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       # taz.de -- Holocaust-Überlebende beim FC Bayern: Trotz Hass zum Fußball
       
       > Sein Vater ging mit anderen Schoah-Überlebenden ins Stadion – trotz des
       > Antisemitismus dort. Ein Buchauszug unseres Autors zur
       > Familiengeschichte.
       
   IMG Bild: In der Klubliebe vereint: Fans des FC Bayern bei einem Spiel im Jahr 1973 im Olympiastadion
       
       Als ich jung war, bestand die Mehrheit der Mitglieder der Synagoge in der
       Münchner Reichenbachstraße aus Schoah-Überlebenden, der Rest bestand
       überwiegend aus Israelis, die aus verschiedenen Gründen, oft geschäftlich,
       in München lebten. Erst später kamen die aus den sowjetischen Staaten
       Eingewanderten hinzu. Doch alle beteten sie ehrfürchtig an den Feiertagen,
       mit den Frauen in der oberen Etage, denn bis heute ist die israelitische
       Gemeinde Münchens orthodox-konservativ.
       
       Einer, Henrik, der Freund meines Vaters, war Mitglied einer alternativen
       Religion, der auch andere angehörten. Einmal überraschte Henrik meinen
       Vater mitten in den Jom-Kippur-Gebeten. „Oy Gewalt is mir schlecht!“ Als
       mein Vater besorgt flüsterte, was denn los sei, gestand Henrik, woran er
       beim traditionellen tiefgehenden Rückblick des letzten Jahres gerade
       gedacht hatte – ob es der FC Bayern noch schaffen würde, weil ja heute noch
       ein schlimmes Spiel bevorstände.
       
       Die meisten der [1][Schoah-Überlebenden] im Freundes- und Bekanntenkreis
       meines Vaters pflegten weder am Freitag noch am Samstag in die Synagoge zu
       gehen, geschweige denn an Wochentagen. Stattdessen pilgerten sie zusammen
       mit etwa einem guten Dutzend anderer jeden zweiten Samstag zu jenem Ort,
       der markant [2][das Schicksal der israelischen Athleten im September 1972
       mitsymbolisierte,] dem Münchner Olympiastadion. Das Olympiastadion war
       nämlich bis 2005 das Heimatstadion des FC Bayern. Nicht die Bücher Moses,
       sondern Fußball war ihre adoptierte Religion.
       
       Dabei wäre es durchaus möglich gewesen, beides miteinander zu vereinen.
       Synagoge am Samstagmorgen, Fußball am Nachmittag. Womöglich taten das auch
       einige. Henrik, mein Vater und andere mieden die Synagoge, bis auf die
       großen Feiertage, aber nicht die Heimspiele des FC Bayern. (…)
       
       ## Drei religiöse Mitgliedschaften
       
       Auf mittlerer Höhe der besten Sitzplätze, überdacht und in unmittelbarer
       Nähe der VIP- und Medienlogen, in der Stadionzone Z, hatte diese jüdische
       Gruppe ihre Dauerplätze. Nur Urlaub weit außerhalb der Stadt, Krankheit
       oder Tod würde sie davon abhalten, zu den Spielen zu pilgern.
       
       Wie in einer orthodoxen Synagoge waren es hauptsächlich die Männer, die
       hier zusammenkamen. Allerhöchstens waren einige der älteren Jungen mit von
       der Partie, die meisten älter als ich damals. Henrik hatte sogar drei
       religiöse Mitgliedschaften, die des Vereins 1860 München, die des FC Bayern
       und die der israelitischen Kultusgemeinde in München.
       
       Bei der Ankunft im Stadion begrüßten sie sich mit dem typisch jiddischen
       „Nu, was härt sich?“ Dann wurde erst mal geratscht. Auch hier kleideten
       sich diese jüdischen Männer elegant. Fußballinsignien fehlten größtenteils.
       Im Winter brachten sie Kissen für die kalten grünen Sitzreihen mit und
       warmen Tee in Thermosflaschen. Der eine oder andere hatte auch mal etwas
       Stärkeres in einem kleinen Flachmann dabei. Am Wurststand oder der
       Bierschenke würde man sie jedoch eher nicht finden, nicht zuletzt, weil das
       dortige Essen nicht koscher war. Es ging nicht ums Essen, sondern allein um
       den Fußball. Jeden Kick und Schritt ihrer Mannschaft würden diese Männer
       mitverfolgen.
       
