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       # taz.de -- Junge Mutterschaft: Mayra, 18, zweifache Mutter
       
       > Während andere junge Frauen in ihrem Alter auf Selbstsuche und Partys
       > sind, navigiert Mayra sich durch den Alltag mit Baby. Ein Besuch im
       > Alltag.
       
   IMG Bild: Mayra hat ihre zweite Tochter Nola mit 18 Jahren bekommen
       
       Berlin taz | Mayra sitzt auf dem gemachten Doppelbett und steckt ihrer
       Tochter den Schnuller immer wieder zurück in den Mund. „Das klingt ein
       bisschen schlimm, aber das ist schon mein zweites Kind“, sagt sie nüchtern.
       Mayra ist 18, ihre Tochter Nola ist vier Monate alt.
       
       Nola röchelt und gluckst abwechselnd, seit einem Monat schleppt sie eine
       Erkältung rum. Sie dreht ihren Kopf zum Fernseher. „Der ist aus, du musst
       da gar nicht so hingucken“, sagt Mayra. „Seit zwei Tagen kann sich Nola vom
       Bauch auf den Rücken drehen. Das ist früh für ihr Alter.“ Die Mutter klingt
       stolz.
       
       Mayra, glatte braune Haare, Jogginghose, Einhornhausschuhe, wohnt in einer
       Einrichtung für junge Mütter und Väter in Berlin-Tempelhof. Damit ihre
       Geschichte nicht für immer zu finden ist, wird sie hier nur mit Vornamen
       genannt. Im Türrahmen hängt eine Federwiege, die automatisch hoch und
       runter wippen kann. Auf die habe sie gespart und dann für 70 Euro bei
       Kleinanzeigen ergattert. Der Platz ist knapp in der Zweizimmerwohnung, in
       der auch ihr Freund wohnt. Er arbeitet in einem Dekogeschäft und ist gerade
       nicht zu Hause. Einen Tisch gibt es nicht, dafür hat Nola ein eigenes, rosa
       gestrichenes Zimmer. Das ist Mayra wichtig, „damit sie weiß, dass sie immer
       einen Rückzugsort hat“.
       
       Das Handy klingelt, ihr Exfreund ruft an. Er winkt Nola über den Bildschirm
       zu. Wie es seiner kleinen Schwester gehe, will Mayra wissen, ist sie immer
       noch schwanger? „Jaja, die ist noch schwanger. Hast du das neue Red Bull
       schon probiert?“, will der 20-Jährige wissen. „War langweilig“, sagt Mayra.
       
       Die beiden haben viel Kontakt, weil sie ein gemeinsames Kind haben. „Nein,
       nicht 11.30 Uhr, um 13.30 Uhr ist der Termin“, sagt sie. Sie haben heute
       eine Besprechung mit der Elternberaterin wegen ihrer ersten Tochter. Emilia
       ist zwei und wohnt in einer Pflegefamilie. Als sie fünf Monate alt war, hat
       das Jugendamt entschieden, dass sie erst mal nicht bei ihrer noch
       minderjährigen Mutter aufwächst. Deshalb sieht Mayra ihre ältere Tochter
       nur alle vier Wochen für ein paar Stunden. Der Vater möchte das Sorgerecht
       nicht übernehmen.
       
       Mit 16 wurde Mayra zum ersten Mal schwanger. Sie war in der zehnten Klasse
       und bereitete sich auf ihren Hauptschulabschluss vor, aber dann sollte sie
       plötzlich Mutter werden, von Zwillingen. Nach sechs Wochen verlor sie eines
       der Babys. Emilia kam dann schon in der 28. Schwangerschaftswoche auf die
       Welt, rund drei Monate zu früh. Sie lag im Brutkasten, war an Schläuche
       angeschlossen und wurde durch eine Magensonde ernährt. „Wenn ich andere
       Eltern gesehen habe, die ihre Kinder in den Arm nehmen durften, war ich
       richtig genervt. Ich konnte nichts machen“, sagt Mayra.
       
