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       # taz.de -- Körperliche Schlagfertigkeit im Sport: Die eigene Stärke fühlen
       
       > Kampfsportlerin Julia Schnetzer steigt in den Ring, um sich zu hauen. Der
       > Sport diszipliniert und macht sie auch stark für die Krisen der Welt.
       
   IMG Bild: Auch der richtige Umgang mit Boxhandschuhen ist anfangs eine Herausforderung
       
       Schmerzen gehören für Julia Schnetzer dazu. Blaue Flecken, ein Bänderriss,
       ein blaues Auge. „Normal“ in Schnetzers Alltag. Sie ist Kampfsportlerin,
       vor allem Kickboxerin. [1][Auch in der Disziplin MMA – Mixed Martial Arts]
       – ist sie mittlerweile unterwegs. Dort sind neben Schlägen und Tritten auch
       Würfe, Würgegriffe und Hebel – erlaubt.
       
       Es geht ums Kämpfen, um intimste Situationen. Intim deswegen, weil die
       Gegnerin oder der Gegner sekundenlang auf dem Gesicht der Kontrahentin
       sitzen kann. Weil es in manchen Disziplinen dazugehört, mit beiden Armen
       den Hals zu umklammern, sodass die Blutzufuhr zum Gehirn abgeschnürt wird.
       Vollkontakt, um die Gegnerin zu bezwingen, bis sie aufgibt.
       
       Schnetzer, ihr dunkelblondes Haar hat sie zum Zopf gebunden, die Seiten
       rasiert, Tätowierungen zieren ihre Arme und Beine. Ihre Augen leuchten,
       wenn sie von ihrem Sport erzählt. Was ist ihre Motivation? Das ist doch
       Gewalt. „Klar ist das Gewalt in diesem Sport, wir hauen uns im Ring“, sagt
       Schnetzer und lacht. Und manchmal sei es wirklich absurd, wenn sie darüber
       nachdenkt, dass sie sich genau auf solch eine Situation vorbereitet.
       
       Sie weiß, dass das für Außenstehende irritierend wirken kann. Das hört sie
       auch aus ihrer Familie. Ihre Mutter macht sich Sorgen, wenn sie kämpft.
       Wegen der Verletzungen, sagt sie. Und ihr Onkel findet ihre Sportwahl
       sowieso nicht gut. Zu krass für eine Frau.
       
       Andererseits bekommt sie von ihren Neffen und Nichten Pluspunkte. „Die
       finden das cool“, sagt sie. Warum? Geht es darum, Energie loszuwerden oder
       um Wettkampf: gegeneinander antreten und kämpfen? E[2][her doch darum, sich
       selbst zu spüren und die eigene Stärke auszutesten und wahrzunehmen.]
       
       Schnetzer hat Tresendienst an diesem Dienstagnachmittag. Die Halle, in der
       sie trainiert – das Gym, wie die Kampfsportler hier sagen –, liegt in einem
       Industriegebiet mit wuchtig-nüchternen Containerbauten in Bremen. Vor 20
       Jahren war hier der Konzern Siemens angesiedelt, sagt einer der wenigen
       Passanten, die in dieser Gegend spazieren gehen. Heute sind Start-ups vor
       Ort, verschiedene Firmen aus der Logistik. Der Luftfahrtkonzern Airbus hat
       hier einen Standort. Und hier liegt die Trainingshalle von Grapple &
       Strike.
       
       ## Gemeinsam kämpfen
       
       Drinnen kümmert sich Schnetzer um die Trainierenden. Zum Beispiel um die,
       die ein Probetraining vereinbaren wollen. Und natürlich um die, für die das
       Gym zum Alltag gehört. Die Stimmung ist herzlich, man kennt sich. Schnetzer
       ist heute auch Co-Trainerin einer [3][Kickbox-Frauengruppe].
       
