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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Den Schrecken in Verse packen
       
       > Der britische Ex-Offizier David Conlin war auf Zypern im Einsatz, später
       > arbeitete er im Alliiertengefängnis in Berlin. Heute ist der 82-Jährige
       > Vogelschützer und Poet.
       
   IMG Bild: Conlin wuchs zusammen mit acht Geschwistern in Wales auf. Jeden Abend spielte der Großvater Irish fiddle
       
       Krieg und Poesie, das klingt nach einem Gegensatz. David Conlin sieht das
       anders. Fast jeden Tag schreibt er Lyrik über den russischen
       [1][Angriffskrieg in der Ukraine].
       
       Draußen: Eine ruhige Gegend in Berlin-Westend. Nur wenige Minuten entfernt
       liegt die Klause, in der Dichter Joachim Ringelnatz am liebsten einkehrte.
       Stürmischer Wind tobt in der Straße – fast wie in Wales.
       
       Drinnen: Conlins Frau Jana Grosch-Conlin zeigt auf bemalte Eier in einer
       Vitrine. „Das sind meine Kunstwerke“, sagt sie. Auch sonst überall im
       Wohnzimmer hängt ihre Kunst. Eine beklebte Katzenskulptur im Flur wiederum
       dient dem blinden Kater, der sich in einem Schrank im Badezimmer ausruht,
       als Kratzbaum.
       
       Bücher: „Die Leute sagen, David erfindet sich immer wieder neu“, sagt
       Grosch-Conlin über ihren Mann. In den Bücherregalen stehen Bände mit
       Gedichten, die er übersetzte sowie seine Bücher über Vögel. Jana
       Grosch-Conlin bringt Stollen ins Wohnzimmer: „mit selbst gemachtem
       Marzipan“, fragt ihn: „Schatz, willst du auch einen Tee oder Kaffee?“,
       bevor sie ins Nebenzimmer verschwindet. Dann setzt Conlin sich an den Tisch
       und erzählt.
       
       Wales: 1943 geboren, wuchs Conlin mit acht Geschwistern als Kind irischer
       Eltern in Newtown in Wales auf. „In unserer Gemeinde waren Italiener,
       manchmal Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg, Polen, Tschechen, alles
       Leute, die im Krieg geflohen sind, und Iren. Da bin ich groß geworden.“ Die
       Großeltern mütterlicherseits lebten mit im Haus.
       
       Musik und Poesie: Der Großvater spielte jeden Abend Geige, Irish fiddle,
       die Mutter sang. „Ich kann heute 70, 80 irische Lieder“, sagt Conlin stolz.
       Mit vier Jahren habe er lesen gelernt. „Mein Großvater hat mir immer Bücher
       geschenkt, englische und schottische Klassiker. Damals habe ich schon
       kleine Verse geschrieben.“
       
       Kapitän: Mit einem Stipendium kam er auf ein Internat der Benediktiner in
       Hereford in England, an der Grenze zu Wales. Conlin, damals ein „scheuer
       11-Jähriger mit irischem Akzent“ und „überhaupt nicht sportlich“, kämpft
       sich durch und wird Kapitän der Rugby-Mannschaft. Im Internat hatte er
       „einen fantastischen Englischlehrer“, der auch Poesie liebte.
       
       Fernglas: Warum er aber zum Militär ging? Schulterzuckend antwortet er: „Du
       kommst aus einer ziemlich armen Familie, willst auf der gesellschaftlichen
       Leiter aufsteigen, und das Einfachste ist, zum Militär zu gehen.“ Dort war
       auch schon der Großvater, der wie er Vögel liebte. „Ich war damals schon
       Vogelbeobachter und als Offizier bekam man ein Fernglas.“ Zwei Jahre macht
       er eine Offiziersausbildung. „Und dann kam die Realität.“
       
       Zypern: Er erzählt von seinem ersten Einsatz auf Zypern. „Ich habe
       innerhalb der ersten Woche die ersten Toten gesehen.“ Weihnachten 1963,
       gerade war ein Bürgerkrieg zwischen türkischen und griechischen Zyprioten
       ausgebrochen. „Ich war in einem türkisch-griechischen Dorf“, die Bewohner
       schossen aufeinander. „Und wir haben versucht, das zu unterbinden.“
       
       Tod: Jede Woche hätten sie tote Bauern auf dem Feld geborgen, den Familien
       die schlimme Nachricht überbracht. „Der Tod schmeckt grau“, sagt er. „Man
       schmeckt das. Ich schmeckte grau, ich kann das nicht anders beschreiben.“
       
       Berlin: Dann also Berlin, Conlin lernte dort seine erste Frau kennen. 1965
       wurde er als junger Offizier in Spandau in einer Kaserne stationiert.
       Gleich gegenüber lag das Alliiertengefängnis, wo deutsche Kriegsgefangene
       interniert waren. Darunter auch [2][Nazi-Verbrecher Rudolf Heß]. Conlin ist
       damals im diplomatischen Dienst der britischen Militärregierung tätig und
       dort für den Bereich öffentliche Sicherheit zuständig.
       
       Heß: Als Conlin einmal auf dessen Zimmer kam, sagte der, er brauche einen
       Fernseher, wolle ein Fußballspiel sehen. Viele Jahre später beging Heß in
       seiner Zelle Suizid, Conlin brachte den Leichnam damals zu Obduktion.
       