       Nach drei Monaten wurde Emilia aus dem Krankenhaus entlassen, Mayra zog mit
       ihr in eine Mutter-Kind-Einrichtung. Am Anfang musste sie ihre Tochter alle
       zwei, drei Stunden wecken, um sie zu füttern. Durch die Sonde hatte Emilia
       noch kein Hungergefühl entwickelt und hätte immer weitergeschlafen. Rund um
       die Uhr habe Mayra ein Babyphone laufen lassen müssen, um den
       Betreuer:innen zu zeigen, dass sie sich gut um ihre Tochter kümmere.
       Emilia brauchte Ergotherapie, Physiotherapie, spezielle Frühchennahrung.
       „Mit 16 war ich überfordert“, sagt Mayra. Sie habe gewusst, dass das
       Jugendamt ihr das Kind wegnehmen würde. „Als sie eine Unterkunft gefunden
       haben, hatte ich 20 Minuten, um mich zu verabschieden“, sagt sie. Aber bald
       will Mayra ihre Tochter zu sich zurückholen.
       
       Mayra war auch Heimkind. Mit sieben ist sie dorthin gekommen, weil ihre
       Eltern sich nicht mehr um sie kümmern konnten. Ihre Mutter ist psychisch
       krank, der Vater hat ein Alkoholproblem. Sie habe mit vielen anderen
       Kindern zusammen gewohnt, es sei immer laut gewesen, trubelig. Irgendwann
       sei ihr das zu viel geworden, zu dem Zeitpunkt habe sie mit elf anderen
       Kindern in der Unterkunft gelebt. „Das war schlimmer als zu Hause“, sagt
       sie. Also wollte sie dorthin zurück, damals war sie 14. Wieder zu Hause hat
       sie sich um ihre Mutter gekümmert, die Wohnung geputzt, war einkaufen.
       Freunde habe sie nie mitgebracht, weil ihr das Chaos peinlich war, sagt
       sie. Gerade war sie noch ein Teenie, plötzlich übernimmt sie die Rolle der
       Erwachsenen.
       
       Wenn Mayra davon spricht, klingt sie nicht bedrückt. Eher so, als hätte sie
       all das akzeptiert. Als sei es ihr Normal.
       
       Nach ihrem Schulabschluss wollte Mayra eine Ausbildung in der Pflege
       machen, „weil da gerade Bedarf ist“. Oder im Einzelhandel arbeiten, aber
       dann ist sie bei ihrem zweiten Anlauf für den Hauptschulabschluss auch zum
       zweiten Mal schwanger geworden – mit Nola. Hat sie damals über einen
       Schwangerschaftsabbruch nachgedacht? „Sie konnte sich ja nicht aussuchen,
       dass sie da ist“, sagt Mayra. Also hat sie Nola bekommen.
       
       ## In Mayras Umfeld sei es normal, früh ein Kind zu bekommen
       
       Mayra balanciert Nola auf dem Oberschenkel, während sie ihre kleine
       Geschirrspülmaschine ausräumt. Ein Geschenk von ihrem besten Freund, damit
       ihr der Haushalt leichter fällt. Das Baby hickst, und Milch kleckert auf
       den Boden. „Sag doch, dass du spucken musst.“ Mayra krault ihr den Rücken,
       wischt die Flecken weg und stellt den Wasserkocher auf 40 Grad. „Wenn das
       Wasser zu kalt ist, kriegen Babys Bauchschmerzen, Muttermilch ist ja auch
       warm“, sagt sie und füllt eine Thermoskanne für unterwegs auf. Dann steckt
       sie Nola in einen rosa Ganzkörperanzug mit Teddyohren und wuchtet sie in
       der Kinderwagenschale die fünf Etagen hinunter, um zur Elternberatung zu
       gehen.
       
       Bei ihr im Umfeld sei es normal, früh ein Kind zu bekommen. Viele sehen es
       bei anderen und wollen dann auch ein Baby. 70 Prozent ihrer Freund:innen
       hätten ein Kind oder würden bald Eltern, schätzt Mayra. An einer roten
       Ampel bleibt sie stehen und wippt den Kinderwagen weiter hin und her, damit
       Nola einschläft. „Wenn ich draußen unterwegs bin, fragen die Leute oft nach
       meinem und dann nach ihrem Alter.“ Kränken würde sie das nicht. Einmal
       hätte eine ältere Frau sie angesprochen und ihr erzählt, dass sie auch mit
       17 Mutter geworden sei. Ihre Tochter sei heute 42 Jahre alt. Das habe sie
       gefreut.
       