       Als ich schließlich selber begann, mich für den FC Bayern zu interessieren,
       wurde ich endlich auch mitgenommen. Von zu Hause aus waren es 20 Minuten zu
       Fuß. Später, als Schulfreunde von mir ebenfalls anfingen, ins Stadion zu
       gehen – ich war etwa elf oder zwölf Jahre alt –, blieb ich mit ihnen lieber
       in der Bayern-Südkurve, ausgerüstet mit rot-weißer Fahne und einem roten
       Adidas-Trikot der Bayern. Für diese Zone waren auch die Karten am
       erschwinglichsten. Hier, auf der nicht überdachten Stehtribüne, waren die
       Fans anders als die Gesellschaft auf der Z-Tribüne, wo mein Vater und seine
       Freunde saßen. Hunderte von Fans mit Jeansjacken, auf denen Bayernsticker
       prangten, standen hier, oft rauchend, mit Fahnen, Bier oder Wurstsemmeln in
       ihren Händen.
       
       ## „Judenschwein“-Rufe
       
       Irgendwann zwischen den Jahren 1982 und 1983 bemerkte ich, was mitten in
       der Menge viele Fans neben dem „Hey super Bayern“ nach der Melodie von
       „Guantanamera“ schrien: „[3][Judenschwein“ und „Judensau“,] Bezeichnungen
       für den einen oder den anderen Spieler des gegnerischen Teams. Mitten unter
       dieser Meute stand ich mit meiner kleinen Goldkette, die meinen Namen auf
       Hebräisch zeigte. Als Jude inmitten dieses Gesindels erlosch mein
       Enthusiasmus für die Bayern und für Fußball ganz allgemein, nachdem es bei
       darauffolgenden Besuchen nicht anders war.
       
       Anders als mein Vater fühlte ich, dass ich wohl als Jude nicht Teil dieser
       Bayern sein konnte. Ich fühlte mich so betrogen, dass damit meine Zeit als
       Bayern-Fan, und, als ich feststellen musste, dass derartiges Gejohle auch
       unter Fans anderer Klubs existierte, meine Zeit als Fußballfan überhaupt
       für immer beerdigt war. Später konnte nicht einmal das Angebot der
       Sportredaktion der taz, die wollte, dass ich über die englische Premier
       League berichte, mich dazu bringen, mich wieder für den Sport zu
       begeistern. (…) Mein Vater und die anderen besuchten das Stadion
       ununterbrochen weiter. Danach befragt, ob es ihn verdrieße, dass beim
       Fußball oft auch Nazis und Antisemiten saßen, antwortete mir mein Vater
       schlicht: „Nein, Fußball ist Fußball.“
       
       Langsam, mit dem Tod des einen oder anderen, wurden die Reihen neben meinem
       Vater leerer. Und dann geschah es doch. Bei einem Bayernspiel, er war da
       etwa 80 Jahre alt, wurde mein Vater bei einem Spiel gegen Eintracht
       Frankfurt von Hooligans angegriffen. Den Erzählungen meines Vaters nach
       kamen nach dem Spielende ein paar Typen auf ihn zu, von denen einer ihn
       umarmte und so stark drückte, angeblich mit irgendeinem Stahlteil unter der
       Kutte, dass er mit Schmerzen und zwei gebrochenen Rippen nach Hause kam. Er
       sagte, er hätte angenommen, sie wären nur über den Erfolg ihrer Mannschaft
       glücklich gewesen, doch offenbar lief da etwas viel Niederträchtigeres ab.
       Die Täter waren vom gewohnten Typus „deutscher Helden“, ihr Opfer ein 80
       Jahre alter Mann.
       
       Was ist in der Natur mancher Deutscher, die in einem Land leben, in dem
       relativer Wohlstand herrscht und relative gute Erziehung vermittelt wird,
       dass unter ihnen manche einen derartigen Sadismus als Jux pflegen? Tatort
       war übrigens nicht das Stadion, sondern ausgerechnet die Gehfläche zwischen
       dem Stadion und der U-Bahn am Ende der Brücke über den Münchner Mittleren
       Ring, in unmittelbarer Nähe des großen Denkmals [4][zum Gedenken an die
       ermordeten israelischen Olympiaathleten.]
       