       Das Training ist als Einstieg in den Sport gedacht. Denn eigentlich sollen
       Männer und Frauen gemeinsam trainieren. „Wer nicht mit Frauen trainieren
       will, hat hier keinen Platz“, sagt Schnetzer. Eine Ansage, die in der
       Kampfsportszene nicht selbstverständlich ist.
       
       3-2-1. Dann läuft der Countdown drei Minuten. Der Ton, der das Ende der
       Runde einleitet, ist monoton, statisch. Genau das Gegenteil von dem, was
       auf der Matte passiert. In Bewegung bleiben, keine Diskussion, einfach
       machen. Fünf Frauen sind heute zum Training gekommen. Zu zweit üben sie,
       Schläge abzuwehren und auszuteilen, mit den Fäusten, mit den Beinen. „Die
       Schritte geben uns die Power“, sagt Schnetzer.
       
       Die Gesichter rot angelaufen. Der Schweiß läuft. Trinkpause. Es ist
       anstrengend, es wird trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen viel
       gelacht. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam leiden, zusammen Stärke fühlen.
       Weiter geht’s mit der immer gleichen Übung: Links mit der geballten Faust
       die Gegnerin angreifen, dann mit der rechten, wieder mit der Linken. Dann
       mit einem Kick mit dem Bein auf den Oberschenkel der Gegnerin zielen. Wer
       nicht angreift, ist in Abwehr. Dann wird im Team gewechselt.
       
       Knieschoner, Boxhandschuhe, Mundschutz – diese Montur soll den Körper
       schützen. Aber diesen mit der Ausrüstung in Einklang zu bringen, ist für
       Anfängerinnen bereits eine Herausforderung. Kampfsport ist Teamwork. Im
       Training ist es kein gegeneinander, sondern ein miteinander. „Ich lerne von
       meinem Partner“, sagt Schnetzer.
       
       ## Stoppt das Gedankenkarussell
       
       Die Koordination von Kopf, Armen und Beinen erfordert Konzentration,
       Disziplin und blendet alles aus, stoppt das eigene Gedankenkarussell.
       „Drilling“ nennt Schnetzer die Einheit. Also immer wieder denselben Ablauf
       zu üben, bis der Körper den „automatisch abspult“. Sonst kann es weh tun.
       
       Alle, die zum Training kommen, kennen das. Eine Teilnehmerin hatte vor
       Kurzem einen Rippenbruch und konnte viele Wochen nicht trainieren.
       Kampfsport ist kein Hobby, das kurzfristig funktioniert.
       
       Kämpfen, schickt sich das überhaupt für Frauen? Das ist vielleicht eine
       seltsame Frage im Jahr 2025. Aber an der Sicht, Frauen als weich,
       zurückhaltend, als lieb zu betrachten, hat sich nicht viel geändert.
       Aggressive Frauen haben sowieso einen schlechten Ruf. Aber ohne
       Aggressivität geht es nicht im Kampf.
       
       Schnetzer ist klar in ihren Aussagen, klar in ihrer Haltung. Sie strahlt
       keine Härte aus, aber Bestimmtheit. Bestimmt ist sie auch darin, im
       Wettkampf siegen zu wollen. „Ich will besser sein, an diesem Tag“, sagt
       sie. Das ist in fast jedem Hochleistungssport so, auch in dem Sport, bei
       dem man sich nach Regeln bewusst schlägt.
       
       An diesem Nachmittag ist das Level der Kämpfenden sehr unterschiedlich. Die
       eine wird im April ihren ersten Kampf bestreiten, hofft Schnetzer. Eine
       Teilnehmerin ist noch nicht so lange dabei. Und deutlich älter als ihre
       Trainingspartnerinnen. Ihre Bewegungen sind langsamer, zögerlicher. Grenzt
       Alter beim Kampfsport aus? Schnetzer ist heute 40. Richtig eingestiegen ist
       sie erst vor knapp 6 Jahren.
       
