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       # taz.de -- Juristin über mehr Diskriminierungen: „Leider zeigen die wenigsten Zivilcourage“
       
       > Die Zahl der Diskriminierungsfälle steige, sagt Juristin Eva Maria
       > Andrades. Sie erklärt, was Betroffene tun können und welche Rechte sie
       > haben.
       
   IMG Bild: Hoffnungsmachend: Großdemonstration gegen Rechtsextremismus. Brandenburger Tor 25.1.25
       
       taz: Frau Andrades, am 29. Januar brachte die Union ihren Antrag für eine
       massive Verschärfung der Migrationspolitik [1][mit Stimmen der AfD] durch
       den Bundestag. Was bedeutet dieses Ereignis für Menschen, die von
       Diskriminierung betroffen sind? 
       
       Eva Maria Andrades: Das, was da im Bundestag passiert ist, ist extrem
       besorgniserregend. Es stellt einen Dammbruch dar, der vielen Menschen im
       Land das Signal gegeben hat, dass sie jetzt offener denn je MitbürgerInnen
       rassistisch diskriminieren können. Für alle, die von Rassismus betroffen
       sind, für Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte bedeutet das
       wiederum, dass sie nicht sicher sind und dass sie sich fürchten müssen.
       
       taz: Inwiefern äußert sich der Rechtsruck in der Arbeit der
       Beratungsstellen, die sich unter dem Dach Ihres Verbands vereinen? 
       
       Andrades: Wir beobachten, dass die gemeldeten Fälle von Diskriminierung und
       die Beratungsanfragen in jüngster Zeit deutlich zugenommen haben. Damit
       setzt sich die Entwicklung der vergangenen Jahre fort. Viele BeraterInnen
       berichten, dass rassistische Beleidigungen und Angriffe heute
       offensichtlicher passieren als noch vor ein paar Jahren. [2][In Magdeburg]
       trauen sich rassifizierte Menschen seit dem Attentat auf dem
       Weihnachtsmarkt im Dezember zum Teil nicht mehr allein auf die Straße.
       KollegInnen vor Ort versuchen Betroffene mit Piepern auszustatten, damit
       diese auf sich aufmerksam machen können, wenn sie angefeindet oder
       angegriffen werden. Dass wir solche Maßnahmen brauchen, um Menschen vor
       Diskriminierung und Gewalt zu schützen, macht mich sprachlos.
       
       taz: Welche Möglichkeiten haben Betroffene darüber hinaus, um sich gegen
       Diskriminierung zu wehren? 
       
       Andrades: Grundsätzlich – das wissen viele Betroffene gar nicht – gilt:
       Diskriminierung ist verboten. Das regeln der Artikel 3 des Grundgesetzes
       und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Wer Diskriminierung erfährt,
       hat also Rechte. Die Beratenden in unseren Mitgliedsorganisationen klären
       Betroffene über diese auf und überlegen mit ihnen gemeinsam, welche
       weiteren, auch rechtlichen Schritte möglich sind.
       
       taz: Angenommen, ich werde in der Bahn rassistisch beschimpft. Was kann ich
       ganz konkret in der Situation tun? 
       
       Andrades: Das kommt immer auf den Einzelfall an, und so eine rassistische
       Anfeindung bringt viele Betroffene in einen emotionalen Ausnahmezustand.
       Von ihnen zu erwarten, dass sie immer angemessen reagieren, wäre also nicht
       fair. Als Erstes gilt, sich zu schützen und nicht in weitere Gefahr zu
       bringen. Außerdem ist es ratsam, Menschen in der Bahn zu fragen, ob sie die
       Anfeindung mitbekommen haben. So lassen sich möglicherweise ZeugInnen
       finden, die im Fall einer Anzeige den Vorfall bestätigen können. Dann
       sollte man die Polizei rufen, um den Fall anzuzeigen. Allerdings haben
       nicht alle Betroffenen die Nerven und die Kraft dafür, und das verstehe
       ich. Ich rate dazu, den Fall zumindest zu melden, damit er in der Statistik
       nicht untergeht.
       
       taz: Wie kann ich helfen, wenn ich die Situation in der Straßenbahn als
       außenstehende Person mitbekomme? 
       
       Andrades: Leider zeigt unsere Erfahrung, dass die wenigsten in solchen
       Momenten Zivilcourage zeigen. Natürlich ist auch die Frage, wie
       gewaltbereit die Person ist, von der die Diskriminierung ausgeht. Aber
       grundsätzlich hilft es Betroffenen ungemein, wenn sie Solidarität erfahren,
       indem man ihnen sagt: Ich habe gesehen, was passiert ist, das war nicht
       okay. Ich halte zu dir und kann dich unterstützen. Wenn möglich, sollte man
       bei der betroffenen Person bleiben, bis die Polizei kommt, damit sie nicht
       allein ist.
       
       taz: Wie kann ich FreundInnen oder Verwandte unterstützen, die von
       Diskriminierung betroffen sind? 
       