       ## Probleme mit deutschen Siegen
       
       Bei Länderspielen war mein Vater im Grunde für Deutschland, da kannte er
       alle Spieler, dennoch war es für ihn schwer, dem deutschen Nationalteam den
       ultimativen Sieg zu gönnen. Auf die Frage, wen er unterstützen würde, wenn
       Deutschland gegen Israel kicken würde, antwortete er schlicht: „Was für
       eine Frage!“
       
       Wenn er bis zu Endspielen eifrig die Fußballtalente der deutschen
       Mannschaft verfolgte, oft mit echter Freude über einzelne Spieler, gönnte
       er den Titel des Europa- oder Weltmeisters dennoch immer den anderen. Auch
       spürte keines von uns jüngeren Kindern der jüdischen Nachkriegsgeneration
       großen Enthusiasmus, wenn bei Siegen Menschenmassen mit deutschen Fahnen
       und Trikots durch die Gegend liefen.
       
       In den 1970er und 1980er Jahren war es nahezu ausgeschlossen, dass wir
       Embleme Deutschlands oder ein deutsches Nationaltrikot tragen würden, und
       sollte es doch jemand gegeben haben, kannte ich diese Person nicht. Jene,
       die einst für Deutschland jubelten, hatten unseren Familien zu viel Schmerz
       im Namen dieser Insignien zugefügt, und bei manchen Nationalspielen sangen
       einige Fans leider eben auch jene alten Strophen des Deutschlands der
       Mörder.
       
       Mit meiner in Holland geborenen Mutter war es klar, dass wir bei der
       Weltmeisterschaft 1974 Holland unterstützten. (…) 1982 und 1986 waren wir
       froh, dass es nicht zu nationalistischem Rumgegröle auf den Straßen
       gekommen war, weil Deutschland verlor. Die vielen Deutschlandfahnen
       rundherum waren ohnehin schon genug Zumutung, gerade für die Generation
       meines Vaters.
       
       ## Fast der einzige Ort der Zusammenkunft
       
       (…) Fußball war das einzige öffentliche Engagement meines Vaters und seiner
       Generation, Seite an Seite mit den nichtjüdischen Deutschen. Bis auf
       Arbeitsverhältnisse, die meisten von ihnen arbeiteten ohnehin
       selbstständig, da wahrscheinlich wenige einem deutschen Chef trauen
       wollten, war es das Einzige, woran die kleine Gruppe von Überlebenden, die
       ich in München kannte, regelmäßig teilnahm. Hier und da ging man mal in ein
       Konzert, besuchte ein Restaurant oder einen Biergarten, aber das war alles
       für diese Menschen, die zurückgezogen mit dem Schicksal des Bleibens und
       schließlich des Zurückbleibens in der Bundesrepublik lebten.
       
       (…) Seitdem mein Vater in zunehmendem Alter und nach dem gewalttätigen
       Vorfall weniger ins Fußballstadion pilgerte, aber teilweise schon zuvor,
       gehörte zu jedem Samstag statt des jüdischen Hawdala-Brauchs, des jüdischen
       Gebets, welches den Beginn der neuen Woche am Ende des Schabbats markiert,
       selbstverständlich ein Fußball betreffendes Ersatzritual zum Wunsch einer
       guten Woche: [5][die „Sportschau“ der ARD!] Papa saß dann ganz dicht vor
       dem Fernsehgerät und verfolgte jede Bewegung und jedes Wort.
       
       Als er 2011 sterbenskrank im Bett lag, vier Wochen vor seinem Tod, konnte
       ich ihn sogar noch mit der „Sportschau“ und den Bayern aus seinem Bett
       locken. Er kam! Aber auf Grund seines Zustands war es ihm nicht mehr
       möglich, die ganze „Sportschau“ zu verfolgen. Wenn es einen Indikator dafür
       gab, wie krank mein Vater damals war, war es dieser.
       
       14 Feb 2025
       
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