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       # taz.de -- Tom Shovals „A Letter to David“: Eine Person geteilt in zwei
       
       > Beeindruckend erzählt Tom Shoval von einer Geisel der Hamas, dem
       > Hauptdarsteller in einem früheren Spielfilm des Regisseurs, ein Berlinale
       > Special.
       
   IMG Bild: Mitschnitt einer anderen Zeit: die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio beim Casting für einen früheren Film des Regisseurs
       
       „Wenn sie sich leicht schälen lassen, sind sie am besten“, sagt der Mann
       und reicht einem Begleiter die frisch vom Baum gepflückte Orange. Wir
       streifen mit Familie und Freunden von David und Eitan Cunio durch den
       Kibbuz Nir Oz sowie das umliegende Farmland in der Negev-Wüste. Es sind
       Videoaufnahmen, die privat erscheinen, wie sie sich im Laufe eines Lebens
       ansammeln können.
       
       Die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio sind in den Videoclips zu sehen,
       wie sie als junge Erwachsene zu Popmusik tanzen, in einem kleinen Zimmer
       miteinander ringend. Wie sie durch die Behausungen und Pflanzungen des
       Kibbuz streifen, herumblödeln und Schabernack treiben. „Shabbat Schalom“,
       Alltag in einem 1955 gegründeten Kibbuz, zwischen seinen im modernistischen
       Stil errichteten funktionalen Bungalows, eingebettet in einer dem
       dörflichen Leben gegenüber offenen Landschaft – Botanik, der Negev-Wüste
       abgetrotzt.
       
       Die älteren in den Dokumentarfilm „A Letter to David“ eingearbeiteten
       Aufnahmen sind rund um den früheren Spielfilm „Youth“ entstanden. In diesem
       spielten David und Eitan Cunio 2013 die Hauptrollen. In den Rückblenden
       erscheint der Kibbuz Nir Oz als friedvoll blühende Oase.
       
       In einer der Videosequenzen deutet einer der Cunio-Brüder mit
       ausgestrecktem Arm über die bewässerten Felder hinweg zu den zwei Kilometer
       entfernt liegenden Grenzanlagen, die Israel hier vom palästinensischen
       Gazastreifen trennen. In der flirrenden Luft zeichnen sich am Horizont die
       Umrisse höherer Gebäude ab. „Schau mal, wie nahe das liegt“, sagt er. Das
       Wort „Utopie“ fällt. Ein Begriff, den man nach dem 7. Oktober 2023 hier
       nicht mehr positiv zu füllen vermag.
       
       ## Der Kibbuz Nir Oz ist ein verwüstetes Terrain
       
       „Du läufst durch den Kibbuz, aber es gibt ihn nicht mehr“, sagt Eitan Cunio
       in den aktuellen Aufnahmen für „A Letter to David“. Sie sind 2024
       entstanden. Er führt durch ein verwüstetes Terrain. Angeführt von den
       Terroristen der Hamas überfielen die Banden aus Gaza am 7. Oktober 2023
       auch den Kibbuz Nir Oz. Sie zerstörten, was sie zum Zerstören fanden. Eitan
       zeigt auf zerbombte und ausgebrannte Häuserruinen, spricht von Freunden,
       die Eingeschlossenen wie ihnen in den Schutzräumen helfen wollten und dabei
       getötet wurde.
       
       Von den knapp 400 Bewohnern des Kibbuz Nir Oz wurden am 7. Oktober mehr als
       ein Viertel ermordet oder nach Gaza verschleppt. Darunter auch Eitans
       Bruder David, dessen Frau Sharon mit ihren Kleinkindern Yuli und Emma.
       Ebenso der jüngere Bruder der Cunios, Ariel.
       
       Die palästinensischen Extremisten ermordeten an einem einzigen Tag in
       Israel 1139 Menschen, verletzten weitere 4.600 zum Teil schwer und
       verschleppten 250 Menschen in den Gazastreifen. Während andere Mitglieder
       der Familie Cunio nach wochenlanger Geiselhaft freikamen, bleibt Eitans
       Zwillingsbruder David bis heute verschleppt.
       
       Der israelische Filmemacher Tom Shoval kannte den Kibbuz Nir Oz bereits vor
       dem 7. Oktober sehr gut. Für seinen 2013 entstandenen Spielfilm „Youth“
       hatte er hier schließlich die 1990 geborenen Zwillingsbrüder David und
       Eitan Cunio gecastet, sie zu seinen Hauptdarstellern in „Youth“ gemacht.
       Shovals preisgekröntes Filmdebüt feierte 2013 auf der Berlinale die
       Weltpremiere.
       