       Sie glaubt, sie habe mehr Energie als ältere Mütter. Ihre eigene Mutter sei
       viel schneller gestresst gewesen. Trotzdem vermisse sie es manchmal,
       auszugehen. Damit meint sie, draußen Freunde zu treffen, etwas zu trinken.
       In Clubs würde sie eh nicht gerne gehen, sie habe Angst, dass ihr jemand
       etwas in den Drink schüttet.
       
       An der Endstation steigt sie aus. Hier in Berlin-Marzahn kurz vor der
       Stadtgrenze ist Mayra aufgewachsen. DDR-Platten reihen sich aneinander, ein
       Shisha-Shop, eine Dönerbude, Rewe und Lidl. Der knallblaue Himmel wirkt
       unecht zwischen den Hochhauswänden. Vorsichtig läuft sie die vereisten Wege
       entlang, „hier wird nicht geräumt, hier ist fast Dorf“. Die Linke hat kurz
       vor der [1][Bundestagswahl] groß plakatiert: „Wir legen uns mit den Reichen
       an“. Mayra zuckt mit den Schultern. Sie habe einen Flyer von denen im
       Briefkasten gehabt. Ein paar Punkte finde sie gut, bezahlbare Mieten zum
       Beispiel. „Aber ich wähle eh die AfD, weil mein Freund das macht“, sagt
       sie.
       
       Vor einem dunkelbraunen Bau mit kleinen Fenstern bleibt sie stehen und
       wartet auf den Vater von Emilia. Er wohnt bei seinen Eltern. Kurze
       Umarmung, dann bemerkt er, dass er keine Zigaretten dabeihat, „du weißt,
       ohne geh ich nicht aus dem Haus“. Er rennt noch mal hoch.
       
       Was wünscht sich Mayra, wenn sie an die Zukunft denkt? „Ich will unbedingt
       arbeiten, nicht wie meine Eltern die ganze Zeit zu Hause sitzen.“ Sie würde
       ihren Schulabschluss gerne nachholen. Die Prüfungen habe sie damals
       bestanden, aber sie hatte zu viele Fehltage wegen der Schwangerschaft. An
       manchen Tagen sei sie zu erschöpft gewesen, um aufzustehen. „Und einen
       Führerschein machen“, sagt sie, „aber der kostet vier Scheine“. Auf ihrem
       Handy zeigt sie ihr Traumauto, einen Toyota C-HR, einen kleinen SUV. Darin
       habe sie schon mal gesessen.
       
       Im Jugendzentrum sind dichte Bäume und Märchenfiguren an die Wände gemalt.
       Die Türen sind mit dicken Scharnieren versehen, es soll wie in einer Burg
       aussehen. „Ich könnte schwören, jedes Mal, wenn ich Nola sehe, ist sie
       einen Zentimeter größer“, sagt die Elternberaterin zur Begrüßung. Sie
       verantwortet die Unterbringung der ersten Tochter Emilia. Wie es ihnen
       gehe, wie es Nola gehe, will sie wissen. In dem großen Raum stehen zwei
       Sessel und ein Ledersofa. In einem Metallspind sind Spielsachen
       weggeschlossen. Hier finden auch die „Umgänge“ statt. Im Amtssprech heißen
       so die Treffen, bei denen Mayra ihre erste Tochter sehen darf.
       
       „Hat sich das Jugendamt schon bei euch gemeldet“, fragt die Beraterin
       vorsichtig nach. „Nein? Okay, dann erzähle ich es euch jetzt.“ Sie macht
       eine Pause, legt sich Worte zurecht. Emilia habe Schwierigkeiten in ihrer
       Pflegefamilie, manchmal schreie sie ohne Grund 20 Minuten lang. Sie würde
       das Essen verweigern, wenn die anderen zwei Kinder mit ihr am Tisch sitzen,
       auch nicht mit ihnen spielen. „Ihr geht es nicht gut“, sagt die Beraterin.
       Mayra ist überrascht. „Aber wenn ich sie gesehen habe, war sie doch nicht
       so“, sagt sie.
       
