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       # taz.de -- Expertin über die israelische Demokratie: „Wir müssen Israel neu erfinden“
       
       > Israel hat bis heute keine Verfassung. Die Politologin Dahlia Scheindlin
       > erklärt, wie sich das auch auf den Umgang mit den Palästinensern
       > auswirkt.
       
   IMG Bild: Seit Jahren fordern Demonstrierende in Israel eine Verfassung für ihr Land, hier im Frühjahr 2023
       
       taz: Frau Scheindlin, Israel wird oft als einzige Demokratie im Nahen Osten
       gepriesen. Zu Recht? 
       
       Dahlia Scheindlin: Israel ist demokratisch genug, um zu wissen, wie
       undemokratisch es tatsächlich ist. Ich halte Israel persönlich nicht für
       eine Demokratie, sondern ein Land mit demokratischen Elementen. Aber es ist
       schwierig zu quantifizieren, wie demokratisch es genau ist. Denn alle
       Indexe, die auch die Demokratie in Israel bemessen, beschränken sich auf
       israelische Staatsbürger und schließen die palästinensischen Gebiete nicht
       vollständig mit ein.
       
       taz: Wie demokratisch ist Israel denn für seine Staatsbürger? 
       
       Scheindlin: Es schneidet nicht schlecht ab, und es kann tatsächlich als
       beste Demokratie im Nahen Osten in Bezug auf seine eigenen Staatsbürger
       gesehen werden. Es gibt eine freie Presse, regelmäßige Wahlen, eine
       demokratische Praxis und auch demokratische Erwartungen der Bürger. Aber es
       gibt eine sehr ernste Verschlechterung aufgrund eines langfristigen,
       methodischen Angriffs auf diese demokratischen Institutionen durch die
       politische Führung.
       
       taz: Und für Nicht-Staatsbürger, für die Palästinenser? 
       
       Scheindlin: Das Problem ist, dass Israel auch drei Millionen Palästinenser
       [1][in der Westbank kontrolliert], die sich ohne die Aufsicht Israels nicht
       bewegen können. Die in einem vollkommen anderen rechtlichen Regime leben,
       ohne einfache Bürgerrechte, ohne Wahlrecht. Dort herrscht ein israelisches
       Militärregime, die Westbank wurde de facto schon annektiert. Hinzu kommen
       die rund 350.000 Palästinenser in Ostjerusalem, die keine israelische
       Staatsbürgerschaft haben. Israel besetzt und kontrolliert auch den
       Gazastreifen, wo fast zwei Millionen weitere Palästinenser unter seiner
       Herrschaft stehen. Und wenn man so auf die Situation blickt, dann ist das
       fast ein Widerspruch, von der besten Demokratie im Nahen Osten zu sprechen.
       
       taz: In Ihrem Buch, erschienen kurz vor dem 7. Oktober 2023, kritisieren
       Sie, dass die militärische Besetzung der Westbank und die Tatsache, dass
       Israel bis heute keine Verfassung hat, oft als zwei getrennte Themen
       gesehen werden. Warum? 
       
       Scheindlin: Eine Verfassung würde Israels territoriale Souveränität
       einschränken. Dann könnte man nicht Zivil- und Militärrecht in einer
       rechtlichen Bürokratie einfach mischen, wie es in der Westbank der Fall
       ist. Das würde auch die effektive Kontrolle Israels über den Gazastreifen
       während der meisten Jahre seit 1967 betreffen.
       
       taz: Warum hat Israel keine Verfassung? 
       
       Scheindlin: Es existierten schon vor der Staatsgründung 1948
       Verfassungsentwürfe. Aber es gibt aus meiner Sicht zwei Gründe dafür, dass
       es bis heute keine Verfassung gibt: Israels erster Ministerpräsident David
       Ben-Gurion wollte sich nicht mit den ultrareligiösen Parteien verfeinden,
       die wir heute ultraorthodox oder nationalreligiös nennen. Und diese wollten
       keine säkulare Verfassung, die über dem religiösen Gesetz stehen würde. Für
       sie ist die Verfassung Israels die Tora.
       
       taz: Und der zweite Grund? 
       
       Scheindlin: Ben-Gurion war sich nicht sicher, ob arabische Bürger im Land
       gleiche Rechte genießen sollten oder nicht, und eine Verfassung hätte sie
       berechtigt, sie einzufordern. 1950 entschied die Knesset, dass sie keine
       Verfassung verabschieden wird – sondern nur Grundgesetze, die in der Regel
       vollkommen undefiniert waren und mit beliebiger Mehrheit verabschiedet,
       geändert oder annulliert werden konnten. Nur ein einziger Artikel in einem
       der Grundgesetze erfordert die hohe Zweidrittelmehrheit für Änderungen, wie
       sie in den meisten Verfassungen vorgesehen ist. Erst seit den 1990ern gibt
       es überhaupt Grundgesetze, die die Rechte des Individuums oder
       Menschenrechte bewahren. Viele weitere Bürgerrechte sind bis heute nicht
       gesetzlich verankert.
       
       taz: Manche Linksliberale blicken nostalgisch auf die goldenen Jahre der
       israelischen Demokratie unter Ben-Gurion und seiner sozialistischen
       Mapai-Partei zurück. Ein Irrtum? 
       
