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       # taz.de -- Altersarmut von Jüdinnen und Juden: „Ich gehe zur Tafel, und ich schäme mich nicht dafür“
       
       > 220.000 Jüdinnen und Juden sind bis 2005 aus der Sowjetunion ins Land
       > gekommen. Viele von ihnen leben heute in Altersarmut. Drei Frauen
       > erzählen.
       
   IMG Bild: „Die Tafel ist eine große Hilfe“
       
       Jeder kennt das Stereotyp vom reichen Juden, von einem, der gerne Geschäfte
       macht. Das Gerücht einer privilegierten Minderheit, im Mittelalter
       entstanden, hält sich bis heute, ist Teil von Verschwörungsmythen und
       [1][antisemitischen] Weltbildern. Mit der Realität hat es nichts zu tun,
       besonders in Deutschland nicht. Hier sind die meisten Jüdinnen und Juden
       arm.
       
       Elvira Sukhomlinova, 75, ist eine davon. 2004 wanderte sie mit ihrem Mann
       aus der Ukraine nach Deutschland ein. „In einem der letzten Züge“, wie sie
       sagt. Sie meint damit das Ende einer [2][jüdischen Migrationsbewegung aus
       der ehemaligen Sowjetunion]. 1991 beschloss das wiedervereinigte
       Deutschland, in großer Zahl jüdische Migrantinnen und Migranten
       aufzunehmen. Erst im Jahr 2005 trat eine neue Regelung in Kraft, die
       praktisch zum Zuwanderungsstopp führte.
       
       Etwa 220.000 Menschen kamen in diesem Zeitraum, rund 70.000 davon leben
       heute in Altersarmut. Ihre Berufsjahre in der Sowjetunion wurden bei der
       Rentenberechnung nicht angerechnet. 93 Prozent der jüdischen Seniorinnen
       und Senioren in Deutschland sind auf Grundsicherung angewiesen – im
       Vergleich zu 2,4 Prozent der deutschen Rentnerinnen und Rentner.
       
       ## Die Karriere blieb drüben
       
       Ein Freitag im Februar. In der Jüdischen Gemeinde in Potsdam hat
       Sukhomlinova gerade die Probe des Chors, den sie leitet, beendet. „Macht’s
       gut, Mädels“, ruft sie den alten Damen im Vorbeigehen noch zu.
       
       Im Veranstaltungsraum der Gemeinde, unter der Fensterfront, hängen zwei
       Luftballons in den Farben der ukrainischen Flagge. Dort sitzt Elvira
       Sukhomlinova – roter Pferdeschwanz, grauer Pullunder – mit zwei weiteren
       Frauen im Stuhlkreis: Faina Michailowna – braune Locken, rote Lippen –, 86,
       aus Weliki Nowgorod, Russland, Swetlana Bratislavaskaja – Plüschhut im
       Tigermuster, pinke Lippen –, 74, aus dem ukrainischen Czernowitz.
       
       „Drüben“, sagen alle drei Frauen auf Russisch, in ihrem früheren Leben, vor
       Deutschland, hatten sie angesehene Berufe. Michailowna arbeitete als
       Lehrerin, Bratislavaskaja war Bauingenieurin und Sukhomlinova
       Musikpädagogin. Keine der Frauen hat in ihren alten Beruf zurückgefunden,
       das gilt auch für die meisten anderen jüdischen Zuwandererinnen und
       Zuwanderer. Viele von ihnen kamen gut ausgebildet – doch ein Großteil der
       Abschlüsse wurde in Deutschland nicht anerkannt.
       
       „Nach unserer Ankunft hat uns eine Lehrerin im Deutschkurs gesagt: ‚Ihr
       werdet alle Putzfrauen‘ “, erzählt Bratislavaskaja. Dass es hart werden
       würde anzukommen, sich etwas aufzubauen, habe Sukhomlinova erwartet, sagt
       sie. „Deshalb konnte ich nicht enttäuscht werden.“
       
       ## Besser arm in Deutschland, als arm in Russland
       
       Als arm oder bedürftig will sich aber keine der Frauen sehen.
       Bratislavaskaja, mit erhobenem Kinn, durchdringendem Blick: „Ich gehe
       [3][zur Tafel], und ich schäme mich nicht dafür.“
       
       Sukhomlinova: „Richtig so.“ Bratislavaskaja: „Die Tafel ist eine große
       Hilfe. Ich spare dadurch 200 bis 300 Euro im Monat. Sie trägt dazu bei,
       dass wir uns wie normale Menschen fühlen.“Sukhomlinova: „Zur Tafel kann ich
       nicht gehen – aber ich finde es auch nicht schlimm, dass du gehst.“
       Bratislavaskaja: „Unsere Leute, die sowjetischen Juden, gehen alle da hin,
       schon immer.“
       
       Vielleicht ist es der Stolz, der aus ihnen spricht, vielleicht auch das
       Gefühl, dass ein Leben in Deutschland mit wenig Geld immer noch besser ist
       als eines mit mehr Geld in der Ukraine oder in Russland. Sie hätten ihre
       Auswanderung nie bereut, sagen Michailowna und Bratislavskaja. Und
       Sukhomlinova erinnert an den Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine: In
       Deutschland sei [4][wenigstens Frieden].
       
       ## „Wir sind glücklich“
       
       Das Bild, das die drei Frauen von ihrem Leben zeichnen, wie sie über den
       erlebten Abstieg sprechen, ohne Verbitterung, Wut oder Selbstmitleid,
       widerspricht auf den ersten Blick allem, das jüdische Institutionen und
       Nachkommen der Betroffenen seit Jahrzehnten anprangern.
       