       „Wahrnehmungsstörung.“ „Bindungsstörung.“ „Sie beißt sich die Lippen
       blutig.“ „Die anderen Kinder.“ „Ihre Bedürfnisse.“ „Die Erziehungskräfte.“
       „Alles versucht.“ „Alles zu viel.“ „Eins-zu-eins-Betreuung.“ Baby Nola
       gluckst zwischen den Worten der Elternberaterin, wippt auf dem Schoß ihrer
       Mutter hoch und runter, als wolle sie die schlechten Nachrichten
       überspielen.
       
       „Wir vermuten eine Art von Autismus, aber die Diagnose läuft noch“, sagt
       die Beraterin. „Jeder Tag ist gerade sehr anstrengend für Emilia.“ Sie
       glaubt, es wäre am besten, wenn die Zweijährige allein betreut würde. Es
       sei ihr nicht leicht gefallen, sie nehme Kinder ungern aus ihrem gewohnten
       Umfeld raus. Dann sagt sie: „Ich habe das Jugendamt informiert, damit eine
       neue Unterbringung für Emilia gefunden wird.“ Keine Reaktion. „Habt ihr das
       verstanden?“
       
       Emilias Vater sippt an einem Energydrink. „Also ist sie ein Problem“, fasst
       er zusammen. „Nein, sie hat ein Problem“, sagt die Elternberaterin. „Sie
       ist bestimmt nicht das Problem.“ Sie wolle ihr gerecht werden, das Beste
       für sie, und das ginge unter diesen Umständen nicht. „Soll ich es noch mal
       erklären?“, fragt sie, „das waren jetzt viele Informationen auf einmal.“
       „Ich habe es verstanden, ich bin damit aufgewachsen“, sagt Mayra.
       
       ## Wiederholt sich die Geschichte?
       
       Was Mayra nicht versteht: wieso Emilia bei ihr anders ist. Letztens konnte
       sie ihre Tochter als Einzige überzeugen, das Spielzeug aufzuräumen.
       Vielleicht liegt es nur an den Kindern, mit denen sie zusammenwohnt?
       Eigentlich will sie Emilia doch eh wieder zu sich holen. Was bedeutet das
       jetzt?
       
       „Ich glaube, dass ihr euch einen größeren Gefallen tut, wenn ihr noch nicht
       zusammenwohnt“, sagt die Beraterin. Wer weiß, wie Emilia auf ihre kleine
       Schwester reagiere. Mit zwei Kindern zu Hause würde Mayra unter viel
       größerem Druck stehen. Die Abstände zwischen den Treffen mit Emilia könnten
       sie verkleinern, schlägt die Elternberaterin vor, alle zwei Wochen statt
       alle vier.
       
       Auf dem Nachhauseweg ist Mayra wortkarg. „Das macht mich nachdenklich“,
       sagt sie. Sie will mit ihrem Freund darüber reden, vielleicht könnten sie
       Emilia doch schon früher zu sich holen. „Aber dann muss ich aus meiner
       Wohnung raus“, denkt sie laut nach und hält kurz die Luft an. Hektisch
       tippt sie Nachrichten an ihren Freund. In der Einrichtung darf sie nur mit
       einem Kind wohnen.
       
       Manchmal sei das ganz schön viel, für wen sie alles da sein müsse. Ihre
       Mutter besuchen, ihren Vater besuchen, Emilia sehen, für ihren Freund da
       sein, für Nola natürlich. Um sich selbst müsse sie sich eigentlich auch
       noch kümmern.
       
       Wiederholt sich hier die Geschichte? Sie war selbst im Heim, ihre Tochter
       wächst auch nicht bei ihr auf. „Das kommt darauf an, wie ich mich
       entscheide. Wenn ich es mache wie meine Mutter – ja. Aber wenn ich für
       Emilia kämpfe, dann nicht.“
       
       Sie kauft sich einen Fahrschein, drückt aus Gewohntheit auf
       „Ermäßigungstarif“ für Jugendliche. „Mist“, sagt sie, aber zu spät, der
       Automat druckt schon. Bis vor Kurzem hätte sie mit dem Ticket noch fahren
       können.
       
       7 Mar 2025
       
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