standen. Werksleiter Anton
       Piëch und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche, beide NSDAP-Mitglieder,
       die immer wieder Zwangsarbeiter heranschaffen ließen, seien damals stiften
       gegangen, schimpft Forytta, und sie hätten dabei zehn Millionen Reichsmark
       eingesteckt.
       
       Später sei damit die Porsche Austria gegründet worden. „Das geht bis zur
       Porsche Automobil Holding SE“, dem DAX-Unternehmen. Es gehört dem
       Porsche/Piëch-Clan, ist größter VW-Anteilseigner und eine Geldmaschine. Im
       Juni 2024 hat der VW-Konzern 4,5 Milliarden Euro Dividende ausgeschüttet
       und 2023 eine Sonderzahlung von 9,5 Milliarden Euro. Kurzum, die „Familie“,
       so nennen sie den Clan hier, lebt gut von VW.
       
       Als ab 1945 die Arbeiter Porsches KdF-Wagen, inzwischen zum „Käfer“
       verwandelt, montierten, kassierte die „Familie“ pro Auto fünf Mark
       Lizenzgebühr von VW. Das macht bei 21 Millionen „Käfern“, die produziert
       wurden, einen gehörigen Batzen Geld. „Kalle“ hat sich in Rage geredet, und
       der Hoodie, den er trägt, gibt ihm etwas Robustes. Ein „Käfer“ von 1949
       steht hier im Foyer des Werks. Die Männer werden ihn gleich streicheln,
       wenn sie sich zum Foto versammeln.
       
       Benjamin Stern ist SPD-Direktkandidat des Wahlkreises Helmstedt-Wolfsburg.
       In eine Steppjacke gehüllt klingelt er im laufenden Haustürwahlkampf in
       langen Fluren an jeder Tür. „Hallo, Benjamin Stern, ich bin der
       SPD-Kandidat für die Bundestagswahl. Ich wollt mich einfach mal
       vorstellen.“ Stern surrt seine Begrüßung runter. „Hier ein Flyer …“ – „Bei
       einem anderen Kandidaten würde ich SPD wählen“, entgegnet der Mann. Nein,
       er meine nicht Stern, aber den Scholz! An der nächsten Tür läuft’s besser.
       „Wir sind SPD-Wähler“, ruft es aus der Wohnung. „Ja, sehr schön“, echot
       Stern. Der Rest ist Lachen.
       
       Insgesamt hat Stern einen Lauf in Detmerode, einer Neubausiedlung im
       Südwesten der Stadt. Detmerode ist im Kleinen, was Wolfsburg im Großen ist:
       Eine Reißbrettstadt mit Wohnhochhäusern, Magistrale und einem
       Stadtteilzentrum mit schneeweißem Kirchenbau, entworfen vom Finnen Alvar
       Aalto, kurzum: Ein Versprechen auf eine lichte Zukunft. Und natürlich lebt
       so ziemlich jeder von VW, auch Stern, Jahrgang 1981. Als gelernter Koch kam
       er zu VW Group Services, einem Personaldienstleister. Seit 2018 ist er
       Betriebsratschef.
       
       Wolfsburg ist SPD-Land. Aber eine Hochburg, nein, das weist Stern zurück.
       Die Stadt mit ihren 127.000 Einwohnern habe einen CDU-Oberbürgermeister und
       der Wahlkreis 51 reiche tief ins Umland, wo andere Themen dominierten wie
       Nahverkehr, Internetversorgung, Agrarpolitik. Auf 17 Prozent ist die AfD
       bei der Europawahl im Juni 2024 dort gekommen.
       
       Klinkenputzen ist beschwerlich, aber spannend. „So kriegt man die Stimmung
       mit.“ Welche? „Es ist erschreckend, wie ich bei vielen die Angst in den
       Augen sehe, vor Krieg, vor Rechtsruck.“ Auch die Coronamaßnahmen sind noch
       Thema. „Der Tarifkompromiss bei VW, der hilft uns“, sagt Stern. „Das es
       weitergeht, ist beruhigend, und dass es keine Standortschließungen gibt,
       auch, und die SPD hat sich sehr schnell zu VW bekannt.“
       
       Später, an einer Hausecke, fasst Stern zusammen: Strompreis deckeln,
       Schuldenbremse lockern, Bürokratie abbauen. „Wolfsburg ist bekannt für
       Fahrzeuge. Wir stehen für gute Wertarbeit und da wollen wir wieder hin.“
       Die Medaille habe aber eben zwei Seiten, die Sichtweise des Kapitals und
       die der Beschäftigten. Erst zusammen ergibt das die Sozialpartnerschaft,
       auf die VW so stolz ist. „Das ist sehr stark verloren gegangen.“
       
       Am nächsten Morgen jagen Schneeschauer über Detmerode. Axel Bosse,
       Wollmütze auf dem Kopf, steht auf dem Markt, eine Ladenstraße, die ihren
       Anfang bei der Kirche von Alvar Aalto nimmt. Und bei Bäcker Leifert. Dort
       hinein führt Bosse. Eigentlich müsste es eine Kneipe sein, Bosse ist Kenner
       der Wolfsburger Kneipenszene. Vor Kurzem hat er ein Buch darüber
       veröffentlicht, „Wolfsburg Kneipengeschichten. Zwischen Tiffany und
       Hühner-Rudi“.
       
