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       # taz.de -- Sauerland als Wahlwerbung: Seine Heimat
       
       > Da, wo man den Satz gern mit „woll“ beschließt, ist das Sauerland. Von
       > dem soll für Friedrich Merz das ganze Land mehr haben. Warum nur?
       
   IMG Bild: Wald und Wiesen: auf dem Rothaarsteig bei Winterberg im Hochsauerlandkreis
       
       „Mehr Sauerland für Deutschland“, das steht auf den Wahlplakaten, mit denen
       Friedrich Merz in seiner Heimat Wahlkampf machte. Über dem Slogan ist Merz
       selbst zu sehen: blaues Jackett, gepunktete Krawatte, ein freundliches
       Lächeln. Der Slogan ist längst Realität geworden. Mit Friedrich Merz als
       Kanzlerkandidat ist etwas in die Bundespolitik eingezogen, das Flashbacks
       an meine Kindheit und Jugend weckt: der Sound des Sauerlands. Nicht das
       freundliche, knödelig-kumpelige „woll?“ am Ende eines Satzes, sondern etwas
       anderes: der Sound von Klartext und Starrköpfigkeit. Ein Sound ohne
       Selbstzweifel. Aber dazu später mehr.
       
       Denn zu Beginn muss ich selbst mal kurz „Klartext“ reden: „Das Sauerland“
       gibt es so nicht. Der Westen des Sauerlands zwischen Hagen im Norden und
       Siegen im Süden ist eigentlich ein Vorort des Ruhrgebiets. Schon früh im
       19. Jahrhundert wuchs dort eine Metallindustrie heran und ihr folgte nicht
       nur die Arbeitsmigration, sondern auch der Klassenkampf. In der Weimarer
       Republik waren SPD und KPD der Gegenpol zur NSDAP, auch nach dem Zweiten
       Weltkrieg hat diese Ecke des Sauerlands oft sozialdemokratisch gewählt.
       
       Bei einer Zugfahrt von Hagen nach Siegen wird aber auch der Verfall dieser
       Industrieregion sichtbar. An der Zugstrecke entlang der Lenne sind immer
       wieder alte, leicht heruntergekommene Fabrikgebäude zu sehen. Für moderne
       Industrieanlagen ist es im Lennetal einfach zu eng.
       
       Das Sauerland von Friedrich Merz, und damit auch meins, aber liegt östlich
       davon: der Hochsauerlandkreis (HSK). Kurz vor seiner Grenze liegt der
       Flughafen in Menden, [1][von dem aus Merz über Deutschland fliegt]. Im
       Osten kommt irgendwann Hessen, im Norden wird der HSK begrenzt durch das
       Wandergebiet rund um die Möhnetalsperre, im Süden durch das Wandergebiet
       Rothaargebirge rund um Winterberg. Eine Zugfahrt dorthin führt durch Wiesen
       und Wälder, unterbrochen durch pittoreske Kleinstädte und mittelständische
       Industrie, „Hidden Champions“ wie den Leuchtenhersteller Trilux aus
       Arnsberg-Neheim. Sie sind die großen Arbeitgeber der Region und für Merz
       das sauerländische Vorbild für den Rest der Republik.
       
       Die Sauerländer:innen lieben ihre Autos, den Regionalexpress teilt man
       sich deshalb meistens mit Tourist:innen. Tragen sie Patronengürtel mit
       Schnapsflaschen, fahren sie für ein Wochenende voll Schlagermusik und
       Sauferei ins Hotel Sauerland Stern nach Willingen. Haben sie ein Fahrrad
       dabei, ist meistens Winterberg das Ziel. Die Mountainbiker:innen
       stürzen sich dort die Trails im Bikepark herunter, die E-Biker:innen
       strampeln über den Ruhrtalradweg gemütlich bergab zurück in Richtung
       Ruhrgebiet.
       
       Seitdem der Klimawandel die Skisaison rund um Winterberg stark verkürzt
       hat, wirbt das Hochsauerland mit Wander- und Radurlaub in seiner
       Waldlandschaft und um seine Stauseen, die seit dem späten 19. Jahrhundert
       das Ruhrgebiet mit Trinkwasser versorgen.
       
       Dem Sauerland eine touristische Identität zu geben, ist keine einfache
       Aufgabe. Die Wildwestklischees im Freizeitpark Fort Fun oder bei den
       Karl-May-Festspielen in Elspe [2][wirken heute aus der Zeit gefallen].
       Tropfsteinhöhlen gibt es auch woanders und der Bergbau war niemals so
       ausgeprägt wie im Ruhrgebiet. Gegessen wird typisch westfälisch: Grünkohl
       oder Sauerkraut, dazu Wurst oder anderes Fleisch.
       