       Alter ist ein Thema im Wettbewerb. Sie wurde für ein „match“ im Kickboxen
       auch schon mal abgelehnt, weil ihre Gegnerin rund 15 Jahre jünger gewesen
       wäre. Kränkt sie das? Nein, sagt Schnetzer. „Aber ich hätte das gerne
       selbst entschieden.“ Ohnehin gibt es wenig Frauenkämpfe, da schlicht die
       Kämpferinnen fehlen.
       
       Dreimal hat Schnetzer verloren, einmal gewonnen, einmal ging der Kampf
       unentschieden aus. Sie will wieder kämpfen. Und zwar bald. Schnetzer tritt
       in der Gewichtsklasse bis 60 Kilo an. In dieser Liga gibt es zwar mehr
       Gegnerinnen, aber immer noch zu wenige.
       
       ## Keine Atmosphäre der Angeberei
       
       Auf der Matte lobt Schnetzer, motiviert nach jedem Treffer und jeder
       gelungenen Abwehr. „Viele Frauen brechen nach den ersten Trainingsstunden
       ab, weil es dauert, bis die Techniken klappen.“ Das liegt nicht nur an der
       Anstrengung und der Disziplin, sondern auch vor allem an der Atmosphäre,
       die in vielen Gyms herrscht. Das ist in Bremen anders. Videos und Fotos aus
       dem Gym, in denen oberkörperfrei rumgeposed wird, soll es aus der Halle, in
       der Schnetzer trainiert, nicht geben. Trainingserfolge ja, aber keine
       Angeberei.
       
       Überhaupt: Das Klischee von der modrig-verruchten Untergrundbutze, in der
       der Schweiß an der Decke klebt und die nur die Härtesten reinlässt, wird im
       Industriegebiet in Bremen nicht bedient. Stattdessen Tageslicht, ein heller
       Raum, alles wirkt sehr aufgeräumt und sortiert. Rockymäßig ist in diesem
       Gym nahezu nichts. Vielleicht noch Schnetzers knallrotsanftschimmernde
       kurze Hose, die sie im Training trägt.
       
       Aber die Klischeebude kennt sie auch aus eigener Anschauung. 2009 hat sie
       mit Thaiboxen angefangen. Ein Freund hat sie damals mitgenommen. Frauen
       waren damals wie heute die Minderheit im Kampfsport. Ihre Trainingspartner:
       Türsteher, Leute, die zwischendurch mal verschwanden, weil sie im Knast
       waren. Respekt bekam Schnetzer vor allem, weil sie mit ihm – einem Freund –
       da war. Dass einem mit Respekt begegnet wird, sei auch eine Motivation,
       warum sie überhaupt angefangen hat. Früher, sagt sie, war sie nicht so
       selbstbewusst.
       
       Im anderen Leben ist Schnetzer Meeresbiologin. Sie war auf
       Forschungsschiffen unterwegs, hat Korallen, Haie beim Tauchen gesehen. Ihre
       Tätowierungen erzählen die Geschichten ihres Lebens. Zum Beispiel die
       beiden fliegenden Fische auf ihrem Oberarm, die einen Anker umrunden.
       
       Zuletzt war Schnetzer auf Tour im Atlantik. Sie hat beobachtet,
       dokumentiert, wissenschaftliche Erhebungen gemacht. Passen Forschung und
       Kampfsport, beide Lebenswelten, zusammen? „Ich kämpfe für den Meeresschutz,
       ich kämpfe auf der Matte“, sagt sie.
       
       Und: Körperliche Fitness hilft auch auf dem Schiff. „Ich bin bestimmt
       stärker als andere“, sagt Schnetzer. Und das meint sie ganz praktisch. Wenn
       sie ein schweres Möbelstück bewegen will, braucht sie keinen Mann um Hilfe
       zu bitten. Es geht um die Extrameile, darum, die eigene Grenze zu kennen
       und diese auch ab und an zu überwinden. Ums Durchhalten und ums
       Nichtaufgeben. „Ich habe die Folgen des Klimawandels gesehen“, sagt
       Schnetzer. „Mein Sport hilft mir auch, damit besser umzugehen.“
       
       8 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tanja Tricarico
       
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