       Scheindlin: Das ist falsch aus einer demokratischen Perspektive, auch aus
       einer historischen und empirischen. Ben-Gurion war sich keineswegs darüber
       im Klaren, ob er für eine Gewaltenteilung war, um seine Macht und die der
       Exekutive zu kontrollieren. Das war auch ein wichtiger Grund, weshalb er
       keine Verfassung wollte. Aber schon in den 1950er Jahren gab es vom
       Obersten Gericht Gegenwind. Es war so ziemlich die einzige institutionelle
       Kontrolle über das Ungleichgewicht der Exekutivgewalt, neben regelmäßigen
       Wahlen.
       
       taz: Mit [2][umstrittenen Justizreformen] versucht Benjamin Netanjahu seit
       2023, die Unabhängigkeit ebendieses Gerichts zu schwächen … 
       
       Scheindlin: Seine Regierung denkt nicht, dass sie damit ein
       undemokratisches Projekt vorantreibt, im Gegenteil. Sie verkaufen das so,
       dass sie Israel eigentlich demokratischer machen. So nach dem Motto:
       Gewählte Vertreter sollen das Land regieren, nicht irgendein Gericht.
       
       taz: Netanjahu kritisiert, dass das Oberste Gericht seine Richter selbst
       auswählt, was undemokratisch sei. Muss es nicht auf irgendeine Art und
       Weise doch reformiert werden? 
       
       Scheindlin: Es gibt viele Probleme in der Justiz und einiges, was man
       reformieren müsste. Das größte Problem ist, wie langsam sie ist: Israel hat
       einen großen Rückstau an Fällen, weil es nicht genug Richter gibt. Aber das
       will die Regierung zum Beispiel gar nicht verbessern. Und Netanjahus Kritik
       muss ich zurückweisen: Das Oberste Gericht wählt sich selbst nicht, es gibt
       ein Komitee, das aus Richtern, Mitgliedern der Anwaltskammer, Ministern und
       Abgeordneten besteht. Solche Slogans von Benjamin Netanjahu und seinen
       Verbündeten sind manipulativ und inkorrekt.
       
       taz: Die geplanten Justizreformen haben 2023 [3][Hunderttausende in Israel
       auf die Straße gebracht], die Regierung musste teilweise zurückrudern.
       Spielt die fehlende Verfassung Israels eine Rolle bei den Protesten? 
       
       Scheindlin: Schon früh forderten die Demonstrierenden eine Verfassung. Und
       das hat mich sehr überrascht. Junge Menschen stellten verfassungsrechtliche
       Fragen, und Rechtswissenschaftler organisierten Teach-ins. Ich hoffe, dass
       genug Menschen klar ist, wie grundsätzlich die Krise der israelischen
       Demokratie mit dem aktuellen Konflikt in Gaza und der Besatzung im
       Allgemeinen verbunden ist. Es reicht nicht, Netanjahu aus dem Amt zu
       kriegen. Wir müssen Israel neu erfinden.
       
       taz: Seit zwei Wochen gibt es wieder Massenproteste in Tel Aviv und
       Jerusalem, nachdem Netanjahu versucht hatte, [4][den Chef des
       Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, sowie die Generalstaatsanwältin
       Gali Baharav-Miara] zu entlassen. Geben Ihnen diese Demonstrationen wieder
       Hoffnung? 
       
       Scheindlin: Es gibt jetzt einen viel größeren Backlash als in vergangenen
       Jahren, in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Doch die Situation
       bleibt unvorhersehbar. Die Regierung setzt alles daran, diesen öffentlichen
       Widerstand zu brechen, aber ich weiß nicht, wo das enden wird. Ich bin also
       genauso beunruhigt wie schon die ganze Zeit über.
       
       taz: Stellt der Versuch, die beiden zu feuern, einen Kipppunkt dar in
       Netanjahus Angriff auf Israels Demokratie? 
       
       Scheindlin: Das alles ist beispiellos. Es ist ein weiterer, erheblicher
       Schritt in Richtung des Zusammenbruchs demokratischer Institutionen und
       Praxis in Israel, doch die Situation war schon vorher kritisch. Es ist für
       Netanjahu nur konsequent und spiegelt die Kontinuität des Programms seiner
       Regierung wider. Von Anfang an hat man sich von Trump inspirieren lassen,
       von seiner Art des politischen Massakers.
       
       taz: Angriffe auf Justiz und Medien, ein Premier vor Gericht, kein Ende des
       Krieges in Sicht – all das führt zu einer politischen Verzweiflung unter
       vielen Israelis. Das Israel Democracy Institute untersucht, wie
       optimistisch Bürger hinsichtlich der Zukunft der israelischen Demokratie
       sind. Es zeigt sich ein Abwärtstrend: Nur noch 36 Prozent sind
       optimistisch. Sind Sie es? 
       
       Scheindlin: Nein. Es gibt das Potenzial und die Werkzeuge, um sich als Land
       in eine demokratischere Richtung zu entwickeln, um vielleicht sogar die
       Demokratie in Israel grundlegend wieder aufzubauen. Das größte Werkzeug
       dabei ist die Zivilgesellschaft, die seit dem 7. Oktober sehr aktiv gewesen
       ist. Aber ich sehe momentan nicht, wie dieser Prozess auf politischer Ebene
       in Gang gesetzt werden würde. Und die nächste Wahl soll erst Ende 2026
       stattfinden. Fast zwei Jahre sind für mich zu weit im Voraus, um zu wissen,
       wie die Ergebnisse aussehen werden. Gleichzeitig heißt das Problem nicht
       nur Benjamin Netanjahu.
       
       30 Mar 2025
       
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