       Andrades: Das Wichtigste: Zuhören, ernst nehmen und den Vorfall nicht
       relativieren. Für Außenstehende ist es vielleicht nur ein Einzelfall, aber
       für Betroffene reiht sich dieser oft ein in eine lange Kette von
       Diskriminierungserfahrungen, die irgendwann zu einer großen Last wird. Im
       Fokus sollte immer die betroffene Person mit ihren Bedürfnissen stehen. Was
       braucht sie gerade am dringendsten, um mit der Situation fertigzuwerden,
       und wie kann ich dabei helfen? Es geht um emotionale Unterstützung und
       nicht darum, alle Fristen und Hilfsadressen im Kopf zu haben. Stattdessen
       kann man zum Beispiel auf der Suche nach einer Beratungsstelle in der Nähe
       helfen und beim ersten Termin mitgehen. Im Fall von Diskriminierung am
       Arbeitsplatz kann ich unterstützen, indem ich mich als ZeugIn zur Verfügung
       stelle, wenn ich etwas mitbekommen habe.
       
       taz: Nicht immer reicht der Mut, um sich mit seinem Chef oder seiner Chefin
       anzulegen, weil man im Job Diskriminierung erfährt. 
       
       Andrades: Das stimmt, und an diesem Machtverhältnis können auch wir erst
       einmal nichts ändern. Wir motivieren dennoch alle Betroffenen, sich
       trotzdem zu melden. In der Beratung kann man gemeinsam schauen, ob es
       Beweise für die Diskriminierung gibt, Verbündete im Team oder eine
       Beschwerdestelle im Unternehmen, an die man sich wenden kann. Viele
       Menschen trauen sich das nicht und melden sich erst, wenn sie innerlich
       schon abgeschlossen haben mit ihrem Job. Damit es erst gar nicht so weit
       kommt, brauchen wir in Deutschland einen besseren arbeitsrechtlichen Schutz
       vor Diskriminierung, mehr Beschwerdestellen in Unternehmen, an die sich
       Betroffene wenden können, und mehr Prävention, damit Unternehmen sensibler
       für das Thema Diskriminierung werden. Da haben wir noch einen langen Weg
       vor uns – wenn auch in den letzten 20 Jahren schon viel passiert ist in
       Sachen Antidiskriminierung.
       
       taz: Bis heute meldet sich nur ein Bruchteil der von Diskriminierung
       Betroffenen in den Beratungsstellen. Warum ist das so und wie lässt sich
       das ändern? 
       
       Andrades: Nicht selten spielt sicher ein Gewöhnungseffekt eine Rolle. Wenn
       ich ein Leben lang die gleichen rassistischen Erfahrungen mache, immer
       wieder Ausschluss erlebe, nehme ich das irgendwann als Teil meines Alltags
       hin – so schmerzlich dieser auch ist. Häufig melden sich Betroffene erst,
       wenn die Diskriminierung mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden ist,
       wenn Gewalt oder der Verlust der Wohnung droht. Wir wissen auch, dass der
       Gang zur Beratungsstelle immer noch mit zu vielen Hürden verbunden ist.
       Weil Menschen gar nicht wissen, dass es Hilfsadressen gibt, oder es ihnen
       an Zeit und Energie fehlt oder am Vertrauen darauf, dass sie in der
       Beratung ernst genommen werden und diese auch etwas bewirken kann.
       
       taz: Um marginalisierten Menschen besser helfen zu können, pocht Ihr
       Verband auf eine Reform des AGG, des [3][Allgemeinen
       Gleichbehandlungsgesetzes], die die Ampelkoalition verschlafen hat. Wie
       zuversichtlich sind Sie, dass die Reform mit der nächsten Bundesregierung
       kommt? 
       
       Andrades: Sagen wir so: Für Konservative hat das Thema keine besondere
       Priorität. Dabei ist eine Reform des 18 Jahre alten AGG dringend notwendig.
       Denn aktuell deckt es nur den Privat- und Dienstleistungsbereich ab.
       Erfahre ich bei der Polizei oder im Jobcenter Diskriminierung, greift das
       Gesetz nicht. Ein weiteres Problem ist, dass Betroffene ihre Rechte laut
       aktuellem AGG innerhalb von zwei Monaten nach dem Diskriminierungsfall
       geltend machen müssen, und diese Frist ist aus unserer Sicht viel zu kurz.
       Darüber hinaus müssen Betroffene selber klagen, wenn sie rechtliche
       Schritte gehen wollen. Vielen fehlen dafür Zeit, Energie und Geld. Daher
       fordern wir in einem neuen AGG ein Klagerecht für
       Antidiskriminierungsverbände, damit die Betroffenen diesen Weg nicht allein
       gehen müssen.
       
       10 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] /AGG/!t5011098
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Catoni
       
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