       Doch Bosse kennt nicht nur die Tresen, er korrigiert auch manch allzu milde
       Erinnerung. So still und leise lief es nicht beim Stellenabbau 1974. „Die
       Ersten, die gingen, waren Italiener“, sagt er. Viele der Gastarbeiter
       nahmen die Abfindung und kehrten in ihre Heimat zurück. Andere jedoch
       blieben. „Es ist kein Zufall, dass 1974 die ersten Pizzerien eröffnet
       wurden.“ Es traf aber nicht nur Italiener, sondern auch Frauen:
       „Doppelverdiener“ war das Stichwort, mit dem arbeitende Ehefrauen aus dem
       Werk gedrängt wurden. „Auch Frauen haben die 10.000 Mark genommen und eine
       Kneipe aufgemacht.“
       
       Bosse hat auch eine VW-Biografie, doch eine krumme. Mit 15, als
       Maschinenbaulehrling, war Bosse in der alternativen Lehrlingsbewegung
       aktiv, die im maoistischen KBW aufging, dem Kommunistischen Bund
       Westdeutschland. Die IG Metall schmiss ihn raus. Die Karriere bei VW war
       vorbei. Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt. Der vom Maoismus geläuterte
       Bosse wurde wieder in die IG Metall aufgenommen und hat als VW-Ingenieur
       Roboter konstruiert, den „Lupo“, das Dreiliterauto, mitentwickelt und kann
       über die Anfänge der E-Autos berichten. Bosse hat unter vier
       Vorstandsvorsitzenden gearbeitet, hat Krisen kommen und wieder gehen sehen
       und Einblick erhalten in die Wolfsburger Hofhaltung, die so gar nicht
       passen wollen zu der hochgehaltenen Mitbestimmung.
       
       Bosse hat den beschworenen „Geist von Wolfsburg“ ganz anders kennengelernt.
       Er hat die Machtfülle erlebt, aus der Vorstände, Abteilungsleiter und
       Betriebsräte schöpften. Es ging um Statusfragen, wer etwa aufs Werkgelände
       fahren darf, um Ehrendoktorwürden, Verdienstorden. Vor allem aber hat Bosse
       gesehen, wie aus Sozialpartnern Kumpane wurden, aus Betriebsräten
       „Co-Manager“. Und es ging nicht nur um Eitelkeiten, sondern um Korruption,
       um Untreue, „Sexpartys“ und um viel Geld. 2005 flog der Spuk auf. Die
       Justiz verurteilte ehemalige Manager und Betriebsräte zu Geld- und
       Bewährungsstrafen, und der Betriebsratsvorsitzende musste für fast zwei
       Jahre hinter Gitter.
       
       Vorbei war die Hybris aber nicht. „Wo ich hingucke, wächst Gras!“ Diese
       Selbstherrlichkeit stammt von Martin Winterkorn. Unter diesem Vorstandschef
       erlebte VW den totalen Absturz. Im September 2015 deckte die
       US-Umweltbehörde Manipulationen auf, mit denen VW die Abgaswerte von
       Dieselautos auf Prüfständen drückte. Elf Millionen Fahrzeuge waren
       betroffen. Der Nimbus von VW, deutsche Ingenieurskunst gepaart mit
       tadellosem Berufsethos, war zerstört.
       
       Bisher hat VW 32 Milliarden Euro an Bußgeldern und Wiedergutmachung
       gezahlt. Die [2][strafrechtliche Aufarbeitung] zieht sich. Im September
       2024 hat in Braunschweig der Prozess gegen Winterkorn begonnen, doch die 89
       angesetzten Termine verzögern sich. Winterkorn macht gesundheitliche Gründe
       geltend.
       
       Kriegt der Autobauer auch in der aktuellen Krise wieder die Kurve? „Bisher
       hat es VW immer geschafft“, sagt Bosse. Er konstatiert eine gewisse
       Zockermentalität. „Manchmal haben sie alles auf eine Karte gesetzt, etwa
       1974 beim Golf.“ Dann klingt auch Skepsis durch. In früheren Krisen habe VW
       die Zulieferer kujoniert, hat die Viertagewoche ohne Lohnausgleich
       durchgesetzt. Doch inzwischen sind viele Zulieferer in Konzernen
       aufgegangen, die über eine eigene Marktmacht verfügen. Und der Bau von
       E-Autos erfordert perspektivisch deutlich weniger Personal.
       