       Diese erzählen von Brüchen in Biografien, die die Menschen nicht überwunden
       hätten, von einem schweren Leben im Alter, von einem politischen Versagen,
       da jede Bundesregierung das Problem über Jahrzehnte vernachlässigt habe.
       Bis 2023 ein Härtefallfonds eingerichtet und den Betroffenen einmalig 2.500
       Euro ausgezahlt wurde – für Jahrzehnte der Arbeit, die in Deutschland nie
       anerkannt wurden.
       
       Michailowna, Bratislavaskaja und Sukhomlinova wollen sich mit diesem Bild
       nicht identifizieren. „Wir haben nicht viel und trotzdem ein reiches Leben.
       Wir sind glücklich“, sagt Sukhomlinova. Die anderen nicken zustimmend.
       
       Ob sie damit nicht die Realität beschönigen? Denjenigen in den Rücken
       fallen, die die Emigration als Abstieg erlebt haben? Es gebe solche, die
       sich in Deutschland verloren hätten, dem stimmen die Frauen zu.
       Verantwortlich dafür sei aber jeder Einzelne selbst. Charaktersache, sagen
       sie.
       
       ## Sozialisiert im Sozialismus
       
       Zufrieden zu sein mit einem Leben an der Armutsgrenze, den Einzelnen und
       nicht die Strukturen, den Staat in die Verantwortung zu nehmen, ihre
       Abwehr, das alles lässt sich besser verstehen, blickt man auf ihre
       Sozialisation im Sozialismus.
       
       Michailowna, Bratislavaskaja und Sukhomlinova teilen die Erfahrung eines
       Lebens, das von Mangel geprägt war. Eines, in dem man vom Staat nichts zu
       erwarten hatte, weil sich dort die Eliten die Taschen vollstopften und
       jeder für sich selbst kämpfen musste. Dieses Leben, da sind sich die drei
       sicher, habe sie auf das Überleben in Deutschland vorbereitet. Sie seien
       erprobt darin, mit wenig auszukommen – besonders als Frauen.
       
       Bratislavaskaja: „Die Frau ist an das harte Leben gewöhnt.“Sukhomlinova:
       „So war das schon immer!“Michailowna: „Wir Frauen haben gelernt, uns
       anzupassen.“ Großes Gelächter bricht aus.Bratislavaskaja: „Gerade wir
       sowjetischen Frauen kennen es nicht anders.“ Sukhomlinova: „Uns
       durchzuschlagen, mit wenig auskommen, das haben wir alles schon durch. Uns
       kann nichts mehr schockieren.“
       
       ## Ein von Männern geführter Laden
       
       Offizielle Gleichberechtigung – das wurde in der Sowjetunion propagiert.
       Frauen wurden massenhaft in den Arbeitsmarkt eingebunden. Gleichzeitig
       herrschten Berufsverbote für mehr als 450 Berufe, die mit dem Schutz der
       Fortpflanzungsfähigkeit begründet wurden.
       
       Frauen hatten Zugang zu Bildung, durften wählen, Schwangerschaftsabbrüche
       waren legal. Die Sowjetunion blieb dennoch [5][ein von Männern geführter
       Laden], auch wenn die Ideologie anderes versprach.
       
       Doch während Frauen in Westdeutschland noch ihren Ehemann um Erlaubnis
       bitten mussten, arbeiten gehen zu dürfen, flog eine sowjetische Frau ins
       All, waren die Frauen selbstverständlich Teil der Arbeiterschaft – und
       [6][erzogen nebenbei noch Kinder], kochten für den Ehemann und putzten die
       Wohnung.
       
       Das ist es, was die drei Frauen meinen, wenn sie davon sprechen, dass die
       Sowjetbürgerin gelernt habe, ein schwieriges Leben zu bewältigen.
       „Vielleicht sind wir nicht das beste Beispiel für arme Juden“, sagt
       Sukhomlinova und grinst.
       
       ## Keine Zeit, dem alten Leben nachzutrauern
       
       Sie wisse, dass sie und ihre Freundinnen Glück gehabt hätten. Weil sie sich
       und eine Gemeinschaft in jüdischen Strukturen gefunden, sich einen Sinn im
       Leben gesucht hätten. Den Chor zum Beispiel, mit dem die Frauen seit Jahren
       erfolgreich durch Deutschland touren. Einen jüdischen Frauenklub, den
       Michailowna vor 25 Jahren gegründet und aufgebaut hat. Um ja keine Zeit zu
       haben, dem alten Leben nachzutrauern, sagt sie.
       
       Das Bild der bedürftigen Juden einerseits, die mit der Entwertung ihrer
       Lebensleistung nie fertig wurden, und andererseits das derer, die
       leichtfertiger mit dieser Erfahrung umgegangen sind, vielleicht sogar ihren
       Frieden damit gefunden haben, müssen sich nicht widersprechen. Im
       Gegenteil. Sie veranschaulichen, [7][wie unterschiedlich der Mensch auf
       Systemwechsel, auf Migration und Armut reagiert]. Die politische Forderung,
       Altersarmut unter den jüdischen Zugewanderten zu bekämpfen, verliert
       dadurch nicht an Wert.
       
       Neben der Eingangstür sitzt Michailownas Mann David, 92, geduldig
       wartend, er schläft. „Er hat keine Lust mehr, den alten Geschichten
       zuzuhören“, sagt Sukhomlinova und lächelt. „Aber wir“, sagt sie dann noch,
       „wir sind froh, wenn jemand zuhört.“
       
       9 Mar 2025
       
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