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       # taz.de -- Roman „Ja, Schnecke, ja“: Die Poesie der Weichtiere
       
       > Wortgewaltiges Romandebüt: Jan Snela vertieft sich in „Ja, Schnecke, ja“
       > in das Zeichensystem der Liebe bei Mensch und Tier.
       
   IMG Bild: In Nara, Japan, haben die Sika-Hirsche das Sagen
       
       Jan Snela hat sich Zeit gelassen, für seinen ersten Roman. Acht Jahre ist
       es her, dass er seinen Erzählband veröffentlichte, der wiederum auch erst
       sechs Jahre nachdem die Titelgeschichte „Milchgesicht“ ihm den ersten Preis
       des Open Mikes einbrachte erschien. Doch wenn man wie Peter Bichsel daran
       glaubt, dass Gedanken selten geschöpft, sondern meistens gefunden werden
       müssen, hat Snela womöglich schlicht gründlich gesucht.
       
       Aufgestöbert hat er für „Ja, Schnecke, ja“ jedenfalls eine Menge: Das
       titelgebende Weichtier etwa, Elysia marginata, das die praktische Fähigkeit
       hat, sich selbst zu enthaupten. Zwecks Erforschung dieser Schnecke reist
       Amanda nach Japan, ihren etwas wehleidigen Partner Hannes zu Hause
       zurücklassend.
       
       Es ist aber kaum die Geschichte, die Snela so lange hat graben lassen,
       sondern die Sprache, in die er sie kleidet: „Tränenschwalltrüb schießt die
       ‚Milch‘ aus dem Zyklopenauge des Tetraeders aus blauem Karton. O Tage des
       Dümpelns in euterfremder Fermentation!, hört Hannes es schluchzen im
       Vorsichhingeglucker. Sich selbst beheulendes, oktroyiertes Gebräu …“
       
       Opulent, overdressed, egal ob beim Frühstück oder Sex: „Isadora verspürt
       Universalgelüste. Sie ist Mäusin nicht länger mehr denn das Meer. Sie
       verliert sich im Dunkeln von etwas Vertrautem, Unbekanntem. Sie seufzt. Sie
       schreit.“
       
       ## Urschrei des Materials
       
       Isadora ist übrigens wirklich Mäusin, denn Snela geht animistisch zu Werk.
       Beseelt sind Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, alles spricht und krächzt,
       ächzt durcheinander, bis das Gebrumm und Gesäusel sich zum Urschrei puren
       Materials vermengt. Das liest sich gut im übertragenen Sinne, als Kommentar
       zur Zeit, zu unserer lauten Gegenwart.
       
       Überall lauern Eindrücke und Reize, digital wie analog, denen der Mensch
       und seine Synapsen nicht werksmäßig überlegen ist, sondern sich oft genug
       durch übermäßiges Ausschütten von Botenstoffen geschlagen gibt.
       Systemausfall, Überforderung. So verfällt der moderne Mann Hannes
       schließlich auch dem Zauber eines muskulösen Internetbros Marke Andrew
       Tate, dessen Videos er zunächst nur aus Unterhaltungszwecken konsumiert
       hatte.
       
       Doch Snelas Personal ist intellektuell gewappnet, dem Irrsinn der Welt zu
       begegnen, gehören doch die meisten Figuren der Riege der
       Wissenschaftler:innen an. So kommen denn auch immer wieder Theorien
       und Modelle zur Anwendung, im Versuch, die borstige Weltoberfläche zu
       glätten: die „Fuzzy-Logik“ vorrangig, eine Methode zur Mathematisierung des
       Unscharfen, die Zuordnungen auch jenseits von Nullen und Einsen vornimmt.
       
       Die kommt zum Tragen etwa, wenn Amanda eine auf „präzise Art vage Ahnung“
       von ihr Besitz ergreifen spürt. „Die Frage ist nicht ‚wie wahrscheinlich‘
       und ‚ob‘, – die Frage ist, inwieweit. Okaima zählt mit einer Zugehörigkeit
       von – wie viel genau, das wäre noch zu bestimmen – zur Menge der unter die
       Hirsche gefallenen alten Herren. Und sie? Zu welcher Menge zählt sie?“
       Helfen, die Rätsel des (menschlichen) Lebens zu lösen, tun die Theorien
       freilich nicht. Zahlen und Kurven offenbaren selten die Antwort auf die
       Frage, ob eine Beziehung nach x gleich Liebe oder y gleich Schluss
       aufzulösen ist.
       
