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       # taz.de -- Obdachlose Frauen: Die Straße ist in ihr
       
       > Fünf Jahre lang lebte Linda Rennings draußen. Heute unterstützt die
       > 61-Jährige andere obdachlose Frauen in Köln-Mülheim. Ein Besuch bei
       > einer, die hinsieht.
       
   IMG Bild: Linda Rennings mit ihrem Elektrorollstuhl auf dem Wiener Platz in Köln
       
       Linda Rennings beschleunigt ihr Elektromobil. Geradeaus zu auf die neuen
       öffentlichen Toiletten am Wiener Platz. Über die möchte sie unbedingt
       sprechen. Der Wiener Platz in Köln-Mülheim ist einer dieser trostlosen
       Orte, wo Beton auf Beton steht.
       
       Dass der Rhein nicht weit von hier ist, merkt man nur an den Möwen, die
       gelegentlich über den Platz gleiten. Für die Polizei ist das hier ein
       sozialer Brennpunkt, geprägt von Kriminalität, Drogen, [1][Obdachlosigkeit]
       und der Starktrinkerszene. Auch an diesem Montagmorgen im Februar steht
       eine Gruppe an den Stufen herum, offensichtlich alkoholisiert.
       
       Wenn sich Linda Rennings, eingepackt in eine rosa Steppjacke und farblich
       passender Wollmütze, den Wiener Platz anguckt, sieht sie vor allem viele
       Menschen, die Unterstützung brauchen. Zweimal die Woche ist sie als
       Streetworkerin unterwegs. Eigentlich ist Rennings selbst sehr krank, die
       61-Jährige leidet an der Lungenerkrankung COPD und ist nicht mehr gut zu
       Fuß unterwegs, aber das hält sie nicht auf, da zu sein, wo sie sein will.
       Draußen. „Ich achte insbesondere auf obdachlose Frauen“, sagt sie. Sie hat
       ein Auge dafür.
       
       ## Unauffällig, nahezu unsichtbar
       
       Frauen, die draußen leben, sind im öffentlichen Straßenbild nahezu
       unsichtbar. Verlieren Frauen ihre Wohnung, kommen sie eher bei Bekannten
       auf der Couch unter – man nennt es [2][verdeckte Wohnungslosigkeit,] wobei
       sich dahinter oft prekäre Abhängigkeitsverhältnisse verbergen. Von den
       Menschen, die obdachlos auf der Straße leben, sind 20 Prozent weiblich –
       aber auch die fallen nicht so auf. „Frauen stellen sich nicht an die Ecke
       mit ’ner Flasche Bier“, erklärt Rennings. „Sie versuchen, so unauffällig
       wie möglich zu sein.“
       
       Diesen Frauen bringt Rennings Nützliches vorbei. Praktisch, nicht zu schwer
       und am besten zum Wegschmeißen sollte es sein. Tierfutter zum Beispiel,
       Haarbürsten, Tampons oder Feuchttücher. „Mir ist es wichtig, dass sich
       Frauen unterwegs versorgen können“, sagt Rennings.
       
       In Cafés sind Obdachlose keine gern gesehenen Gäste. Gleichzeitig gibt es
       zu wenig öffentliche Toiletten – das ärgert Rennings ganz besonders. Frauen
       können nicht wie Männer mal schnell im Stehen an Häuserwände pinkeln. Wenn
       sie ihre Periode haben oder inkontinent werden, ist es noch schwieriger.
       
