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       # taz.de -- Deutsche Islampolitik: Liberale Muslime sind frustriert
       
       > „Ditib und der ferngesteuerte Islam in Deutschland“ heißt das neue Buch
       > von Eren Güvercin. Er fordert eine „religionspolitische Zeitenwende“.
       
   IMG Bild: Mittagsgebet in der Ditib-Moschee im bayerischen Fürstenfeldbruck
       
       Es ist gut, dass das Thema „Muslime in Deutschland“ nicht auch noch
       Gegenstand des aufgeheizten Wahlkampfes ist. Zu befürchten wäre etwa: ein
       zu Impulsivität neigender Kanzlerkandidat kommt auf die Idee, sich der AfD
       auch mit und in diesem Thema anzunähern. In Deutschland lebenden
       Muslim:innen würde dann einmal mehr signalisiert: Ihr gehört weder zu
       uns noch hierher. Das wiederum hat eine lange Tradition. Der aktuelle
       Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Alexander
       Dobrindt, sagte etwa im Jahr 2018: „Der Islam gehört egal in welcher Form
       nicht zu Deutschland.“
       
       Eren Güvercin ist deutscher Staatsbürger und begreift sich
       unmissverständlich als deutscher Muslim. Aus dieser Position heraus will er
       unsere Gesellschaft mitgestalten, sie weltoffener und toleranter machen.
       Auch Güvercins Eltern kamen wie viele andere als „Gastarbeiter“ nach
       Deutschland, blieben hier und schlugen Wurzeln.
       
       1980 geboren in Köln, machte Güvercin eine Ausbildung zum Buchhändler und
       studierte Rechtswissenschaften. Heute ist er neben seiner Tätigkeit als
       Publizist Gründungsmitglied der deutsch-muslimischen „Alhambra
       Gesellschaft“ und aktiv in weiteren religionspolitischen Organisationen.
       Güvercin war im Jahr 2018 auch Mitglied der 4. Deutschen Islamkonferenz.
       
       ## Die Probleme der großen Islamverbände sind strukturell
       
       „Ditib und der ferngesteuerte Islam in Deutschland“ heißt sein neues Buch,
       der Untertitel erläutert, worum es Güvercin geht: „Warum wir eine
       religionspolitische Zeitenwende brauchen“. Güvercin fasst in seinem Buch
       knapp zusammen, was aus einer im weiteren Sinne liberalen Perspektive das
       Problem der großen muslimischen Verbände in Deutschland ist. In die
       Schlagzeilen geraten Ditib, Millî Görüş (IGMG) oder auch der Zentralrat der
       Muslime immer wieder. Doch Güvercin zeigt: ob in Bezug auf Islamismus,
       Antisemitismus oder Verbindungen zu illiberalen Autokraten im Ausland – die
       Probleme der großen Islamverbände sind nicht auf verstörende Einzelfälle zu
       reduzieren. Diese Probleme liegen an den Strukturen.
       
       Mit etwa 960 Gemeinden ist die Ditib der mit Abstand größte muslimische
       Verband in Deutschland. Seit ihrer Gründung im Jahr 1984 in Köln ist Ditib
       auf Ankara hin ausgerichtet und zu diesem Zweck bis in die Landesverbände
       streng hierarchisch organisiert.
       
       Auch anhand von Aussagen von Ditib-Aussteigern berichtet Güvercin immer
       wieder über interne Dynamiken im Verband. So etwa vom Spionage-Skandal
       2017, infolgedessen Murat Kayman von seinen Funktionen im
       Ditib-Bundesverband zurückgetreten war. Insgesamt gibt Güvercins Buch einen
       wichtigen Einblick in die Netzwerke der Erdogan-Lobby in Deutschland. Neben
       Ditib gehören dazu Millî Görüş, die Union Internationaler Demokraten (UID)
       sowie die bei den letzten Europawahlen erstmals angetretene Partei DAVA.
       
       Auch andere muslimische Verbände nimmt Güvercins Buch in den Blick. Ein
       Glossar hilft für eine schnelle Orientierung. Etwa in Bezug auf die
       Deutsche Muslimische Gesellschaft (DMG), die der islamistischen
       Muslimbruderschaft zugerechnet wird; oder hinsichtlich der Islamischen
       Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS), zu der bis zu
       seinem Verbot im Jahr 2024 auch das Islamische Zentrum Hamburg (IZH)
       gehörte. Der Verfassungsschutz bezeichnete die IGS als „wichtiges Element
       für die Steuerung der Interessen des IZH“, das „neben der Botschaft die
       wichtigste Vertretung der Islamischen Republik Iran in Deutschland und ein
       bedeutendes Propagandazentrum des Iran in Europa“ sei.
       
       ## Mündige Bürger muslimischen Glaubens fordern Anerkennung
       
       Für Eren Güvercin ist skandalös, dass diese Organisationen so lange von
       deutschen Politikerinnen und Politikern geduldet, eingebunden oder gar
       hofiert wurden sowie vielerorts als Repräsentanten der über fünfeinhalb
       Millionen Muslim:innen in Deutschland gelten. Besonders anschaulich wird
       das Problem beim Zentralrat der Muslime (ZMD) – und zwar in doppelter
       Hinsicht. Anders als es der Name suggeriert, vertritt der ZMD einerseits in
       Wirklichkeit nur einen sehr kleinen Anteil der hier lebenden Muslime. Nach
       dem Ausschluss der langjährigen Mitglieder DMG und IZH ist die wichtigste
       Organisation des Zentralrats nun der Dachverband Avrupa Türk-İslam Birliği
       (ATİB). Dieser aber wird laut Verfassungsschutz den Grauen Wölfen
       zugerechnet – und damit der zweitgrößten rechtsextremen Bewegung in
       Deutschland nach der AfD.
       
       Kein Wunder, dass liberale Muslime seit Langem wütend, enttäuscht und
       frustriert sind von der deutschen Islampolitik. Eren Güvercin fordert daher
       einen grundlegenden religionspolitischen Wandel, der bei deutschen
       Muslim:innen wie ihm endlich das Gefühl entstehen lässt, in Deutschland
       als mündige, eigenständige und kritische Bürger muslimischen Glaubens
       anerkannt und gewollt zu sein.
       
       ## Identitäres Denken steht im Weg
       
       Einem solchen Wandel im Weg steht für Güvercin aber auch das identitäre
       Denken und eine „Wagenburgmentalität“ vieler Muslim:innen. Zudem
       problematisiert er die geo- und migrationspolitische Machtposition von
       Erdoğan als Nato-Partner und Türwächter Europas. [1][Güvercin ist medial
       präsent, das ist gut für die Debatte.] Da sein Buch nur wenige konkrete
       politische Forderungen versammelt, leistet es vor allem einen wichtigen
       Beitrag zur kritischen Aufarbeitung der deutschen Islampolitik.
       
       Diese Arbeit muss dringend fortgesetzt werden, und dafür bietet „Ditib und
       der ferngesteuerte Islam in Deutschland“ einige Anknüpfungspunkte. So etwa,
       wenn Güvercin unter Berufung auf den Historiker Tim Szatkowski erwähnt,
       dass sich zum Beispiel der DGB öffentlich gegen die Etablierung der Ditib
       in den 1980ern positioniert hatte.
       
       Auch diese Anekdote gehört zur Geschichte des Einwanderungslandes
       Deutschland, die immer auch von Handlungsmöglichkeiten geprägt ist.
       
       16 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Jenseits-von-Ankara/!5534851
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Till Schmidt
       
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       Ditib.