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       # taz.de -- Ombudsfrau über NSU-Dokuzentrum: „Überlebende und Angehörige sollten im Mittelpunkt stehen“
       
       > Ein Gesetzentwurf für das geplante NSU-Dokuzentrum ist gescheitert.
       > Angehörigen-Vertreterin Barbara John sagt, was in Zukunft besser werden
       > muss.
       
   IMG Bild: Veranstaltung zum Gedenken für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt 2012 im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt
       
       taz: Frau John, das Gesetz für ein NSU-Dokuzentrum [1][ist Ende Januar
       gescheitert]. Die Bundesregierung wollte damit einen Gedenk- und Lernort in
       Berlin schaffen. SPD und Grüne haben aber keine Mehrheit mehr gefunden. Was
       bedeutet das für die überlebenden Opfer und die Angehörigen? 
       
       Barbara John: Natürlich ist es eine Enttäuschung, dass es jetzt erst mal
       nicht weitergeht. Umso mehr hoffen die Angehörigen-Familien, dass auch die
       nächste Bundesregierung das Projekt wieder aufnimmt. Grundsätzlich sind sie
       nach wie vor bereit, sich zu engagieren.
       
       taz: Wer trägt die Schuld?
       
       John: Die Ampel hat zu spät mit diesem komplexen Vorhaben angefangen. SPD,
       Grüne und FDP hatten sich das Dokuzentrum 2021 in den Koalitionsvertrag
       geschrieben, aber erst im Sommer 2024 legte das Bundesinnenministerium
       [2][einen Gesetzentwurf] vor. Andererseits war es ja auch für SPD, Grüne
       und FDP nicht abzusehen, dass ihre Koalition kurz darauf auseinanderbrechen
       würde. Mit mehr Zeit hätte es klappen können. Ich sehe das als eine
       Verkettung unvorhersehbarer Umstände an.
       
       taz: Die Union hätte das Projekt retten können, indem sie zustimmt. 
       
       John: Es ging hier um ein Gesetz der Ampelkoalition. Bei der Anhörung im
       Innenausschuss gab es Einwände von vielen Seiten. Sollten die einfach
       durchgewunken werden? Als ich die teilnehmenden CDU-Abgeordneten nach der
       Sitzung ansprach, sagten sie, es gäbe keine grundsätzliche Ablehnung. Aber
       ohne Beratung der Einwände sei das nicht möglich gewesen.
       
       taz: Das Vorhaben würde also auch unter einem Kanzler Friedrich Merz
       weiterverfolgt?
       
       John: Es gibt eine prinzipielle Wertschätzung des Anliegens. Wird die Union
       den nächsten Bundeskanzler stellen, kommt das Thema nach meiner
       Einschätzung wieder auf den Tisch,
       
       taz: Sollte die nächste Bundesregierung den gescheiterten Gesetzentwurf
       dann genau so wieder aufgreifen?
       
       John: Es braucht Nachbesserungen. Konkret geht es ja bei dem Gesetzentwurf
       darum, eine Stiftung zu schaffen, die das Dokuzentrum aufbauen und tragen
       soll. Im Stiftungsrat sind bisher aber zu wenig Plätze für Vertreter der
       Angehörigen vorgesehen. Sie fühlen sich reglementiert und bevormundet von
       den staatlichen Behörden. Eine Familie ist deshalb aus dem Projekt
       ausgestiegen. Und sie haben einen Punkt: Die überlebenden Opfer und die
       Angehörigen der Ermordeten sollten im Mittelpunkt stehen, selbst wenn es
       der Bundesregierung und dem Parlament mehr um Erinnerungspolitik geht.
       
       taz: Erinnerungspolitik?
       
       John: Die Bundesregierung will ein politisches Dokumentationszentrum. Es
       soll auch als kollektive Mahnung und Erinnerung an die europaweit
       singulären Terrortaten des NSU dienen. Aber das soll auch der Einstieg sein
       in ein größeres Thema, nämlich die Entwicklung von Rassismus und
       Rechtsterrorismus in Deutschland seit 1945. Ein durchaus berechtigtes
       Interesse. Für die Angehörigen und die Überlebenden stehen aber
       gleichberechtigt die unvorstellbar harten Schicksale ihrer Familien im
       Mittelpunkt.
       
       taz: In Chemnitz [3][wird bereits ein NSU-Dokuzentrum aufgebaut.] Warum
       braucht es noch eins in Berlin? Anders als in Chemnitz gibt es hier keine
       direkte Verbindung zum NSU-Terror.
       