       ## „Wer hat sich das ausgedacht?“
       
       Direkt vor dem Woolworth am Wiener Platz stehen seit Kurzem die Toiletten,
       über die Linda Rennings sprechen will. Seit Mitte Februar sind sie in
       Betrieb. „Hier“, sagt sie und zeigt auf ein Häuschen. „Wer hat sich das
       ausgedacht?“ Sie hat ein Problem mit den Türen. Zum Boden ist ein guter
       Spalt offen, nach oben ebenso. „Setze ich mich da als Frau rein, wo mir
       jeder zugucken kann?“, fragt sie und liefert die Antwort gleich mit: „Auf
       gar keinen Fall.“
       
       Zuvor gab es auf dem Wiener Platz lange gar keine [3][öffentliche
       Toilette]. Rennings hatte sich in der Pandemie mit dafür eingesetzt, dass
       die Containertoiletten, die zum Biergarten in der Mitte des Platzes
       gehören, für alle zugänglich werden. Irgendwann ließ sich die Stadt
       breitschlagen und unterstützte das Vorhaben, zahlte Material und das
       Reinigungspersonal. Aber der Vertrag lief nur bis Ende Februar. Als Ersatz
       gibt es nun die einsehbaren Toiletten. Die seien in Abstimmung mit den
       Abfallwirtschaftsbetrieben Köln, Bürger*innen, Politik und dem
       Biergarten-Betreiber entwickelt worden, teilt die Stadt mit.
       
       Nur Linda Rennings hat niemand gefragt. Dabei ist sie eine lokale Größe,
       viele kennen sie als „Kölsche Linda“. 2014 hat sie den Verein Heimatlos in
       Köln gegründet, der sich um obdachlose Menschen kümmert. Für ihr soziales
       Engagement wurde sie 2023 mit der alternativen Kölner Ehrenbürgerschaft
       ausgezeichnet.
       
       Rennings, das muss man wissen, hat selbst fünf Jahre lang ohne eigene
       Wohnung gelebt. Vor Kurzem ist ihr Buch „Rebellin der Straße. Weiblich und
       Wohnungslos“ erschienen. Selten beschreibt jemand so eindrücklich wie
       Rennings, wie Menschen überhaupt in die Obdachlosigkeit geraten.
       
       ## Keine Hilfe am verwundbarsten Punkt
       
       Linda Rennings wächst in Köln-Mülheim in armen Verhältnissen auf. Ihre
       Mutter ist alkoholkrank und gewalttätig, ihre Oma hilft zwar so gut es
       geht, verstirbt aber noch vor dem 18. Geburtstag ihrer Enkelin. Rennings
       kämpft sich durch, macht eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin,
       übersteht zwei gewaltvolle Ehen, zuletzt arbeitet sie als Putzkraft – bis
       sie irgendwann psychisch krank wird.
       
       An diesem verwundbaren Punkt, Rennings ist damals 43 Jahre alt, erhält sie
       keine Hilfe – sondern wird zwangsgeräumt. In einem psychotischen Zustand
       irrt sie umher und sucht Schutz auf dem Friedhof, auf dem ihre Oma begraben
       liegt. Etwa ein Jahr überlebt sie dort, übernachtet gelegentlich in
       Notunterkünften, irgendwann landet sie in der Psychiatrie, danach in einem
       betreuten Wohnheim für psychisch kranke Frauen. Fünf Jahre dauert es, bis
       sie wieder selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung lebt.
       
       Nach diesen Jahren sortiert sich Rennings neu, macht eine Ausbildung zur
       Genesungsbegleiterin. „Ich versuche heute, Menschen zu motivieren, wieder
       aus der Krise zu kommen“, erklärt sie in einem Bistro am Wiener Platz. Auf
       der Straße nimmt sie sich Zeit, fragt, was die Menschen brauchen, begleitet
       sie bei Behördengängen, schaut, welche Therapien infrage kommen. Die eigene
       Erfahrung hat sie zur Expertin gemacht.
       
       ## Linda Rennings muss man nicht alles erklären
       
       „Ich kann sagen, ich bin Linda, ich war auch mal draußen“, sagt sie. Dann
       sei das Eis schnell gebrochen, besonders wenn ihr Hund Clayd dabei sei. Man
       müsse ihr auch nicht alles erklären. Nur manchmal müsse sie auch gucken,
       dass ihr Respekt entgegengebracht werde, sagt sie. „Ich bin ja weiblich und
       Obdachlosigkeit ist immer noch eine Männerdomäne.“ Sie mache dann aber
       einfach „’ne klare Ansage“.
       