       ## Fehlende Solidarität auf der letzten Berlinale
       
       Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle kritisiert das letztjährige
       Unvermögen, Solidarität mit David Cunio auf der Abschlussgala zu zeigen.
       „Wenn man bei der Gala eine Person nach der anderen über Mitgefühl für die
       Menschen in Gaza reden hört“, sagte Tuttle der Jüdischen Allgemeinen, „aber
       niemand erwähnt den Schmerz auf der anderen Seite, niemand erwähnt den
       Schauspieler David Cunio, der vor zwölf Jahren auf der Berlinale war, dann
       denke ich, dass das Festival versäumt hat, dem Raum zu geben.“ [1][Sie
       beabsichtige deswegen dieses Jahr] auch „eine persönliche Entschuldigung
       bei David Cunio und seiner Familie“. Tom Shoval hatte das Verhalten der
       Festivalleitung 2024 scharf kritisiert. „Wenn Filmemacher oder Schauspieler
       in Gefahr sind“, so der Filmemacher, „stand die Berlinale in der
       Vergangenheit hinter diesen Menschen.“ Im Falle David Cunios tat sie das
       nicht.
       
       Shoval hatte Eitan und David 2013 „in einem strengen und langwierigen
       Casting-Prozess“ für „Youth“ ausgewählt. Er suchte damals, wie er sagt,
       zwei Brüder, „die eine starke körperliche und emotionale Verbindung
       verkörpern“. David und Eitan schienen ihm dafür perfekt: „Sie waren wie
       zwei Hälften eines Ganzen, sowohl geistig als auch körperlich – eine Person
       geteilt in zwei.“
       
       Nach dem Überfall auf Israel und der Verschleppung der Geiseln in den
       Gazastreifen begann Shoval sein archiviertes Filmmaterial von „Youth“ zu
       sichten, die vielen hinter den Kulissen gewonnenen und für „Youth“ nicht
       verwendeten Aufnahmen aus Casting- und Drehprozess mit den Cunios und für
       „A Letter to David“ auszuwerten. Bittere Ironie am Rande: „Youth“ ist nicht
       nur eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, der Film handelt auch von
       einer Entführung. Wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen.
       
       Shoval nahm nach dem 7. Oktober Kontakt mit Eitan Cunio auf und ließ sich
       von ihm durch den zerstörten Kibbuz führen. In dem so zusammen mit dem
       älteren Material entstandenen Dokumentarfilm „Michtav Le’David“ (A letter
       to David) ist Eitan nun der von seinem Bruder schmerzlich getrennte
       Hauptdarsteller.
       
       ## „Unschuldige“ Hoffnungen
       
       Im ausgebrannten Bungalow in Nir Oz schildert Eitan, wie er sich mit seiner
       Familie im Schutzraum verbarrikadierte, sie fast erstickt oder verbrannt
       wären. Wie die Terroristen immer wieder versuchten, in den Raum
       einzudringen. Und wie es seinem Bruder David und dessen Familie zur
       gleichen Zeit erging. Aus Furcht, zu verbrennen oder zu ersticken,
       verließen diese schließlich den Schutzraum. Sie wurden [2][nicht an Ort und
       Stelle ermordet, jedoch zu Geiseln]. Die Schutzräume der Bungalows in Nir
       Oz waren gegen den regelmäßigen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen
       konzipiert, weniger gegen das unmittelbare Eindringen von Terroristen in
       die Anlage.
       
       Für „A Letter to David“ verzichtet Shoval auf die schockierenden
       Bilddokumente, die vom 7. Oktober selbst existieren. Die Gewalt ist ohne
       Voyeurismus anwesend. Statt sie zu reproduzieren, lässt der Regisseur
       Eitan, Sharon und andere Mitglieder der Familie sprechen. In einer Szene
       mit Eitan in den Ruinen des Kibbuz weht Gefechtslärm aus dem Gazastreifen
       herüber. Es wird nicht weiter kommentiert.
       
       Das Irrationale des Massenmordes vom 7. Oktober wird im Kontrast zu der
       unideologischen Bildsprache von „A Letter to David“ sehr deutlich. Die
       historischen Aufnahmen verknüpfen Davids und Eitans individuelle Biografien
       mit der brutalen Gegenwart. Sie erzählen von den „unschuldigen“ Hoffnungen
       und Sehnsüchten zweier jugendlicher Männer, wie sie sich rund um die
       damaligen Filmarbeiten für „Youth“ artikulierten. Zusammen mit den
       aktuellen Aufnahmen gehören sie zum Mix der illusorischen Vorstellung einer
       in Wirklichkeit niemals existiert habenden heilen Welt. Zu einer
       Gesamtheit, die am 7. Oktober 2023 symbolisch und physisch [3][angegriffen
       und vernichtet werden sollte].
       
       Shoval inszenierte „Youth“ 2013 als Gesellschaftskritik an der Verfasstheit
       Israels. „Die Wut über die soziale Realität, die einst die Geschichte
       antrieb“, sagt der Filmemacher heute, „ist verblasst und durch den
       unheimlichen Nachhall auf die heutige Tragödie ersetzt worden. In ‚Youth‘
       spielte David Cunio einen Entführer, heute ist er die Geisel.“
       
       15 Feb 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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