       John: Indirekt sehr wohl! Berlin ist das politische Zentrum. In den
       Tatjahren und danach haben die Bundesregierung und die politischen Parteien
       den total falschen Ermittlungsansatz der Sicherheitsbehörden schweigend
       gebilligt. Er passte noch in die verbreitete Parole, Deutschland sei kein
       Einwanderungsland. Für Berlin spricht außerdem, dass es die Hauptstadt ist,
       hier können die Bundestagsabgeordneten Besucher einladen, es kommen
       Menschen aus der ganzen Welt. Ein Gedenkort in Berlin hat eine große
       Sichtbarkeit und Ausstrahlung.
       
       In Chemnitz handelt es sich lediglich um ein Pilotprojekt. Es wird im Mai
       eröffnet als Teil des Projekts Europäische Kulturhauptstadt 2025 eröffnet
       und ist nur bis Ende des Jahres finanziert. Für die Angehörigen waren Orte
       wie Chemnitz und Zwickau anfangs kaum vermittelbar. Das waren die
       Rückzugsorte in denen das NSU-Trio lebte, nachbarschaftliche Unterstützung
       erfuhr und die Tatwaffe bekam.
       
       taz: Und mit einem Dokuzentrum in Berlin ist die Aufarbeitung dann erst
       einmal abgeschlossen?
       
       John: Ganz und gar nicht. Ich fordere schon lange, dass der Bundestag sich
       mit Entschädigungen für die Angehörigen und die überlebenden Opfer befasst.
       Die Hinterbliebenen hatten schwerste Verluste zu verkraften: psychisch,
       physisch, materiell und auch sozial. Sie leiden noch heute darunter.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Beispielsweise musste eine Familie nach dem Mord am Vater den Kiez
       verlassen, eine andere in der Türkei das Dorf in dem sie lebten, weil sie
       von der deutschen und türkischen Polizei behelligt wurden, die ihnen eine
       Verstrickung ins Drogenmilieu nachweisen wollte. In der Schule wurden die
       Kinder ausgegrenzt, weil ihr ermordeter Vater angeblich kriminell gewesen
       sei. Eine andere Familie musste ihre Wohnung verkaufen, um finanziell über
       die Runden zu kommen.
       
       taz: Dafür gab es nie eine Entschuldigung und eine Entschädigung?
       
       Keine offizielle von den Sicherheitsbehörden. Es gab Ansätze für
       Schmerzensgeld, aber erst nachdem die Täter sich im November 2011 enttarnt
       hatten. Noch während der Mordserie und Jahre danach suchten die
       Ermittlungsbehörden die Täter ja ausschließlich in der Nähe der Opfer, die
       ihr Leben aus eigener Kraft wieder aufbauen mussten. In dieser Zeit galten
       sie nicht als Terroropfer.
       
       taz: Sie fordern außerdem immer wieder eine Ausweitung der Opferrechte vor
       Gericht.
       
       Beate Zschäpe will offenbar 2026 einen Antrag auf Haftentlassung stellen.
       Die Tatbetroffenen haben keinerlei Möglichkeiten, dabei mitzureden. Sie
       müssen nicht einmal informiert werden.
       
       taz: Die Angehörigen sollen über Zschäpes Schicksal mitentscheiden?
       
       Nein, die Entscheidung liegt allein beim Strafvollstreckungsgericht in
       München. Es geht auch nicht darum, die Resozialisierung von Frau Zschäpe zu
       behindern. Sie kann aber mit Hilfe ihres vom Staat bezahlten Anwalts
       darstellen, wie sie in der Haft zu einer geläuterten Mitbürgerin wurde. Die
       Terroropfer dagegen haben nicht das Recht, zu berichten, was sie als
       Überlebende und Angehörige durchgemacht haben. Auch beim ursprünglichen
       Prozess in München gegen Zschäpe wurde kaum danach gefragt.
       
       Es wurden nicht alle Möglichkeiten genutzt, die Opfer über ihre Erfahrungen
       berichten zu lassen. Durch die Erweiterung der Opferrechte könnte das noch
       nachgeholt werden, übrigens auch für andere Opfer von Terrorismus.
       
       12 Feb 2025
       
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