       ## Roland Barthes Reich der Zeichen
       
       Snela lässt seinen Roman nicht ohne Grund in Nara spielen, jener Stadt, in
       der die Rehe und Hirsche den Ton angeben. Vielleicht ist dieses so
       unwahrscheinliche Japan der geeignete Ort, den aufsucht, wen der Lärm der
       Welt drückt. Zumindest, wenn man Roland Barthes weiterdenkt, dessen
       Berichte aus dem „Reich der Zeichen“ auch Snela an mancher Stelle
       inspiriert haben dürften.
       
       Letzterer greift immer wieder japanische Begriffe auf, stellt sie seinen
       Figuren jedoch weniger als Wörter denn als philosophische Konstrukte zur
       Seite und lässt so die japanische Sprache als Mittel, um zu sprechen,
       weitgehend außen vor. Ähnlich Barthes, der sich Japan erklärtermaßen
       konstruiert. Was bleibt auch übrig, wenn man die Sprache nicht versteht,
       Sprache aber überall ist?
       
       Barthes beobachtet, dass in Japan die Botschaft hinter die Geste, hinter
       das Zeichen zurücktritt und beschäftigt sich auch mit dem Haiku, der
       traditionellen Gedichtform. „Bei all seiner Klarheit will der Haiku doch
       nichts sagen“, notiert der Philosoph Ende der 60er Jahre, „und gerade
       aufgrund dieser doppelten Voraussetzung scheint er offen für den Sinn zu
       sein, scheint er auf besondere Weise verfügbar und dienstbar, wie ein
       höflicher Gastgeber, der es Ihnen gestattet, sich mit Ihren Eigenheiten,
       Werten und Symbolen bei ihm niederzulassen.“
       
       Folgt man dieser Logik, kann man die jeden Textabschnitt in „Ja, Schnecke,
       ja“ abschließenden Haikus in ihrer Banalität annehmen. Zu groß ist
       ansonsten die Diskrepanz zwischen den alliterationsschweren Sätzen, die die
       Hannes’sche wie Amanda’sche Realität umzüngeln und der immer gleichen im
       Silbenrhythmus 5-7-5 verfassten bildarmen Kurzlyrik.
       
       Es sind außerdem irgendwie auch Hannes’ Kurzgedichte, der erklärtermaßen
       Haikudichter werden will, oder die des Dichters Kobayashi Issa, oder die
       des Essenslieferanten Hajos, so ganz ist das alles irgendwann nicht mehr
       auseinanderzuhalten.
       
       ## Drängen ins Absurde
       
       Sie sind jedenfalls deutlich alberner, die um Hannes kreisenden Textteile,
       und erinnern darin sehr an die Haltung in Snelas Erzählungen, in denen der
       1980 geborene Schriftsteller das Lächerliche seiner Figuren immer gleich,
       fast im vorauseilenden Gehorsam offenlegte. Das spiegelte sich auch auf
       der Wortebene wider, denn seine Wort- und Verbneuschöpfungen knallten
       weniger mit einer Jelinek’schen Härte zielgenau in die Mitte des
       Aussagbaren, sondern tänzelten mitunter etwas zu gewollt um ihren neuen
       Sinn herum.
       
       Auch jetzt, im Roman, irritiert es mitunter, dass Snelas Wortspiele immerzu
       ins Absurde drängen. Als schämten sich die Komposita –
       „bewegtebewegerleinfeine“, „Eisberstgeräusch“ – ihrer Akrobatik, als sei
       jetzt eigentlich nicht die Zeit für Kunststücke.
       
       Nicht alle Wortspiele klappen, Snela hat sichtlich die Narrenkappe auf,
       trotzdem: Endlich traut sich jemand, auf das Karussell aufzusteigen, mit
       dem schon Ernst Jandl, vielleicht auch [1][Peter Kurzeck] gefahren sind.
       Manches gerät sehr schön, etwa wenn Snela von der Liebe erzählt, die sogar
       die Jahreszeiten reparieren kann.
       
       Seine Sprache ist die des Barocks: lyrisch gekünstelt, große Gefühle
       zumindest beschwörend. Es ist auch eine Sprache, die mehrere Sinne
       anspricht, hört man doch Snelas Sätze stets in sich klingen; Resonanzräume
       findend, in denen es noch lange nachhallt.
       
       16 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Erinnerungen-an-Westdeutschland/!5906774
       
       ## AUTOREN
       
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