       Queen Mum: In seinem letzten Jahr bei den Briten in Berlin, 1990, kam die
       Queen Mum zu Besuch. Conlin war damals zwar nicht mehr beim Militär, aber
       für ihre Sicherheit verantwortlich. Die Mauer war gefallen und die Mutter
       von Königin Elizabeth II. war anlässlich des St. Patrick Days nach Berlin
       gereist. Zu Conlin habe sie gesagt: „Junger Mann, ich bin zwar alt, aber
       nicht blöd, ich weiß, was in Berlin passiert ist, ich will die Berliner
       Mauer sehen.“
       
       Mauer: Conlin erfüllte den Wunsch, holte zwei Leute vom Staatsschutz dazu.
       Das Ganze habe sich schnell herumgesprochen. „In zwanzig Minuten war die
       Abendschau da.“ Ein Botschafter habe ihn später zurechtgewiesen, gefragt,
       was er sich dabei gedacht habe, ohne Sicherheitskonzept für die Königliche
       Hoheit so einen Ausflug zu organisieren.
       
       Vermittler: Anstatt einen Job in Venezuela anzunehmen, beschloss Conlin, in
       Berlin zu bleiben. „Durch die SPD“, wo er Mitglied war, „habe ich Glück
       gehabt.“ Er bekam einen Job bei der Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und
       Land“. „Damals waren die gerade dabei, ihren alten Besitz im Osten
       zurückzunehmen.“ In der Zeit habe Conlin viel über Ost- und Westdeutschland
       gelernt. Er spielte den Vermittler. „Die wussten, ich bin weder Ossi noch
       Wessi, die konnten mir vertrauen.“ Nach einem Herzinfarkt ging er 2005 in
       Rente.
       
       Tierschutz: Damals engagierte er sich schon seit Jahren nebenbei für den
       Naturschutz. Er startete Petitionen, übersetzte für das [3][„Komitee gegen
       den Vogelmord“]. Die hätten ihn gefragt: „Willst du nicht aktiv werden im
       Mittelmeerraum?“ Dort etablierte er dann neue Strukturen, hatte den
       Überblick, „wo jeder ist, wie viele Fangnetze es gab, wie viele Vögel
       getötet wurden“. Mit den Fangnetzen fingen Wilderer Zugvögel ein, die als
       Delikatessen angeboten wurden.
       
       Wieder Zypern: 2010 kam Conlin so wieder nach Zypern. Dort ging es diesmal
       nicht darum, tote Menschen zu bergen, sondern darum, Vögel von sogenannten
       Leimruten zu befreien. Vogelfänger hatten Stöcke mit Leim beschmiert, damit
       die Tiere hängen blieben und starben. „Die haben die Vögel an Restaurants
       verkauft und die Leute haben sie gegessen. Das war sehr lukrativ.“
       
       Franzen: Stolz zeigt er einen Artikel aus dem New Yorker, in dem der
       amerikanische Schriftsteller und Journalist Jonathan Franzen in einem Text
       über den gemeinsamen Einsatz auf Zypern schreibt und Conlin namentlich
       erwähnt. Die beiden waren auf ihrer Mission Kollegen, dabei habe Conlin
       lange nicht gewusst, dass es sich bei dem Mann, der sich ihm als „Jon“
       vorgestellt hatte, um den Schriftsteller handelte, dessen Bücher er so
       gerne las.
       
       Pandemie: Während Corona habe sich dann auch Conlin verstärkt dem Schreiben
       zugewandt: dem Dichten in einer „Pop-up-Poetry-Gruppe“. Über die Coronazeit
       sagt er: „Meine Frau und ich sind beide vorerkrankt und hatten große Panik,
       wir waren wie zu Hause gefangen.“
       
       Liebe: Seine aus Tschechien stammende Partnerin und er lernten sich in
       einer Kneipe kennen, in Westend. Heute ist das 33 Jahre her. Jana
       Grosch-Conlin stand damals hinter ihm, während er am Tresen saß. Ohne sich
       umzudrehen habe er gewusst, dass sie es ist, die gerade die Bar betreten
       hatte. Sie kannten sich vom Sehen. Sie sagt: „Das war wie bei Klaus Lage:
       Tausendmal berührt und dann hat’s Zoom gemacht.“
       
       Rilke: Conlins Tochter Juliet ist Autorin. „Ich dachte, ich muss auch was
       rausbringen“, sagt Conlin und lacht. So kam es, dass er schließlich seine
       Texte aus der Coronazeit veröffentlichte, im Selbstverlag. Außerdem
       übersetzte er damals viel auf Englisch – nicht nur für die Website des
       „Komitees gegen den Vogelmord“, sondern auch Gedichte von Rilke,
       Ringelnatz, Mascha Kaléko. Auch die hat er veröffentlicht. Rilke zu
       übersetzen, sagt Conlin, sei besonders schwer.
       
       Enkel: Seine Gedanken über den Angriffskrieg auf die Ukraine hat Conlin
       ebenfalls in Verse gepackt. Seit 2022, sagt er, dichte er fast jeden Tag.
       In „The Children“ heißt es:
       
       „A bombed-out school, the sirens sound, 
       
       across an urban battleground. 
       
       no marble stone with name engraved, 
       
       a pile of rubble for a grave.“ 
       
       Warum er schreibt? „Damit meine Enkel etwas von mir haben, wenn ich nicht
       mehr hier bin.“
       
       3 Mar 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lea De Gregorio
       
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