       Die Straße ist für alle obdachlosen Menschen ein gewaltvoller Ort. Es gibt
       professionelle Zuhälter, die versuchen, sie gezielt drogenabhängig zu
       machen, um sie ausbeuten zu können. Es gibt Gewalt von Passanten. Von der
       Polizei. Oder innerhalb von Obdachlosengruppen.
       
       Im [4][Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Obdach- und
       Wohnungslosigkeit] werden junge Menschen und Frauen als besondere
       Bedarfsgruppe genannt. Mehr als jede dritte wohnungslose Frau hat seit
       Beginn ihrer Wohnungslosigkeit sexuelle Übergriffe und/oder Vergewaltigung
       erlebt, [5][heißt es darin]. „Bei Frauen ganz ohne Unterkunft jede Zweite.“
       Frauen gingen oft nicht in die männlich dominierten Notunterkünfte. Auch
       der Zugang zu den unterfinanzierten Frauenhäusern ist erschwert.
       
       ## Zuerst eine Wohnung
       
       Der Nationale Aktionsplan hat das Ziel, dass [6][bis zum Jahr 2030 keine
       und keiner mehr ohne Wohnung ist]. Rennings hält das für „reine Utopie“.
       Dafür werde zu wenig gebaut. Und es bräuchte mehr aufsuchende Hilfe, mehr
       Einzelunterbringung, mehr Einrichtungen mit Tagesaufenthalt. Rennings ist
       große Verfechterin des Housing-First-Ansatzes, bei dem der Grundsatz gilt:
       zuerst eine Wohnung. Aber es passiere zu wenig.
       
       Vor allem müsste es viel mehr frauenspezifische Angebote geben. Bis heute
       meldeten sich immer wieder Männer mit zwielichtigen Angeboten bei ihrem
       Verein, erzählt Rennings. „Da weiß man ganz schnell, wo der Hase lang
       läuft.“
       
       Manche suchten auch draußen gezielt nach Frauen, die auffällig lange mit
       Tüten auf Parkbänken sitzen. Diese Männer dächten sich: „Wenn die bei mir
       ein Bett kriegen, dann können sie ruhig was dafür tun“, erklärt Rennings.
       Wohnungslosenfreier nennt sie die. Leider gebe es genügend Frauen, die sich
       vor lauter Not darauf einließen.
       
       ## „Ich brauche die Menschen von der Straße“
       
       Wie tief die Erfahrung von Obdachlosigkeit in einem Menschen wirkt, lässt
       sich nur erahnen. Dass sie sich nicht abstreifen lässt, egal wie viele
       Jahre verstrichen sind. Wer Rennings fragt, wie viel Straße noch in ihr
       steckt, dem antwortet sie: „Eine Menge. Ich brauche die Menschen von der
       Straße. Ich kann nicht ohne.“
       
       Gerne würde Rennings ein Wohnmobil für ihre Arbeit kaufen, denn ihr Verein
       hat keine eigenen Räume. Er erhält keine staatlichen Gelder, ist auf
       Spenden angewiesen. In einem Wohnmobil könnte sie mit mehr Ruhe beraten und
       die Menschen könnten sich im Winter mal aufwärmen, erklärt sie.
       
       Rennings schaut mit Sorge in die Zukunft. Sie denkt dabei auch an
       Geringverdienende, Alleinerziehende, Bürgergeldempfänger oder
       Rentnerinnen. Es brauche viel mehr Prävention, damit Menschen erst gar
       nicht ihre Wohnung verlieren. Armut und Wohnungslosigkeit, das wird an so
       einem Ort klar, liegen nah beieinander. Es betrifft auch Rennings selbst.
       Aufgrund ihrer Krankheit ist sie erwerbsunfähig, ihre kleine Rente wird
       aufgestockt. „Aus der Wohnungslosigkeit habe ich es geschafft, aber die
       Armut ist mir geblieben“, sagt sie.
       
       9 Mar 2025
       
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