       Am ehesten taugt noch das lokale Bier als Identifikationsobjekt. Im kleinen
       Dorf Grevenstein wird Veltins Pils gebraut und speziell für das Sauerland
       in einer bauchigen Halbliterflasche, dem „Steinie“, abgefüllt. Jedes Jahr
       vor Weihnachten fahren die Bierwagen von Veltins durch die Städte des
       Sauerlands und verdoppeln als „Weihnachtsboten“ den Veltins-Vorrat
       derjenigen, die sie zu Hause antreffen.
       
       Mich treffen sie dort nicht mehr an. Ich bin kurz nach dem Abitur
       weggezogen und wohne mittlerweile in Köln, etwa zwei Stunden Zugfahrt
       entfernt. Hier erzählen mir immer wieder Menschen aus meiner linksliberalen
       Kölner Medien-Bubble, wie schön es ist, im Sauerland zu wandern oder zu
       campen. Als Antwort erhalten sie meistens eine hochgezogene Augenbraue.
       Nicht weil die Landschaft dort nicht toll ist: Eine Mountainbiketour
       zwischen [3][Ochsenkopf] und Möhnesee ist immer das Highlight meiner
       Besuche im Sauerland, sondern weil sie dort nicht aufgewachsen sind.
       
       Das aber bin ich, und zwar in Arnsberg, einem 20.000-Einwohner-Ort an der
       Ruhr mit idyllischer Fachwerkaltstadt und viel Nachkriegsarchitektur. Dass
       es heute überhaupt eine Bedeutung hat, verdankt es den Preußen, die
       Arnsberg nach den Verwaltungsreformen im 19. Jahrhundert als Behördensitz
       ausgewählt haben. Heute kann im Südwesten von Nordrhein-Westfalen kaum ein
       größeres Projekt entstehen, ohne dass es „von Arnsberg genehmigt“ werden
       müsste. Dort sitzt die Bezirksregierung, bei der Beamt:innen wie meine
       Mutter den Haushalt von Großstädten wie Dortmund kontrollieren.
       
       Dort aufzuwachsen, ist unspektakulär, zumindest wenn man wie ich aus der
       weißen, katholischen Mittelschicht kommt: Erstkommunion und Firmung,
       Fußballverein, katholische Grundschule, später katholisches Gymnasium.
       Selbst der erste Urlaub ohne Eltern war eine Jugendfahrt mit der Caritas
       nach Tirol.
       
       Neben der katholischen Kirche ist der Schützenverein die zweite große
       gemeinschaftsbildende Institution im Sauerland. Jedes Dorf hat eine
       Schützenhalle und einmal im Jahr wird auf dem Schützenfest der
       Schützenkönig gekrönt, indem mit einem Gewehr ein Holzvogel von der Stange
       geschossen wird. In der Regel gewinnen Männer mittleren Alters, die über
       das nötige Geld verfügen, die Bankette und Partys auszurichten, die mit dem
       wichtigen Amt des Schützenkönigs einhergehen. Für den Rest der Bevölkerung
       ist es vor allem ein Volksfest, bei dem man netzwerkt und sich betrinkt und
       einen Tag frei hat, auch falls man gar nicht hingeht. Mein Vater hat es
       gleich zweimal im Jahr gefeiert: in Arnsberg und in seinem Heimatdorf. Als
       Kind mochte ich Schützenfest vor allem, weil mir meine Eltern dafür extra
       Taschengeld gegeben haben, von dem ich mir Lego und Comics kaufen konnte.
       
       Genauso unspektakulär verlief auch meine Teenagerzeit in den mittleren 90er
       Jahren: Gefärbte Haare, David-Lynch-Filme, Second-Hand-Klamotten, Star
       Trek, Indierock und Industrial wurden irgendwann wichtiger als
       Fußballverein und Schützenfest – zumal ich für beides eh nicht sportlich
       und trinkfest genug war.
       
       Die Vorhersehbarkeit der konservativen Provinz bringt halt ebenso
       vorhersehbare Versuche der pubertären Abgrenzung hervor. Zweimal die Woche
       war ich während der Oberstufe im Cult, einer Alternative-Disco im
       Gewerbegebiet. Es war der Zufluchtsort für viele aus der Region, manche
       hatten für ein paar Stunden Tanzen eine Stunde Landstraße in Kauf genommen.
       Mittlerweile ist das Cult geschlossen, ebenso wie das Zero, eine
       Eurodance-Disco in einem anderen Gewerbegebiet, in der ich
       selbstverständlich niemals gesehen worden bin. Ein ehemaliger Mitschüler
       nutzt sie heute als Hochlager für seinen Onlinehandel mit Sauerländer
       Leuchten.
       