       Apropos E-Autos. Möglicherweise war es Porsche-Enkel Ferdinand Piëch, der
       Anfang der 90er eine fatale Entscheidung traf. VW steckte mal wieder in
       einer Krise, das Geld wurde knapp, neue Modelle mussten her. „Wir waren in
       der Konzernforschung in der Diskussion, Konzepte zu entwickeln für die
       Innenstadt“, erzählt Bosse. Schon 1991 gab es einen Lichtblick, als VW mit
       dem „Chico“ ein Stadtauto mit Hybridantrieb präsentierte. Außerdem sollten
       sich auf Rügen umgebaute E-Golfs im Alltagstest beweisen. „Und dann war die
       Frage: Was machen wir? Das Dreiliterauto oder Elektro? Geld war nur für
       eine Entwicklungsrichtung vorhanden.“ Piëch entschied sich für den „Lupo“
       mit Dieselantrieb. Das erste E-Auto von VW kam dann erst 2013.
       
       Bosse, Jahrgang 1952, ist bei VW raus. Nach seinem Ausflug zum KBW trat er
       den Grünen bei. Beliebter machte sich Bosse dadurch nicht. „U-Bahnen und
       die Grünen sind die Hauptfeinde der Autoindustrie“, zitiert er genüsslich
       eine Broschüre, die im VW-Management kursierte.
       
       Sehr zur Überraschung von Bosse selbst wurde er im November 2024 zum
       Ortsbürgermeister von Detmerode gewählt, einem Stadtteil, der in die Jahre
       gekommen ist: sanierungsbedürftige Wohnhäuser, Überalterung,
       Bevölkerungsrückgang. Wo einst 15.000 Menschen lebten, wohnen noch 7.500.
       Die Aufgaben sind groß, die Finanzen dürftig, Gewerbesteuereinnahmen
       rückläufig. Auf VW sollte sich keiner mehr verlassen. Die Strafzahlungen
       aus dem „Dieselgate“ drücken Gewinn und Gewerbesteuer. Es schneit, als
       Bosse in die Alvar-Aalto-Kirche führt, ein evangelisches Gemeindezentrum,
       außen eher langweilig und kühl, innen ein erstaunlich warmes Ambiente. Es
       könnte die Beschreibung für den VW-Style sein.
       
       Vollständig wird das Bild auf dem Klieversberg. Die Männer von der IG
       Metall und auch Bosse haben empfohlen, die Anhöhe zu besuchen, wo die
       Porschehütte steht, eine blechgedeckte Baracke. In solchen Buden lebten
       KdF-Arbeiter, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, später
       Vertriebene, Kriegsflüchtlinge, Glücksritter.
       
       In besserer Ausstattung logierte hier Ferdinand Porsche, wenn er im
       KdF-Werk zu tun hatte, das Schwiegersohn Anton Piëch leitete. Dessen Sohn
       wiederum, ebenfalls ein Ferdinand, verbrachte als Fünfjähriger 1942 hier
       die Sommerferien. Als VW-Chef habe sich Ferdinand Piëch, so erzählten es
       die Männer, oft hierher zurückgezogen. Über einer Wiese öffnet sich der
       Blick auf die Stadt, auf das Schloss Wolfsburg, das der KdF-Gründung 1945
       den Namen gab, und auf das VW-Werk, wo über 61.000 Menschen arbeiten,
       jahrzehntelang die größte Fabrik der Welt. Erst 2022 zog die
       Tesla-Gigafactory in Texas vorbei.
       
       Auf einer Betriebsversammlung Anfang Februar demonstrierten
       VW-Markenvorstand Thomas Schäfer und Betriebsratschefin Daniela Cavallo
       nach den Kämpfen im Herbst neue Eintracht. Schäfer präsentierte Studien für
       ein neues E-Auto, das schon ab 2027 in Wolfsburg vom Band laufen soll,
       klein, preiswert und solide. Immerhin, die deutschen Verkaufszahlen für
       alle ID-Modelle ziehen an, VW lässt damit Konkurrent Tesla hinter sich. Das
       dürfte sich mit den Einstiegsmodellen fortsetzen.
       
       Es bleiben enorme Risiken: So treffen die US-Strafzölle VW besonders. Es
       betreibt ein Werk in Mexiko und muss zudem die Oberklassenmodelle von Audi
       und Porsche, die sie in den USA verkaufen, aus Europa einführen. Deren
       Absatzzahlen sind schon eingebrochen, Marktanteile in China bröckeln, und
       die deutsche Wirtschaft schrumpft weiter. Nach den Einschnitten für die
       Belegschaft fordert Betriebsratsvorsitzende Cavallo nun, dass auch Vorstand
       und Aktionäre ihren Beitrag leisten, damit auch die „Familie“.
       
       Besonders einladend ist die Porschehütte nicht, die Baracke ist
       verschlossen. Doch wer im VW-Vorstand ist, sollte den Hügel besuchen und
       seinen Blick auf die Stadtlandschaft schweifen lassen. Nicht, weil hier
       oben Ferdinand Porsche weilte. Man kann in einem Augenblick erfassen, worum
       es bei VW immer geht: Es geht um Macht – und um Verantwortung.
       
       18 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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