       Seit knapp zwei Jahren gibt es zumindest wieder einen kleinen Club für
       Techno, R & B und HipHop in Arnsberg, und trotzdem tun mir die jungen
       Menschen dort ein bisschen leid. Aber vielleicht gefällt es ihnen ja auch
       so. Auch in meinem Abijahrgang ist die Hälfte der Leute im Sauerland
       geblieben – weil sie nicht studieren, sondern lieber Geld verdienen wollten
       oder weil sie sich dort einfach wohlgefühlt haben.
       
       Auch Friedrich Merz wohnt in Arnsberg – in Niedereimer, einem kleinen Dorf
       in der Nähe. Der Grund ist seine Ehefrau, die bei einer Behörde arbeitet:
       Sie leitet das Amtsgericht. Als Teenager haben wir manchmal bei einem
       Mitschüler in Merz’ direkter Nachbarschaft Computerspiele gespielt. Für ihn
       interessiert haben wir uns damals nicht. Er war ein Typ, wie wir ihn aus
       der Schule kannten: ein JU-Streber, der den CDU-Erbhof Hochsauerlandkreis
       übernommen hatte.
       
       Seit Gründung der BRD stellt die CDU in Arnsberg den
       Bundestagsabgeordneten. Der erste war der spätere Bundespräsident Heinrich
       Lübke, der bis dato letzte ist Friedrich Merz, der mit 40,4 Prozent der
       Erststimmen 2021 das schlechteste CDU-Ergebnis ever im Hochsauerlandkreis
       holte und trotzdem zum Parteivorsitzenden wurde. Wenn Merz mir heute in den
       sozialen Medien begegnet, kommen Erinnerungsfetzen aus meiner Jugend hoch.
       
       Man sagt den Menschen im Sauerland eine gewisse Starrköpfigkeit nach.
       Manche begreifen das als Kompliment für ein starkes Beharrungsvermögen. Es
       sind oft dieselben, die die unverfrorene Direktheit und den Hang zur
       Übertreibung der Menschen dort als „Klartext“ lesen und sie als Ausdruck
       eines scharfen Verstands begreifen. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie
       damit recht haben.
       
       Nennt Merz im Bundestag die Ampel ein „Desaster“, denke ich an die stets
       unfreundliche ehemalige Besitzerin des Spielwarenladens, und wie sie die
       rot-grüne Politik eine „Katastrophe“ nennt. Aber vielleicht war einfach nur
       die Überalterung der Arnsberger Bevölkerung dafür verantwortlich, dass sie
       ihr Geschäft aufgeben musste? Einen Boom haben in den letzten zwanzig
       Jahren dort vor allem die Altenheime erlebt, und auch die müssen hart um
       jede Fachkraft kämpfen, besonders diejenigen aus dem EU-Ausland. Sehe ich
       das Foto von Merz in der Bundestagskantine, denke ich an Lehrer und
       Fußballtrainer, die besoffen auf dem Schützenfest gröhlen. In der Woche
       darauf haben sie dann wieder Regeln durchgesetzt, an die sie selbst nicht
       glauben, weil es ihnen letztlich ja doch egal ist. So viel Unernst muss
       sein. Und wettert Merz in einer Wahlkampfrede gegen „hässliche“ Windräder,
       denke ich an den Borkenkäfer.
       
       Mit meinem Vater war ich als Kind oft im Wald spazieren. Damals standen
       dort Plastikkästen, deren Duftstoffe einen Käfer anlocken sollten, der sich
       unter der Borke eines Baum festsetzt und ihn tötet. Rund um Arnsberg gibt
       es viel Nutzwald, in der Regel eine Monokultur aus Fichten. Als ich ein
       Kind war, haben die Fallen noch geholfen, aber die heißen Sommer der
       letzten Jahre haben den Fichtenwald zur perfekten Brutstätte für
       Borkenkäfer werden lassen. Vom Aussichtsturm an der Möhnetalsperre sieht
       man am Horizont die Windräder auf der Soester Börde. Aber vor allem fallen
       mir immer wieder die kahlen, abgeholzten Stellen im Arnsberger Wald auf.
       
       Das ist, was sich deutlich in den letzten Jahren im Sauerland verändert
       hat: Der Klimawandel hat sich in die Landschaft hineingefressen. Bei der
       Wahlkampfrede, die Friedrich Merz noch in Eslohe, einem kleinen Ort im
       Süden des Sauerlands, gehalten hat, hat er das Wort aber nicht einmal in
       den Mund genommen.
       
       Vielleicht ist auch das mit „Mehr Sauerland für Deutschland“ gemeint: Nicht
       wollen, dass sich etwas verändert, auch wenn die Veränderung für alle
       sichtbar längst da ist. Weil man eh keine gute Idee hat, was man dagegen
       tun könnte und die Ideenlosigkeit mit markigen Sprüchen übertünchen möchte.
       Der Sound of Starrköpfigkeit.
       
       23 Feb 2025
       
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